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Martin Gerner
Nach den Wahlen in Afghanistan - ein Endergebnis
ohne Ende
Die zaghaften Demokratieversuche haben noch
keine klaren Verhältnisse geschaffen
Den Wettlauf gegen die Zeit hat Afghanistans Wahlkommission
längst verloren. Fast zwei Monate nach der Parlamentswahl gibt
es immer noch kein amtliches Endergebnis. Einer der führenden
Oppositionspolitiker, Yunus Kanuni, hat angesichts erwiesener
Vorwürfe von Manipulation und Betrug mittlerweile eine
Neuauszählung der Stimmen gefordert. Die wird es freilich
nicht geben. Stattdessen hat die gemischte Wahlkommission aus UN-
und afghanischen Behörden scheibchenweise
Unregelmäßigkeiten in vielen Provinzen einräumen
müssen und mehr als 50 Mitarbeiter entlassen. In einigen
Fällen wurden diese offenbar mit Geld bestochen oder durch
Waffengewalt eingeschüchtert. Und es bleibt ein Widerspruch:
Nach UN-Angaben sind mehrere Hundert Wahlurnen, die angeblich rund
drei Prozent der Stimmen entsprechen sollen, wegen Betrugverdachts
seit geraumer Zeit aus der Zählung herausgenommen. Zugleich
erklärt die Wahlkommission, diese Stimmen würden keinen
entscheidenden Einfluss auf den Wahlausgang haben. In den Augen
vieler unterlegener Kandidaten haben die UN und die Regierung
Karsai deshalb ihre Glaubwürdigkeit weitgehend
eingebüßt. Fast täglich demonstrieren ihre
Anhänger in Kabul und anderen Städten. Der afghanische
Präsident Hamid Karsai hat seine Landsleute dagegen
aufgefordert, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Afghanistan, so
Karsai, habe noch nicht den Verwaltungsapparat, um eine perfekte
Auszählung sicherzustellen.
Glaubt man offiziellen und inofiziellen Angaben von Diplomaten
und Helferorganisationen, dann sind unter den Gewinnern viele
ehemalige Mudschahedin, die zuerst die sowjetischen Invasoren
besiegt und später einen Bürgerkrieg ausgelöst
haben. Mehr als 80 Prozent der Wahlsieger in den Provinzen und rund
60 Prozent in Kabul sollen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen
haben, so die unabhängige afghanische
Menschenrechtsorganisation.
Diese ernüchternden Zahlen hätten sich die
Organisatoren der Wahl sparen können. Seit Juni lag eine
UN-Liste mit den Namen von über 250 Personen vor, die nicht
oder nur ungenügend entwaffnet wurden. Statt sie von der Wahl
auszuschliessen, drückte man - allen voran Karsai und die
US-Berater - im Namen der nationalen Versöhnung das Auge
zu.
Auch vier ehemalige Taliban, darunter Maulawi Mohammadi, sind
unter den Gewählten. Der frühere Gouverneur der
Taliban-Milizen von Bamiyan wird mitverantwortlich gemacht für
die Sprengung der weltberühmten Buddha-Statuen. "Ich hatte
damals keine Macht", rechtfertigt sich der neue Volksvertreter, der
sich mit seiner Wahl wie viele andere strafrechtlich reingewaschen
haben dürfte. In der Provinz Kandahar wurden zwei Brüder
von Präsident Karsai gewählt, einem davon - Wali Karsai -
wird nachgesagt, aus dem Handel mit Drogen sein Geld und Einfluss
zu beziehen.
Es gibt aber auch merklich Positives. Neben den konservativen
Kandidaten hat eine Reihe von Frauen sehr gut abgeschnitten. Das
erscheint paradox, erklärt sich aber durch die vergleichsweise
hohe Wahlbeteiligung von Frauen. So hat in der Provinz Herat Fauzia
Gailani rund 100 Männer hinter sich gelassen. Die gebildete
Frauenrechtlerin, die aus einer aristokratischen Familie stammt,
hat sich erfolgreich für Frauen in neuen Berufen,
Pressefreiheit und gegen Zwangsheirat eingesetzt. Nach wie vor
verbrennen sich in Herat viele Frauen wegen der Zwangsehe.
Insgesamt dürften nur rund 50 Abgeordnete das Attribut
"unabhängig" verdienen. Pessimisten befürchten deshalb,
dass es statt eines Neuanfangs einen Rückfall in alte Zeiten
geben wird, wie schon in den 60er-Jahren, als das Parlament keine
nennenswerte Rolle spielte. "Ehemalige Kriegsherren und Kommandeure
wollen als zivilisiert gelten. Das Parlament bietet ihnen die
Chance eines Neuanfangs. Auch vor ihren Wählern müssen
sie sich rechtfertigen", widerspricht Safia Siddiqi der
pessimistischen These. Die Abgeordnete aus der Opium-Provinz
Nangarhar hat im Wahlkampf zwei Anschläge überlebt, die
ihr gegolten hatten.
Das afghanische Parlament, die Wolesi Jirga ("Haus des Volkes"),
wird sich voraussichtlich im Dezember konstituieren. Erster Akt ist
die Wahl eines Parlamentspräsidenten. Dafür interessieren
sich der ehemalige Präsident und Ex-Führer der
Nordallianz, Burhanuddin Rabani und Yunus Qanuni, Anführer
einer 14-Parteien-Allianz. Beobachter rechnen damit, dass Karsais
Gegner im Parlament versuchen werden, einigen seiner Minister das
Misstrauen auszusprechen. Karsai selbst kann qua Verfassung nicht
vom Parlament abgewählt werden. "Trotzdem bedeutet die Wahl
für ihn ein Imageverlust", sagt Abed Nadjib, ehemaliger
Botschaftsrat Afghanistans in Deutschland. "Viele Menschen sind
unzufrieden mit den Verhältnissen im Land. Sie sehen Karsai
zwar weiter gerne an der Macht, wollen aber, dass er mehr Druck
bekommt und kontrolliert wird."
Ob sich ein konstruktiver Oppositionsblock formiert, ist noch
völlig unklar. Ebenso, wie Karsai die Mehrheit für
Gesetzesvorhaben finden will. Ehemalige Mudschahedin und
Traditionalisten verfügen über rund 100 von 249 Sitzen.
Ebensoviele Abgeorndete sind Paschtunen von derselben Ethnie wie
Karsai. Vieles könnte auf Fall-zu-Fall-Mehrheiten
hinauslaufen. Sollte Karsai ähnlich wie bei der
verfassungsgebenden Loya Jirga undurchsichtige Vereinbarungen mit
alten Kriegsfürsten aushandeln, werden das Parlament und seine
eigene Glaubwürdigkeit leiden. Hier liegt die eigentliche
Wette auf die Zukunft.
Ende Januar 2006 wird es in London die vorerst letzte große
Afghanistan-Konferenz geben. Najib fordert deshalb: "In jedem Fall
müssen Deutschland und die internationale Gemeinschaft das
neue Parlament unterstützten. Es muss gegenseitige
Parlamentarierbesuche geben und Hilfe beim Entstehen einer
professionellen Parlamentsverwaltung."
Unter Zeitdruck steht auch die Renovierung des alten
Parlamentsgebäudes. Der Bau war bis vor kurzem nur Fassade.
Unter den Sowjets stand er leer, im Bürgerkrieg würde er
weitgehend zerschossen und zerbombt. Nur die Außenmauern
standen noch. Anfang des Jahres ging man an die Erneuerung.
Unermüdliche Bauarbeiter, die täglich die Farbe von Staub
annehmen, setzten zurzeit die letzten Steine, damit der Bau auf
fünf Stockwerken wieder begehbar ist. Es wird ein Provisorium
sein. Am Horizont im Westen Kabuls ragt apokalyptisch der alte
Präsidentenpalast Darulaman auf einem Hügel empor. Die
Mauern sind voller Einschusskrater, das Dach ein durch Bomben
zerfetztes Torso, außerdem Minengefahr. Hier soll in vier
Jahren das neue Parlamentsgebäude eines indischen Architekten
entsthehen. Bleibt zu hoffen, dass das Haus der Demokratie nicht
nur äußerlich stabil sein wird.
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