|
![](../../../layout_images/leer.gif) |
Gülcin Wilhelm
Perlen aus dem Verborgenen
Die "Türkische Bibliothek"
Der Schweizer Unionsverlag veröffentlicht in Kooperation
mit der Robert-Bosch-Stiftung drei Bände seiner Reihe
"Türkische Bibliothek". Die 20 Titel umfassende Sammlung
präsentiert Romane, Essays, Gedichte, Autobiographien und
Kurzgeschichten von 1900 bis in die unmittelbare Gegenwart. Bis
jetzt ein zaghaft gebliebenes Unternehmen im deutschsprachigen
Raum, in dem viele "Perlen" der türkischen Literatur dem
hiesigen Publikum im Verborgenen lagen.
Die Reihe macht uns mit der Seele der Menschen eines Landes
bekannt, über dessen kulturelle Nähe oder Ferne sich die
Europäer im Zuge der EU-Kandidatur momentan den Kopf
zerbrechen. Gleich wie der "Schiedsspruch" der Leser am Ende sein
wird, ist es ein Verdienst des Verlags, das Fremde fass- und
fühlbar zu machen. Wie die sensible Auswahl der Werke ist es
ebenfalls gelungen, als unübersetzbar geltende türkische
Redewendungen so ins Deutsche zu übertragen, dass diese einen
zusätzlichen Charme gewinnen, ohne die metaphorische Bedeutung
einzubüßen.
In "Eine seltsame Frau" erzählt Leyla Erbil von der
Bedrängnis einer 19-jährigen Studentin im Istanbul der
späten 50er-, Anfang der 60er-Jahre. Eingekeilt zwischen
traditionellen und religiösen Werten, Realitäten der
Metropole und der aufkeimenden Studentenbewegung strebt sie nach
persönlicher, dichterischer und politischer Emanzipation. Zu
Hause ist sie mit ihrer auf Jungfräulichkeit fixierten Mutter
konfrontiert, in den Cafés mit Pseudoliteraten und in ihrer
politischen Organisation mit der Intelligenzija, die sich
krampfhaft bemüht, zum Volk herabzusteigen.
Das in der Türkei 1971 erschienene Buch ist nicht auf die
Definition "Frauenliteratur" beschränkt. Es bietet vielmehr
einen ausgezeichneten Einblick in die sozialpolitische Entwicklung
des Landes im letzten Jahrhundert, insbesondere in die
Beschaffenheit der politischen Linken, die bis in die 80er-Jahre so
geblieben ist. Das Buch sticht überdies aus den
Neuerscheinungen hervor, die die Frauen aus der Türkei zum
Thema haben. In Erbils Buch ist der Prozess der
Selbstverwirklichung der Romanheldin ungemein komplexer als das
bloße Ablegen des Kopftuches.
Quer durchs Land
"Von Istanbul nach Hakkari - Eine Rundreise in Geschichten"
besteht aus über 30 Erzählungen von namhaften Autoren wie
Yasar Kemal oder Aziz Nesin und weniger bekannten. Beginnend in
Istanbul schwelgt der Leser in Abenteuern einer literarischen
Reise, die in Ostanatolien endet. Die erfrischend realistischen
Kurzgeschichten repräsentieren die Zeit der 40er-Jahre bis in
die Gegenwart. In ihnen kommen Großstädte, Provinzen,
Berge oder Naturkatastrophen vor. Gleichwohl ist der gemeinsame
Nenner der Mensch in seinem unspektakulären Alltag.
Die von Tevfik Turan feinfühlig zusammengestellte
Anthologie trägt darüber hinaus der allmählich
stagnierenden ethnisch-kulturellen Vielfalt im Lande Rechnung. Die
armenischen, griechischen, jüdischen und kurdischen
Protagonisten sind keine Nebenfiguren der Handlungen, sondern
liebevoll dargestellte Hauptakteure. Sie bezeugen die ethnische
Vielfalt des Landes. Bei jeder Kurzgeschichte verspürt man
Lust, vom jeweiligen Autor noch mehr zu lesen. Nicht unbedingt, um
das Land besser kennen zu lernen, sondern weil es großartige
Erzähler sind.
Innere Funktion der Geheimdienste
Der 1996 zuerst in der Türkei erschienene Roman "Nacht und
Nebel" von Ahmet Ümit ist ein Krimi, der von einem
Geheimdienstmitarbeiter handelt. Die Suche nach seiner
verschollenen Freundin führt ihn in die Gassen der
geschichtsträchtigen Bezirke von Istanbul, deren Bewohner
durch den gesellschaftlichen auch einen zwischenmenschlichen Wandel
erleben. Sein Abenteuer stürzt ihn in eine innere Leere. Es
taucht indes die Frage auf, ob zwischen dem Verschwinden der
Geliebten und einem zurückliegenden Vorfall, bei dem er auf
einen fliehenden Terroristen geschossen hat, ein Zusammenhang
besteht.
Der 45-jährige Autor, der in den 90er-Jahren sein Genre
revolutionierte und dessen Romane verfilmt wurden, ist derzeit als
Kulturberater am Goethe-Institut in Istanbul tätig. "Nacht und
Nebel" zeugt von seinem fundierten Wissen um die innere Funktion
der Geheimdienste.
Leyla Erbil
Eine seltsame Frau. Roman.
208 Seiten, 17,90 Euro
Ahmet Ümit
Nacht und Nebel. Roman
368 Seiten, 19,90 Euro
Tevfik Turan (Hrsg.)
Von Istanbul nach Hakkari. Erzählungen.
416 Seiten, 19,90 Euro
Alle im Unionsverlag, Zürich 2005.
Zurück zur
Übersicht
|