Reinhard Lassek
Die Moral gehört nicht den Kirchen
Alfred Grossers Plädoyer für einen
spirituellen Humanismus
Alfred Grosser ist in mehrfacher Hinsicht ein Grenzgänger
per excellence. Er bezeichnet sich selbst als einen "jüdisch
geborenen, mit dem Christentum geistig verbundenen Atheisten".
Nicht nur, weil er als Publizist, Soziologe und
Politikwissenschaftler seit Jahrzehnten Brücken der
Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland schlägt,
sondern auch, weil er als Mensch beispielhaft vorlebt, dass der
dezidierte Rückgriff auf die Vernunft nicht notwendigerweise
in Gefühllosigkeit abgleiten muss: "Vernunft und Wärme
sind keineswegs unvereinbar" - so denn auch das Credo seines neuen
Buchs, in dem er einen ebenso kritischen wie einfühlsamen
Blick auf die Christen und ihre Kirchen wirft.
Grosser beleuchtet zunächst sein eigenes Verhältnis
und das der Kirchen zum Judentum, bevor er seine atheistische
Position begründet und die Stellung des Christen in der
modernen Welt analysiert. Der "ungläubige Bibelliebhaber" legt
dar, warum ihn seine logische und intellektuelle Kritik am
christlichen Glauben nicht da-ran hindert, dennoch "Rührung"
und sogar "spirituelle Anteilnahme" zu empfinden, wenn er etwa
religiöse Musik als "eine Quelle des inneren Lebens" entdeckt
oder beim Betreten einer romanischen Kirche "spirituelle Dichte"
empfindet.
Als gottloser "Mystiker" ist sich Grosser sicher, dass es keiner
"göttlichen Transzendenz" bedarf, "damit der Mensch, und sei
es nur für einen Augenblick, die Loslösung von der
äußeren Welt erreicht".
Jenen Momenten innerer Einkehr wird die bewuss-te Hinwendung zur
äußeren Welt gegenübergestellt. Für Grosser ist
dabei die Politik die Summe der Ziele und Mittel, die sich eine
Gemeinschaft gibt, um ihre Gegenwart und mehr noch ihre Zukunft zu
meistern. "Im politischen Sinn Bürger sein" bedeutet für
Grosser vor allem, "sich betroffen fühlen von der sozialen
Ungerechtigkeit" und "für andere handeln" zu wollen. Dieses
Verhaltensmuster ist keineswegs angeboren. Es wird allein durch
Bildung und Erziehung erworben - insofern es gelingt, sich nicht
nur der vorhandenen Freiheit bewusst zu werden, sondern zugleich
auch ihre beharrliche Ausweitung zu betreiben.
In dieser Studie nutzt Grosser jedenfalls seine erworbenen
Freiheiten und Kompetenzen, um zu allen nur möglichen
politischen Fragen konkret Stellung zu beziehen. Das Spektrum
reicht dabei vom Irakkrieg bis zu Fragen der Bioethik. Doch dass
der Glaube an Gott notwendig sei, um etwa in der Politik
moralisches Handeln zu begründen, bestreitet Grosser vehement:
"Die Moral gehört nicht den Kirchen."
Grosser hat nicht den Weg des Glaubens, sondern den eines "neuen
Humanismus" gewählt - eines spirituellen Humanismus, der dem
blanken Materialismus unendlich fern steht: Bereits der Austausch
zweier Blicke, sofern dieser denn als Austausch wahrgenommen wird,
ist für Grosser "spirituell". Schließlich ist solch
wechselseitiges Erleben nicht einfach mit der Optik oder der
Mechanik der Netzhaut erklärbar.
Auch wenn Grossers Glaube ausschließlich von dieser Welt
ist, steht ihm das Christentum näher als jede andere Religion;
zumal die Gebete sich heutzutage erfreulicherweise einem leidenden
und nicht mehr einem zürnenden, strafenden oder siegenden Gott
zuwenden. Und sobald es zu verhindern gilt, "die Welt auf das
Ökonomische und Politische zu reduzieren", sind die Christen
und die "Früchte ihres Baumes" sehr willkommen.
Grosser konnte Anfang dieses Jahres seinen 80. Geburtstag
feiern. Er hat mit diesem sehr intensiven Buch offenbar seinen
Frieden mit der Religion gemacht und sich dabei nicht gescheut,
auch den eigenen Tod in die Reflexion mit einzubeziehen. Und so
berührt es den Rezensenten, wenn dieser große politische
Moralist angesichts seiner eigenen Endlichkeit vom Wunsch beseelt
ist, "ansteckend gelebt" zu haben.
Dieses Buch ist jedenfalls ein überzeugendes Plädoyer
für eine gemeinsame Moral - "mit Gott und ohne Gott" - und
wird gewiss viele Leser fesseln. Ein ungemein lesenswertes Buch,
dass leider einige Überlängen und
Formulierungsschwächen aufweist. Ein umsichtigeres Lektorat
hätte hier leicht für Abhilfe sorgen können.
Alfred Grosser
Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf
die Christen.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2005; 280 S.,
24,90 Euro
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