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Michael Meier
Bruchstücke der Wahrheit
Die Krisenherde dieser Welt im Film
Zur Zeit des Krieges in Vietnam dauerte es mindestens einen Tag,
bis wir die Berichte der Korrespondenten in der "Tagesschau" sehen
konnten. Heute sind wir live dabei, wenn - wie im Fall von
Srebrenica - die Bewohner einer ganzen Stadt zu Geiseln genommen
werden. Wenn in Afrika Tausende am Verhungern sind, ist auch der
Mann mit dem Mikrofon in der Nähe. Ein Einheimischer wird
interviewt, er sagt, dass er zuletzt nur noch Dreck gegessen habe,
um wenigstens irgendetwas im Magen zu haben. Ein Bericht von
eineinhalb Minuten Länge, sofort versendet in europäische
Wohnzimmer, wo man vielleicht gerade gemütlich beim Abendessen
sitzt.
Näher rücken uns internationale Krisenherde auch durch
das Kino, das mehr als früher die Not der dort betroffenen
Menschen zur Kenntnis nimmt. In den 50er- (Korea) und 60er-Jahren
(Vietnam) waren Kriegsfilmen das Schicksal der Einheimischen nur
ein paar Randnotizen wert. Die Plots aktuellerer Streifen hingegen
bewegen sich oft weg von martialischen
Harte-Männer-Geschichten und appellieren - zuweilen auch
unangemessen melodramatisch - an das Mitgefühl des
Publikums.
Achtung, Kitschalarm: Stellvertretend seien hier zwei Filme
genannt, die Flüchtlingselend als schaurig-schicke Kulisse
für pathosgetränktes Gefühlskino missbrauchen. Mit
sehenswertem Dekolleté tapert Monica Bellucci als
Dschungelärztin durch Antoine Fuquas Schmonzette "Tränen
der Sonne" ("Tears of the Sun", 2003), in der sie nicht nur die
Evakuierung von Nigerianern aus dem Bürgerkriegsgebiet
durchsetzt, sondern auch für die Wandlung von dem von Bruce
Willis gespielten Kommisskopp in einen fürsorglichen
Menschenfreund verantwortlich ist. Ähnlich verlogen zeigt sich
Martin Campbells - keine Peinlichkeit auslassende - Schnulze
"Jenseits aller Grenzen" ("Beyond Borders", 2003), in der Angelina
Jolies Liebe zu einem Arzt (Clive Owen) der Auslöser ist
für aufopferungsvolle Jahre als UN-Helferin: Immer wieder
reist sie mit Herzschmerz ihrem raubeinigen Samariter hinterher,
von Äthiopien nach Kambodscha und zuletzt nach Tschetschenien,
wo das Schicksal - leider 90 Minuten zu spät - mit harter
Pranke zuschlägt.
Wenden wir uns mit Grausen ab von diesen Geschmacksverirrungen,
die bedauerlicherweise aber von einem weitaus größeren
Publikum wahrgenommen werden als kleine, authentische, sich weitaus
differenzierter mit der Problematik befassende Streifen. Obwohl
2001 in Cannes mit dem Drehbuchpreis und 2002 mit dem "Oscar"
für den besten nichtamerikanischen Film ausgezeichnet, ist bei
uns zum Beispiel "No Man's Land" (2002) des Bosniers Danis Tanovic
über den Status eines Geheimtipps nicht hinausgekommen. Statt
der Multiplex-Tempel spielten ihn meist die Programmkinos vor einem
Publikum, bei dem man Interesse für gesellschaftliche (Fehl-)
Entwicklungen bereits voraussetzen kann.
Während des Krieges in Jugoslawien treffen im Niemandsland
zwischen den feindlichen Linien zwei Soldaten, der eine Bosnier,
der andere Serbe, aufeinander. Obwohl Feinde, hier in der Todeszone
sind sie aufeinander angewiesen. Die diffizile Grundkonstellation
wird noch komplizierter, als ein tot geglaubter Kamerad doch wieder
erwacht - auf einer Mine liegend, die selbst Spezialisten nicht
entschärfen können. Jede Bewegung könnte für
den armen Schlucker den Tod bedeuten, ein Drama, das natürlich
auch Heerscharen von Pressevertretern auf den Plan ruft.
Tanovic, der während des Konflikts auf dem Balkan als
Kameramann für die bosnische Armee tätig war, unterlegt
sein bitterernstes Thema mit rabenschwarzem Humor, überspitzt
mit Skurrilitäten den Horror des Krieges und karikiert
Auswüchse der modernen Mediengesellschaft. Das ist
natürlich legitim, und durch so manche Ironisierung tritt die
makabere Realität umso deutlicher zutage. Allerdings bleiben
dem Publikum so auch die Protagonisten fern, ihr Schicksal
berührt es nicht in dem vermutlich beabsichtigten Rahmen.
Letzteres gilt keinesfalls für zwei im Irak spielende
Filme, die - stilistisch mit recht unterschiedlichen Mitteln - den
Zuschauer regelrecht hineinziehen in ihre dramatischen Geschichten.
Die Handlung der auf der letzten Berlinale vorgestellten
iranisch-irakischen-französischen Koproduktion
"Schildkröten können fliegen" ("Lakposhta ham parvaz
mikonand", 2004) spielt in einem kurdischen Flüchtlingslager,
in dem sich die Kinder mit Minenräumen ihr Taschengeld
verdienen. Nahe der irakisch-türkischen Grenze warten die
Menschen auf die Nachricht, dass die US-Truppen den Irak
angegriffen haben. Angewiesen sind sie dabei auf einen "Satellit"
genannten Jungen, der als eine Art post-apokalyptischer Peter Pan
Fernsehantennen für die Patriarchen installiert.
In ebenso drastischen wie poetischen, in der Erinnerung haften
bleibenden Bildern zeigt Regisseur Bahman Ghobadi, wie in karger
Umgebung gesellschaftliche und familiäre Strukturen atomisiert
werden, die Menschen aber dennoch versuchen, sich in ihrer
Parallel-Welt zu arrangieren und inmitten von Dreck, Minenfeldern
und altem Kriegsgerät zu einer, wie auch immer gearteten,
Normalität zurückzufinden.
Unter die Haut geht auch ein früherer Film des Kurden
Ghobadi, die Tragikomödie "Verloren im Irak" ("Gomgashtei dar
Aragh", 2002). Abermals thematisiert er das Flüchtlingselend
seines Volkes, dieses Mal in Form eines tragikomischen Roadmovies,
dessen Helden (wie im Schildkröten-Film kann Ghobadi sich auf
hinreißende Laiendarsteller verlassen) dem Chaos zunächst
mit Humor begegnen.
Nach Ende des ersten Irak-Krieges gehen die Truppen Husseins
brutal gegen die Kurden im Nordirak vor. Genau dorthin aber will
Mirza mit seinen beiden erwachsenen Söhnen. Vor vielen Jahren
hat ihn seine Frau verlassen, aber da er sie immer noch liebt,
begibt er sich mit einem antiken Motorrad samt Beiwagen auf die
ebenso beschwerliche wie gefahrvolle Suche. Die fast heitere
Stimmung am Anfang ändert sich, je weiter die Odyssee in das
Krisengebiet führt und Mirza und seine Begleiter an Lagern, in
denen verzweifelte Kurden in Massengräbern nach ihren
Angehörigen suchen, vorbeiknattern.
Eine ernüchternde und bewegende Hommage an den "Oskar
Schindler Afrikas" gelang dem nordirischen Regisseur Terry George,
der mit "Hotel Ruanda" ("Hotel Rwanda", 2004) einem echten
Philanthropen ein filmisches Denkmal setzte. Der von Don Cheadle
einfühlsam gespielte Paul Rusesabagina ist Hotelmanager in
Kigali, als der bis heute kaum fassbare Völkermord der Hutus
an der Tutsi-Minderheit beginnt. Rusesabagina ist selbst Hutu, ein
Mann, der sich zu arrangieren versteht. Er, ein vergleichsweise
wohlhabender Angehöriger der Mittelschicht, entspricht so ganz
und gar nicht dem herkömmlichen Heldenbild. Er glaubt erst an
den Genozid, als das Abschlachten schon begonnen hat und die
UN-Blauhelme dem Gemetzel tatenlos zusehen. Von nun an versteckt er
ohne Blick für die Gefahr Tutsis in seinem von Milizen
belagerten Hotel, trickst, besticht, kauft Flüchtlinge frei
und rettet durch seinen couragierten Einsatz mehr als tausend
Leben. Kaum zu glauben: Die Geschichte ist wahr, nichts ist dazu
erfunden.
"Hotel Ruanda" ist in mehrfacher Hinsicht ein beklemmender,
außergewöhnlicher Film. Zum einen verzichtet Terry George
auf die Darstellung von Grausamkeiten; dadurch entgeht er jeder
Versuchung, sich spekulativ am Elend zu delektieren, ein Kniff, der
sein Werk aber höchstens noch intensiver erscheinen
lässt. Auch verschweigt er die Mitschuld der belgischen
Kolonialmacht nicht, die mit ihrer Bevorzugung des
zahlenmäßig kleineren Bevölkerungsteils der Tutsi
der unheilvollen Entwicklung Vorschub leistete. Und er macht das
blamable Verhalten der Schutztruppen der Vereinten Nationen, die
während des Massakers zum großen Teil aus Ruanda
abgezogen wurden, ebenfalls zum Thema. Die Begründung für
den Rückzug liefert ein desillusionierter Blauhelm-Offizier,
als er Hilfesuchenden erklärt: "Ihr seid nicht einmal Nigger,
ihr seid bloß Afrikaner."
Zur Zeit des Völkermords in Ruanda spielt auch Raoul Pecks
"Sometimes in April" (2004), der zeigt, was außerhalb des
Ruanda-Hotels geschah. Im Gegensatz zu George erspart uns Peck
einen genauen Blick auf das grauenhafte Geschehen nicht, etwa wenn
eine Mädchenschule angegriffen wird oder ein kleines Kind
inmitten von Leichenbergen spielt. Es ist interessant, die
Geschichte eines furchtbaren Verbrechens aus völlig
verschiedenen Blickwinkeln zu sehen und im Vergleich Schwächen
und Vorzüge des jeweils anderen festzustellen. Dabei wird
klar, dass man - sowohl hier als auch bei jeder anderen
Dramatisierung historischer Ereignisse - stets nur Ausschnitte, nur
Bruchstücke der Wahrheit gesehen hat. Vielleicht resultiert
aus dieser Erkenntnis auch ein Teil des bitteren Nachgeschmacks,
mit dem man nach dem Sehen solcher Filme das Kino
verlässt.
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