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Balduin Winter
Schwarzes Loch in der Zivilgesellschaft
Apartheid in der EU: Aus diskriminierten Roma
lassen sich nicht einfach Normalverbraucher machen
77 Millionen Euro steckte die EU 2004 in die
"Integration der Roma" - für gut gemeinte Projekte, vorwiegend
für Schulbildung und Hygiene. Aber macht sie sich da nicht
etwas vor? Ist das nicht so etwas wie Aussaat auf unbeackertem
Boden? Können die Roma integriert werden? Wollen sie
überhaupt? Sie sind seit vielen Jahrhunderten da, trotz
zahlreicher - auch blutiger - Übergriffe. Und sind immer noch
da mit ihrer Kultur, mit der so viele nicht zurechtkommen.
Wer die Slowakei bereist, lernt ihre
"Schwarzen" schnell kennen. Schon in der westlich anmutenden
Metropole Bratislava sind sie nicht zu übersehen. Im
ehemaligen Bergwerkszentrum Banskà ¦tiavnicà kann
ein neugieriger Fremder in ein ausgelassenes Zigeunerfest auf dem
Hof der Sonderschule hineingezogen werden - nicht schmachtende
Violinen, sondern E-Gitarre, Schlagzeug und Bass geben den Ton an.
Anderntags freilich findet er im tief eingeschnittenen Tal,
abgesetzt vom architektonischen Juwel der Altstadt - Weltkulturerbe
-, abgewrackte Plattenbauten. Weiter östlich häufen sich
die zahlreichen, voll segregierten Apartheid-Dörfer abseits
jeder Asphaltstraße, in die man nur wissentlich gelangt, jene
Orte bei Poprad, Trebi¨ov, Jarovnice, Michalovce,
Ko¨ice.
In seinem Buch "Die Hundeesser von Svinia"
schildert der österreichische Schriftsteller Karl-Markus
Gauß seine Ankunft in der Zigeunersiedlung. Er geht allein
durch den Regen zu Fuß dorthin: "Als ich vielleicht zehn Meter
von der Biegung entfernt war und schon ein wenig in die Siedlung
hineinblicken konnte, stieg mir unvermittelt ein Geruch in die
Nase, so intensiv und ungewohnt, dass sich der Organismus sogleich
wehrte, ihn aufzunehmen, und krampfhaft versuchte, das, was ich von
ihm bereits eingeatmet hatte, wieder auszustoßen. Mit dem
würgenden Geräusch eines unterdrückten Brechanfalls
stolperte ich, den Oberkörper vornüber gebeugt, in die
Siedlung, wo mich Dutzende Erwachsene, Jugendliche und Kinder aus
erstaunten Augen ansahen und über meinen röchelnd
hinuntergeschluckten Ekel in ein gutmütiges Lachen ausbrachen.
Ich war mir sicher, sie wussten genau, dass mir der Gestank ihrer
Siedlung den Atem geraubt hatte, der süße Geruch von
Verwesung, der sich mit dem von Fäkalien, Benzin, vermodertem
Holz, verbranntem Plastik verbunden hatte, diese Schwaden von
Fäulnis, die aus jeder Ecke aufzusteigen schienen und
betäubend durch den Ort zogen."
Sein genauer Blick dokumentiert nicht einfach
ein Dorf von unvorstellbarem Aussehen. Aus der Ankunftsszene, die
nicht bloß von Gestank imprägniert, sondern vor allem von
Menschen geprägt wird, entsteht sehr schnell etwas: Ein
fremder Mensch begegnet fremden Menschen, wahrscheinlich den
fremdesten Europäern - Neugier und Freundlichkeit auf beiden
Seiten, gewissermaßen auf gleicher Augenhöhe.
Es existiert ein Roma-Problem. Die Zigeuner
haben ein Problem mit uns, den "Weißen". Und wir haben die
Zigeuner, wieder einmal, als Problem entdeckt. Eigentlich nichts
Neues. Im Westen, in den alten Mitgliedsländern der EU, lebten
bisher schon, mehr oder weniger schlecht toleriert, 2,5 Millionen
Calé, Manouches, Sinti, Jenische, Lowara und andere. Ein
traditionsreiches Feindschaftsverhältnis, nur wissen wir davon
sehr wenig. Und erst recht erfahren wir nichts über die
"anderen", über das "fahrende Volk" (Schule: Fehlanzeige). Von
ihnen haben wir bestenfalls ein paar romantisierende Klischees im
Kopf, Zigeunerfreiheit, Zigeunerschönheit (ja, Carmen!),
Zigeunermusik; und jede Menge tradierter Vorurteile.
Als Problem entdeckten wir sie wieder durch
die Wende von 1989. Die Mehrzahl der Roma lebt in den ostmittel-
und südosteuropäischen Ländern. Durch die Beitritte
2004 wurden rund 1,5 Millionen Roma EU-Bürger, und weitere 3,5
Millionen warten in Rumänien und Bulgarien. Auch in der
Türkei leben etwa 700.000 von ihnen, schließlich gibt es
noch in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und in Albanien rund 1,3
Millionen Roma.
Als Problem entdeckten wir sie, als einige
Tausend in den Westen aufbrachen, nach Belgien, England, Finnland,
Schweden. Sofort abschieben - war die Reaktion. Bei den
EU-Verhandlungen hakte es bei den Minderheitenrechten. Mit
political correctness schob die EU-Kommission eine zusätzliche
Antidiskriminierungsrichtlinie zum Amsterdamer Vertrag nach, die
Bestandteil des zu erfüllenden "acquis communautaire" wurde.
Ist damit das Problem gelöst?
Mit Schrecken registrierten wir 1999 den
Mauerbau in der Maticnistraße von Ústí nad Labem
(Aussig an der Elbe) in Tschechien, durch den sich "Weiße" vor
einer Roma-Siedlung schützen wollten; der internationale
Protest war stark genug, die Mauer fiel wieder. Spätestens im
März 2004 kamen mit den Hungerplünderungen in der
Ostslowakei die Roma-Slums auf die westlichen Bildschirme. Die
Reduktion staatlicher Sozialleistungen durch die Reformen der
Regierung Dzurinda hatte in dieser Region mit 80 bis100 Prozent
Arbeitslosigkeit bei den Roma-Männern Verzweiflungsaktionen
ausgelöst. Hohes Lob erntete die Slowakei bei der EU für
ihr Investitionen förderndes Reformprogramm. Die Roma aber
stehen in diesem neuen Europa mit dem Rücken zur
Wand.
Auf einem Symposium an der Berliner
Humboldt-Universität im Oktober 2004 erklärte der
Historiker Wolfgang Wippermann, "nach Emnid hassen 68 Prozent der
Deutschen Zigeuner". Bei einer früheren Umfrage stimmten in
Tschechien 66 Prozent der Befragten zu, Roma sollten getrennt von
der weißen Bevölkerung leben, und 52 Prozent wollten
strengere Gesetze für sie. In Bulgarien ist es für 97
Prozent der Befragten unvorstellbar, eine Romni oder einen Rom zu
heiraten; 61 Prozent halten Roma für "faul und
verantwortungslos".
Antiziganismus ist mit hoher
Selbstverständlichkeit eine weit verbreitete Haltung in
europäischen Gesellschaften. Diskriminierende
Äußerungen gehen Politikern leicht über die Lippen,
die eine wenig informierte Öffentlichkeit kritiklos
akzeptiert. Beispielsweise "warnte" im Februar 2004 der slowakische
Wirtschaftsminister Pavol Hrusko die Roma vor gewalttätigen
Reaktionen der Mehrheitsbevölkerung; er hielt ihnen das
Beispiel Tschechiens vor, das nicht der einzige Staat sei, in dem
Extremisten mit Baseballschlägern zur Tat schreiten (Radio
Free Europe, 25. Februar 2004). Verbrechen an Roma werden
schleppend verfolgt oder man versucht gar, sie zu vertuschen, wie
Gauß in seinem Buch aufzeigt.
Die EU, Mutter aller Integration, bemüht
sich auch hier zu beschwichtigen, zu vermitteln: Über mehrere
Programme fließen Jahr für Jahr Millionen Euro in
Infrastruktur-, Schul-, Ausbildungs- und diverse Programme mit dem
Ziel, die Roma in die EU zu "integrieren".
Aber sind angesichts genannter
Unversöhnlichkeiten solche Bemühungen nicht reine
Kosmetik? Die Weltbank hat eben die "Dekade der Roma" ausgerufen.
Die "Frankfurter Allgemeine" hat diese Zielsetzung -
"gesellschaftliche Eingliederung der Roma bis zum Jahre 2015" -
eine nicht zu übertreffende "Blauäugigkeit" genannt (3.
Februar 2005). Ihr Kommentator zieht eine grobe Bilanz bisheriger
Integrationserfahrungen: Durchaus bewundernswerte Künstler und
Wissenschaftler habe diese ethnische Minderheit vorzuweisen; "ein
bedeutender Teil aber blieb bisher stets das, was man eine
Parallelgesellschaft zu nennen pflegt".
Für ihr Misstrauen gegenüber den
"Weißen" haben die europäischen Roma viele Gründe,
insbesondere eine erschütternde vielhundertjährige
Geschichte unerbittlicher Verfolgung. Ihre Sozialstruktur, ihre
ethischen Auffassungen und ihre Kultur waren die Voraussetzungen
für ihr Überleben.
Auf einem Zeitraum zwischen 400 und 1000 nach
Christus lässt sich aufgrund der Sprachentwicklung die
Wanderung der Roma aus Indien, so der Sprachwissenschaftler Dieter
Halwachs von der Universität Graz, datieren. Zwischen dem 11.
und dem 14. Jahrhundert erreichen sie über Anatolien
Griechenland, bringen neue Technologien der Eisenschmiedekunst mit
und berichten vom Grab Gottes. Verschiedene Gruppen durchkreuzen
bald alle Teile Europas. Einer alten Legende ungarischer Roma
zufolge seien sie zum ewigen Wandern verurteilt, weil sie einen
Nagel aus dem Kreuz Christi gestohlen haben.
Geht man vom ersten schriftlichen Zeugnis
aus, den Schriften des Heiligen Georg Antonsik vom Kloster Iviron
auf Athos aus dem Jahr 1068, der die Neuankömmlinge als
"Adsinkani" (nach Rajko Djuric) bezeichnet, so kann man von einer
fast 1000-jährigen europäischen Geschichte der Roma
sprechen. Doch existierte ihrerseits bis vor kurzem keine
aufgeschriebene Geschichte. Zwar verfügen sie über eine
reichhaltige Liedkultur, in der sich so etwas wie ein "kollektives
Gedächtnis" ausdrückt. In den Liedern werden die
Geschichten des Volkes von Generation zu Generation
weitererzählt. Aber das war oft gar nicht möglich. Es gab
einfach nicht "ein Volk", da es sich bei den Roma um eine Vielzahl
von ethnischen Gruppen handelt: Lowara, Kaldara, Calé, Sinti,
Manouche, Ardija, Gurbeta, Gomana, Gopti, Tamara, Mansusa, Lalleri,
Jenische, um einige zu nennen.
Seit dem 15. Jahrhundert unterliegen die Roma
in Europa permanenter Verfolgung und Versklavung. Sie waren bis
hinauf ins 19. Jahrhundert zu brandmarkende Personen, Vogelfreie,
die jedermann jagen und erlegen konnte, die schon mal bei
herrschaftlichen Jagden mit der Beute mitgezählt wurden, denen
per Erlass die Augen ausgestochen, die geteert und gefedert wurden,
die auf königliche Anordnung lebenslänglich auf die
Galeeren verbracht, die in Rumänien bis 1856 in Sklaverei
gehalten wurden, die in die Kolonien verkauft wurden.
Roma waren noch rechtloser als Hexen und
Häretiker zu Zeiten der Inquisition. Sie waren das "Muster"
für die deutsche Polizeireform, an ihnen wurde
Fingerabdruck-kartei und Personenstandsregister ausprobiert.
Deutscher Hass steigerte sich in den Naziterror und schickte eine
halbe Million von ihnen ins Gas. Und laut Rudko Kawczynski,
Vorsitzender des Roma National Congress, gibt es seit 1990 eine
weitere bittere Bilanz von rund 3.000 ermordeten Roma, die
Balkan-Kriege nicht eingeschlossen. Sie sind das schwarze Loch der
europäischen Zivilgesellschaft. Es gibt nahezu keine
wissenschaftlichen Untersuchungen, sie sind fast unerforschte
europäische Ethnien.
Denn bevor "wir" - Westeuropäer, oder
auch osteuropäische Politiker oder wer immer außerhalb
der Roma - uns über Integration oder Assimilation der
Minderheiten äußern, sollten wir uns überhaupt erst
ein einmal ein Bild von den Betroffenen machen, sie um ihre Meinung
fragen, uns Gedanken machen über den Graben zwischen ihnen und
uns.
Peter Huncik, Direktor der auf interethnische
Fragen spezialisierten Marai-Stiftung in Dunajska Stredna, betont,
dass Integration in die Gesellschaft als Ziel zu hoch gesteckt sei:
Wir können nicht einfach wild drauflos globalisieren.
Zuallererst müssen die einfachsten Grundlagen für die
Zusammenarbeit der beiden Seiten geschaffen werden, um das da wie
dort tief sitzende Miss-trauen zu mildern. Es muss überhaupt
erst ein Bewusstsein voneinander geschaffen werden. Dabei wird von
beiden Seiten, nicht nur von den Roma, ein Anpassungsprozess
erwartet werden müssen. Eine Zwangsintegration ist undenkbar,
würde den Grundlagen einer liberalen Gesellschaft diametral
entgegenstehen. Denn das hätte es bereits unter dem
Sozialismus gegeben, der den Roma zwar gewisse soziale Sicherheiten
geboten, zugleich aber auch beinahe die Beseitigung ihrer
Besonderheiten bedeutet hatte. Gerade um die Wahrung ihrer
Besonderheit ist es den friedfertigen Roma aber während ihrer
langen und schwierigen europäischen Geschichte immer
gegangen.
Empfohlene Literatur:
Karl-Markus Gauß
Die Hundeesser von Svinia.
Zsolnay Verlag, Wien 2004; 120 S., 14,90
Euro
Arne B. Mann
Rómsky dejepis.
Kalligram Verlag, Bratislava 2000; 56 S.,
3,- Euro
Iren Stehli
Libuna - A Gypsy's Life in Prague. A 27
years photographic study on the fascinating life of a strong woman.
Texts by Anna Fárová, Milena Hübschmanová,
Martin Heller.
Scalo Verlag, Zürich 2005; 288 S.,
167 Duoton-Abb., 58,- US-Dollar
Jovan Nicolic
Zimmer mit Rad. Gedichte und
Prosa.
Aus dem Serbokroatischen von Bärbel
Schulte.
Romani Bibliothek, Drava Verlag,
Klagenfurt/Celovec 2004; 128 S., 19,50 Euro
Mariella Mehr:
Das Sternbild des Wolfes.
Gedichte.
Romani Bibliothek. Drava Verlag,
Klagenfurt/Celovec 2003; 96 S., 14,- Euro
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