Johanna Metz
"Ich habe diesen Schwachsinn wirklich
geglaubt"
Ein Tag mit dem Aussteiger Matthias
Adrian
Matthias Adrian (29) schmierte schon als
Jugendlicher Hakenkreuze an die Häuserwände seiner
Heimatstadt. Kaum volljährig wird er Mitglied in der
rechtsextremen NPD. Nach drei Jahren steigt er aus - seither
kämpft er als Referent für politische Bildung bei der
Aussteigerinitiative EXIT gegen die alten Kameraden.
Der Morgen ist eisig. Nebel liegt wie Watte
über den Wiesen, Gräser und Fensterscheiben sind mit Tau
bedeckt. Es riecht nach Laub und feuchter Erde, irgendwo hinter dem
Weiß schimmert die Sonne. Es scheint ein schöner Tag zu
werden in Pößneck.
Matthias Adrian ist heute schon früh
aufgestanden. Gegen neun verlässt er das Hotel, ein altes
Herrenhaus umgeben von einem großen Park. Die lederne
Aktentasche fest in der Hand und eingepackt in eine schwarze
50er-Jahre-Freizeitjacke, läuft er den Pfad zum Parkplatz
hinunter. Die schweren Biker-Boots an seinen Füßen
knirschen dabei im Kies. Ungewöhnlich hohe Absätze
für einen Männerschuh.
Adrian hat es eilig: In einer Schule der
14.000-Seelen-Gemeinde bei Jena warten schon hundert Schüler
auf den 29-Jährigen, pubertierende Teenager mit weiten Jeans
und Kapuzenpullis, mit Kaugummis im Mund und Kopfhörern im
Ohr. Ihnen will er seine Geschichte erzählen, die Geschichte
einer behüteten Kindheit in einer katholischen
Großfamilie, in einer Kleinstadt zwischen Darmstadt und Worms,
tief in der hessischen Provinz - aber auch die einer fast
dreijährigen Karriere in der rechtsextremen NPD.
Ein paar Tage zuvor saß Adrian noch in
seinem Berliner Büro und kramte mitten im Gespräch seinen
Personalausweis mit dem alten Passfoto aus der
Schreibtischschublade. Darauf ist er 24 - und ein Neonazi, wie er
im Buche steht: Die Haltung stramm wie die eines Soldaten beim
Morgenappell. Der Blick ohne den Anflug eines Lächelns. Ein
Milchbubi mit Hitlerbärtchen und Seitenscheitel.
Das Foto hat er nicht dabei, als er jetzt
angespannt und ein wenig blass, mit gegelten, streng
zurückgekämmten Haaren und einem Karo-Hemd vor den
Schülern steht, mitten in Thüringen in einer
modernisierten Plattenbau-Aula.
Aber es geht auch ohne Foto: Wie er dachte,
was er tat, damals vor fünf Jahren, als er noch ein
überzeugter Neonazi war - ein richtiger "Fundi", wie er sagt -
das erfahren sie in den folgenden Stunden auch so.
Adrian macht keinen Hehl aus den Verfehlungen
seiner Jugend: Offen spricht er über seine Naivität und
seinen blinden Fanatismus, über seinen Judenhass und die Liebe
zum Nationalsozialismus. "Ich habe die Nazipropaganda eins zu eins
geglaubt", berichtet er den Schülern, und zählt auf, was
ihn als Neonazi beschäftigte: Die Angst vor den Juden, die er
verdächtigte, "billige Arbeitssklaven nach Deutschland zu
schleusen, um die weiße Rasse auszurotten", und die Sehnsucht
nach dem Dritten Reich, von dem schon seine Onkel und
Großväter im hessischen Bürstadt immer so nett
geredet hatten. Die gute, alte Zeit eben, als Kaliningrad noch
Königsberg hieß und zu Preußen gehörte. Adrian
sagt, er habe damals nicht mal genau gewusst, wo Königsberg
lag, es aber trotzdem "ungeheuer vermisst".
Gerade 21 ist der glühende
Nazi-Verehrer, als er beginnt Uniformen zu tragen, die aussehen wie
von der SA. Er macht eine Bäckerlehre, anschließend eine
Ausbildung in der Dreherei seines Vaters, und wird dann, kaum
volljährig, Mitglied der Nationaldemokraten.
In den Aufnahmeantrag der
NPD-Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten (JN),
schreibt er, er wolle sich mit Rassenhygiene und Eugenik
beschäftigen. Wenige Monate später sitzt Adrian im
hessischen Landesvorstand der Partei und organisiert
Demonstrationen und Aufmärsche.
"Ich bin eine Witzfigur gewesen", sagt
Matthias Adrian in die Stille der Plattenbau-Aula hinein. "Ich habe
diesen ganzen Schwachsinn wirklich geglaubt."
Die Schüler blicken ernst. Kein Gefummel
an ihren Handys, kein Getuschel mit dem Nachbarn: Stattdessen
hören sie konzentriert zu und sind offensichtlich tief
beeindruckt. Auch wenn es nicht ganz einfach ist, Adrian zu folgen:
Seit 20 Minuten läuft er nun schon wie unter Starkstrom vor
ihnen auf und ab und redet ununterbrochen, ohne Luft zu holen, laut
und fordernd und mit deutlichem hessischen Dialekt. Seine Worte
unterstreicht er durch kantige Armbewegungen, fast so, als wolle er
mit seinen Handflächen die Luft in Stücke schneiden. Sein
Vortrag ist ein Kraftakt, psychisch wie physisch.
Adrian erinnert ein wenig an einen Animateur,
der seine Reisegruppe bei Laune halten will. Und doch spult er
nicht einfach ein Programm ab. Er will keine Jeep-Safari verkaufen,
sondern den Schülern von etwas erzählen, das ihm wichtig
ist. Es geht ihm weniger um seine eigene Vergangenheit als um die
Zukunft der jungen Leute, die vor ihm sitzen. Der Ex-Nazi macht
sich Sorgen: Er fürchtet, dass "die ganzen Bubis den Nazis in
die Hände fallen" könnten. Dass sie, so gutgläubig
und leicht verführbar wie er es noch vor ein paar Jahren war,
die griffigen Parolen der braunen Kameraden nachplappern und so in
die rechtsextreme Szene hineinrutschen könnten. Eine Szene,
die Adrian heute als "menschenverachtend" bezeichnet.
Der einst so überzeugte
NPD-Funktionär ist deshalb aktiv geworden: Seit seinem
Ausstieg reist er für die Aussteigerinitiative EXIT durch die
halbe Republik und spricht in Schulen und Jugendclubs über
sein Leben. Seine Geschichte hat er eigens in einen Vortrag
gepresst, ein Zwei-Stunden-Referat allerdings, für das er
weder Spickzettel noch Folien braucht. Manchmal hält er es
zwei- oder dreimal am Tag.
Fragt man ihn, was ihn dazu motiviert, muss
er nicht lange nachdenken: "Es ist die Hoffnung, dem einen oder
anderen helfen zu können, andere Standpunkte zu vermitteln.
Das Gefühl, aktiv etwas zu tun, statt zuzusehen, wie sich die
Rechten weiter ausbreiten." Es ist ihm zur Obsession geworden. Das
zu bekämpfen, woran er selbst einmal geglaubt hat.
Ein echter Hardliner will er gewesen sein.
Ein ganz Überzeugter oder "Deutschlands jüngster
Altnazi", wie er heute sagt. Tatsächlich war es ihm ernst mit
dem Nationalsozialismus. Viel ernster als den Kameraden, die
während des Wehrsportlagers in ihren Iglu-Zelten hocken und am
Lagerfeuer saufen "bis zur Weckzeit um halb acht".
Adrian empfindet das als "Verrat an der
Sache" - er schläft standesgemäß im Tarnzelt und
trägt eine Uniform. Als er bei den anderen Jungs ein
Alkoholverbot durchdrücken will, schmeißen sie ihn wegen
"unkameradschaftlichen Verhaltens" aus der Truppe.
Der Neonazi wird dadurch nur noch radikaler.
Er lässt sich ein Hitlerbärtchen wachsen und pflastert
die Wände seiner Wohnung mit Bildern vom "Führer". Es
müssen über 17 gewesen sein, sagt er, "eines hing sogar
auf dem Klo".
Das Benehmen der Kameraden nervt ihn
zunehmend. "Unter aller Sau" sei ihr Sozialverhalten gewesen. Und
die Kader reden den lieben langen Tag viel, verwickeln sich aber
immer wieder in Widersprüche: Mal werden Gelder gesammelt
für die Befreiung eines Kameraden - und wieder versoffen. Ein
anderes Mal vergewaltigt ein Skinhead die Ex-Freundin - und keiner
sagt was, "weil der Typ ja tolle Musik macht und man mit dem gut
einen trinken kann".
Als auf einer Bundesvorstandssitzung in
Frankfurt/Oder der damalige JN-Vorsitzende, Sascha Rossmüller,
"das ganze Zeug, von wegen Familie und Zukunft Deutschlands"
erzählt, beim Frühstück aber damit prahlt, dass er
in Polen im Puff war, will Adrian es erst gar nicht glauben: "Mir
hat es fast die Butter von der Stulle gehauen."
Auf die Dauer sei er nur noch enttäuscht
gewesen von den Kameraden, sagt Adrian. So enttäuscht, dass er
Andreas Schmidt anruft, den Vorsitzenden der Jungen
Nationaldemokraten, und sagt, "Andi, es tut mir leid, aber ich
trete aus der Partei aus, was die NPD macht, hat für mich
weder Hand noch Fuß". Er zieht sich aus der Partei zurück
- nicht weil ihm die Ideologie nicht mehr gefällt, sondern
"wegen der Typen", wie er sagt.
Erst will er eine eigene Bewegung
gründen oder die Republikaner unterwandern, doch dann kommt
ihm die Idee mit den Büchern.
Weil er glaubt, dass die Kameraden vielleicht
nur nicht verstehen, was das Wesentliche am Nationalsozialismus
ist, beginnt er "Mein Kampf" und Alfred Rosenbergs "Der Mythos des
21. Jahrhunderts" zu lesen. Die Bibeln der Rechten.
Er will sie "entstauben", für die
Kameraden übersetzen, verständlicher machen. Damit sie
endlich begreifen, was es heißt, ein Nationalsozialist zu
sein.
Doch kaum hat er angefangen zu lesen,
fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: "Meine ganze
Weltanschauung brach in sich zusammen. Diese ganzen Theorien
über Atlantis als Ursprung der nordischen Rasse, die
Behauptung, die Nachfahren der atlantinischen Hochkultur seien
während der Eiszeit in einem Isolat zwischen Dänemark und
Nordrhein-Westfalen gefangen gewesen und damit vor
Fremdeinflüssen bewahrt worden - einfach alles, woran ich bis
dahingeglaubt hatte, stellte sich als kompletter Schwachsinn
heraus." Noch heute ist er fassungslos, wenn er davon
erzählt.
Adrian spricht immer lauter. Er hat sich in
Rage geredet, hastet durch seine eigene Geschichte, als wenn er sie
eben erst wieder durchlebt. Seine sonst so sanfte, fast zaghafte
Stimme überschlägt sich fast, Unruhe kommt auf. Selbst
die Lehrer blicken jetzt zur Uhr.
Über 90 Minuten hören sie dem
29-Jährigen nun zu, draußen hat sich inzwischen der Nebel
gelichtet, und die Art, wie Adrian redet, strengt an.
Doch er hat noch zu viel zu erzählen, um
an dieser Stelle einfach abzubrechen. Er ist nicht vier Stunden von
Berlin nach Thüringen gefahren, um in einer knappen
Schulstunde die Erfahrungen eines ganzen Jahrzehnts
herunterzubeten. Unbeirrt von den Schildern, die seine Begleiterin
von der Friedrich-Ebert-Stiftung immer wieder hoch hält - das
Wort "Fragen" steht darauf in großen Lettern - redet Adrian
weiter, denn er ist hier endlich an einem ganz wichtigen Punkt
angelangt: seinem Ausstieg.
Nachdem er lange Jahre keine andere Ideologie
als die rechtsextreme duldete, beginnt er an ihr zu zweifeln. Er
stürzt in eine tiefe Depression. Weiß nicht, wie es
weitergehen soll. Nach einem Monate langen inneren Kampf wird ihm
klar: Mit der rechten Szene und ihrer "falschen und
verbrecherischen Ideologie" will er nichts mehr zu tun
haben.
Schuldgefühle und Angstzustände
sind die Folge, er geht kaum noch aus dem Haus. Erst als die
Polizei in seiner Wohnung eine Hausdurchsuchung macht, weil seine
Lebensgefährtin an der Schändung eines jüdischen
Friedhofs beteiligt war, macht er den nächsten Schritt: In
einem Verhör bekennt er sich zu all seinen Taten, nimmt
dafür eine dreijährige Bewährungsstrafe in Kauf. Es
ist wie ein Befreiungsschlag. Er legt seine Vergangenheit ab, indem
er sie offen legt.
Zu offen für den Geschmack der alten
Kameraden. Sie drohen ihm, beschimpfen ihn als "Verräter" und
veröffentlichen Steckbriefe im Internet. Immer wieder kommen
Anrufe. "Die Kugel für meinen Kopf wäre schon gegossen
und lauter solche Sachen haben die gesagt. Aber gekommen ist nie
einer." Der Baseballschläger steht in dieser Zeit immer neben
der Tür. Für alle Fälle.
Als nichts passiert, fasst Adrian neuen Mut.
Er beginnt, auf Veranstaltungen gegen Rechts aufzutreten. Spricht
dort offen über seinen Ausstieg und das Innenleben der rechten
Szene. Dann stößt er auf die Aussteigerinitiative EXIT
und bewirbt sich dort. Mit Erfolg: Im Mai 2001 geht er nach Berlin
und kümmert sich um Leute, die ebenfalls raus wollen aus der
Szene. Zwei Jahre später wird er Referent für politische
Bildung und so etwas wie ein "Berufsaussteiger".
Nicht, weil er Geld damit verdienen will.
Sein Gehalt bei EXIT ist dafür viel zu gering. Er tingelt auch
nicht durch die Talkshows oder schreibt Bücher, wie es andere
Aussteiger tun. Adrian will vielmehr abrechnen mit den einstigen
Kameraden, denen er vorwirft, "den Idealismus junger Leute
ausnutzen und die Menschen vom reflektierten Denken"
abzuhalten.
Außerdem empfindet er Reue. Ein
Gefühl von Schuld. Es gebe schließlich Hetzschriften von
ihm, sagt er, die noch immer im Internet kursieren. Viele Leute
seien überhaupt erst wegen seiner Propaganda in die Szene
gekommen.
"Ich will den gesellschaftlichen Schaden
wiedergutmachen, den ich angerichtet habe", sagt er, und es klingt
ein wenig, als könne er sich selbst nicht
verzeihen.
Es sind diese Gedanken, wegen der Adrian
jetzt an einem Spätsommertag in einer nüchternen
Plattenbau-Aula steht, irgendwo in der thüringischen Provinz,
einen Nelkenstrauß des Rektors in der einen und seine
Ledertasche in der anderen Hand. Er hat länger geredet als
geplant, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Alle sind
zufrieden: Die hemdsärmelige Sozialkundelehrerin, die ihn
eingeladen hat und ihm nun überschwänglich dankt; der
freundliche Rektor, der sich fragt, ob man rechte Symbole in der
Schule verbieten sollte, und auch die Schüler, die nun
sichtlich erschöpft, aber auch nachdenklich hinaus in den
Nachmittag eilen.
Eine Handvoll von ihnen umringt Adrians Pult:
Sorgen würden sie sich machen, sagen sie, weil ein paar
Freunde neuerdings mit Neonazis rumhängen und so viel "rechtes
Zeug" erzählen würden. Wie man sich da verhalten solle,
fragen sie den Aussteiger. Adrian ermuntert die Jugendlichen, den
eigenen Standpunkt deutlich zu machen und als "politisches
Korrektiv" - so nennt er es - zu wirken. Doch aus dem Dilemma, den
eigenen Kumpels Kontra geben zu müssen, noch dazu in einer
Kleinstadt, in der fast jeder jeden kennt, kann auch er ihnen nicht
heraushelfen.
Und doch ist er froh: "Wenn ich nur ein paar
Menschen zum Nachdenken anregen kann, ist schon viel gewonnen",
sagt er. Denn es verhindere, dass die Rechtsextremen immer mehr
Jugendliche mit ihrem Fanatismus füttern - so wie das in
Sachsen und Mecklenburg längst Realität ist: "Dort ist
fast alles verloren. Da haben die Nazis ihre Strukturen aufgebaut
und sind entsprechend stark. In Thüringen ist das nicht so.
Hier könnte man sie vielleicht noch aufhalten." Er sagt das,
als gelte es eine Lawine zu stoppen, die in diesem Augenblick die
Talsohle erreicht.
In Pößneck allerdings kann von
einer Talsohle schon nicht mehr die Rede sein: Die Lawine ist
längst ins Zentrum vorgedrungen.
Der Rechtsextremist und Nazi-Anwalt
Jürgen Rieger hat hier im Dezember 2003 für 360.000 Euro
das ehemalige Kulturhaus des Ortes gekauft - einen stattlichen Bau
mit Restaurant, Disko, Biergarten und einem Festsaal für 500
Leute. Seither mausert sich das "Schützenhaus" zu einem
beliebten Treffpunkt für Neonazis aus der ganzen Republik:
Skinhead-Konzerte und Kameradschaftsabende werden abgehalten, erst
im April feierte Michael Regener, Sänger der verbotenen
Nazi-Band "Landser", in den Räumen vor 1.000 Neonazis sein
Abschiedskonzert - bevor er seine Haftstrafe wegen Volksverhetzung
und Bildung einer kriminellen Vereinigung antrat.
Neuerdings besitzt das Haus in der
Straße des Friedens Nummer 18 sogar einen eigenen "CD- und
Drucksachenvertrieb".
Das Klima im Ort hat sich seitdem grundlegend
verändert: Immer öfter gibt es Prügeleien und
Zusammenstöße zwischen Rechtsextremen und linken
Gegendemonstranten, Neonazi-Aufmärsche müssen von der
Polizei aufgelöst werden. Wer genau hinsieht, entdeckt
überall, auf Wahlplakaten, an Schaufenstern, Briefkästen,
Mülleimern und Straßenlampen schwarz-weiß-rote
Aufkleber: "Friedensflieger Hess" steht auf einigen, auf anderen
sind es schlicht drei Buchstaben: N P D.
Auch CDs und Flugblätter der Braunen
kursieren in der Stadt. Und nicht nur dort: Auch in Saalfeld,
Neustadt und Gera, im gesamten Umland macht sich die rechte
Propaganda breit. Langsam dringt die Erkenntnis durch: Wer die
Rechtsextremen hier noch aufhalten will, muss sich
beeilen.
Matthias Adrian weiß das wohl, aber
einschüchtern lässt er sich davon nicht. Unbeirrt setzt
er seine Reisen durch die Republik fort, gleich morgen früh
macht er sich weiter auf den Weg nach Weimar: Er wird dort in einer
Jugendarrestanstalt sprechen.
Vorher aber will er in Pößneck noch
mit ein paar Jungsozialisten vom Landesverband Thüringen zu
Abend essen. Ein Termin wie viele: Vier Stunden lang wird er mit
ihnen im Hotelrestaurant zusammensitzen und erneut erzählen,
wie er zum Neonazi wurde und warum er das heute nicht mehr ist. Die
Jusos werden ihm Fragen stellen - viele Fragen -, und er wird sie
beantworten, als höre er sie zum ersten Mal.
Matthias Adrian ist jetzt 14 Stunden auf den
Beinen. Nachdem die Jusos gegangen sind, hat er es sich auf einem
Sofa bequem gemacht. Es ist fast Mitternacht, in dem alten
Herrenhaus ist es still geworden. Schwaches Licht taucht den
winzigen Salon, in dem Adrian sitzt, in einem trüben
Dämmer.
Er spricht jetzt ruhiger, weniger hastig,
aber der Gesprächsstoff geht ihm nicht aus. Gelassener sei er
geworden nach seinem Ausstieg, sagt er - auch wenn er sich heute
"über jedes Thema mindestens 120 verschiedene Gedanken" mache:
"Früher hat man gewusst, der Hitler hat das und das gesagt,
und dann war es halt so. Man denkt eigentlich gar nicht mehr, man
wendet nur an." Das sei irgendwie einfacher gewesen.
Etwas später erzählt er von seinem
Traum, eine eigene Aussteigerinitiative zu gründen, ehemalige
Neonazis zusammenzubringen, um sich dann "gemeinsam gegen Rechts zu
engagieren". Wenn es um sein Thema geht, wird Adrian einfach nicht
müde.
Will er nicht mal was ganz anderes machen?
Aussteigen aus der Endlosschleife seiner Aussteigerexistenz,
aufhören, der ewige Ex-Nazi zu sein?
Er überlegt. Reibt sich die Augen.
Rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her.
Dann lässt er die Vergangenheit für
einen Augenblick ruhen und beginnt leise von ganz anderen Dingen zu
erzählen: Seiner neuen Leidenschaft, dem Rock n' Roll, zum
Beispiel, der Country-Musik und den Rockabilly-Schuppen, in denen
es keinen Gruppendruck gebe, keine zwanghaften Gespräche
über Politik. Wo er angenommen werde, wie er ist und jeder
sein Ding machen könne. Seinem Traum von einer
Blue-Grass-Combo, einer richtigen Band mit Banjo, Mandoline und
Kontrabass, mit der er dann durch die Clubs tingeln
würde.
Die Gedanken gehen mit Adrian durch:
"Vielleicht wache ich auch morgen auf, und entscheide, ich geh erst
mal fünf Jahre zur See."
In diesem Moment scheint für ihn alles
möglich.
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