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Jeannette Goddar
Aus der Mitte der Gesellschaft - und nicht vom
Rand
Antisemitische und fremdenfeindliche
Einstellungen sind weit verbreitet
Eine Wahl ist immer auch eine Gelegenheit zur
Verortung der Demokratie: Wer geht wählen, wer nicht? Und vor
allem: Wie viele Wähler in welchem Bundesland und welchen
Alters geben ihre Stimme einer rechtsextremen Partei? Ein Jahr nach
dem Eklat von Sachsen, wo die NPD mit 9,2 Prozent der Stimmen in
den Landtag einzog, ging am Abend des 18. September ein
erleichtertes Raunen durch die Republik: Die NPD kam bundesweit auf
gerade einmal 1,6 Prozent, die Republikaner nur auf 0,6 Prozent der
Stimmen.
Ein Grund zur Beruhigung ist das aber
bestenfalls kurzfristig. Wahlforscher warnen seit Jahren davor,
dass der organisierte Rechtsextremismus in Deutschland immer wieder
weit unter seinen Möglichkeiten bleibt. Als Wahlverhinderer
betätigen sich dabei vor allem die rechtsextremen Parteien
selbst: mit ihrer Aufsplitterung in verschiedene Gruppen und
Grüppchen, vor allem aber wegen der desaströsen
Eindrücke, die sie in den Landesparlamenten, in die sie
einzogen - zuletzt vor allem in Bremen und Sachsen-Anhalt -
hinterlassen haben.
Das rechtsextreme Potenzial liegt deutlich
höher als die Wahlergebnisse vermuten lassen. "Rechtsextreme
und Wähler rechter Parteien - das sind zwei verschiedene
Sachen", konstatiert der Berliner Parteienforscher Oskar
Niedermayer, "rechtsextreme Einstellungen sind weit und quer durch
die Parteienlandschaft verbreitet". Über die Wahl einer
rechtsextremen Partei entscheiden nämlich außer der
persönlichen Einstellung eine Reihe anderer Faktoren: Ein
"attraktives Angebot" rechter Parteien, das Maß der sozialen
Unzufriedenheit, der Verdruss über die etablierten Parteien
und welche Wahlthemen für den Einzelnen im Vordergrund stehen:
Wer soziale Sicherheit wählt, wählt weniger schnell die
NPD als jemand, der das Thema "Überfremdung" auf seiner
persönlichen Prioritätenliste ganz oben führt.
Regelmäßig sorgt auch der hohe Grad der Polarisierung
zwischen zwei Parteien - wie vor Bundestagswahlen zwischen den
beiden großen Volksparteien CDU und SPD - dafür, dass
viele ihre Stimme den Etablierten geben.
Darüber, wie groß das Potenzial
rechtsextremer Einstellungen in der Bevölkerung ist, gab 1979
als erste die so genannte "SINUS"-Studie deutliche Hinweise: Von
7.000 befragten Wahlberechtigten attestierten die Forscher im
Auftrag des Bundeskanzleramts 13 Prozent, also fast jedem achten,
ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild". Etwa jeder zweite in
dieser Gruppe befand auch noch Gewalt als ein probates Mittel, um
dieses durchzusetzen. Aber was ist ein "geschlossenes
rechtsextremes Weltbild"? Die Sinus-Studie hat sechs Komponenten
identifiziert, die zusammengenommen ein rechtsextremes
Einstellungsmuster ergeben: Autoritarismus, also die Bereitschaft,
sich freiwillig einem Stärkeren zu unterwerfen und
Schwächere dominieren zu lassen. Nationalismus, also die
Überbetonung der eigenen Nation und die Abwertung anderer;
Fremdenfeindlichkeit, also die Abwertung, Benachteiligung,
Ausgrenzung anderer Ethnien; Wohlstandschauvinismus - das ist die
Diskriminierung von Menschen anderer Herkunft weniger aus
ethnischen als aus sozioökonomischen Motiven; Antisemitismus,
also Feindseligkeit gegenüber Juden, und Pronazismus, also die
Verharmlosung oder Rechtfertigung des
Nationalsozialismus.
Im Prinzip arbeiten die meisten heutigen
Studien mit ähnlichen Definitionen - und kommen für das
wiedervereinigte Deutschland zu ganz ähnlichen Resultaten.
Niedermayer und sein Kollege Richard Stöss maßen vor
einigen Jahren ebenfalls bei 13 Prozent der Bevölkerung ein
rechtsextremes Einstellungspotenzial, und zwar im Osten (17
Prozent) stärker als im Westen (12 Prozent). Als besonders
ausgeprägt erwies sich die Komponente
"Wohlstandschauvinismus", - also das in der Bevölkerung auch
bei nicht repräsentativer persönlicher Beobachtung weit
verbreitete Motto: "Gegen dich habe ich nichts, aber du liegst uns
auf der Tasche." Auf den Plätzen zwei und drei verorteten
Niedermayer und Stöss Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus -
wobei vor allem die Fremdenfeindlichkeit sich in den neuen
Ländern stärker zeigte. Als antisemitisch zeigten sich
sechs Prozent. Ein weiteres Resultat: Der Rechtsextremismus kommt
in allen Schichten und überall vor. Arbeiter und Arbeitslose
sind zwar anfälliger, aber auch Selbstständige und
Akademiker nicht immun. Frauen wählen zwar seltener rechts,
denken aber genauso wie Männer. Und jüngere Männer,
die zu den klassischen Wählern rechtsextremer Parteien
zählen, denken im Schnitt liberaler als über
55-Jährige. Wenig klare Linien also und immer wieder die
gleiche Erkenntnis: Der Rechtsextremismus kommt aus der Mitte der
Gesellschaft.
Allerdings gilt auch: Obwohl seit Jahrzehnten
eine immer gleich große Gruppe rechts außen denkt, gibt
es Anhaltspunkte dafür, dass schwierige Lebensumstände
und Verdrossenheit das Potenzial erhöhen. Wer arbeitslos,
sozial schlecht gestellt oder von sozialem Abstieg bedroht ist,
äußert sich eher rechts als Menschen in sicheren
Verhältnissen. Und auch der Anteil derer, die mit dem
demokratischen System nicht viel anfangen können, ist
groß: Wer rechts denkt, ist überdurchschnittlich
häufig frustriert von der Demokratie und dem politischen
System der Bundesrepublik. Viele sind das, was Sozialforscher
"systemverdrossen" nennen.
Nun werden die Enttäuschten,
Frustrierten, Resignierten immer mehr und die ersten Forscher sehen
Anzeichen dafür, dass sich das auf ihre Einstellungsmuster
durchschlägt. Der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm
Heitmeyer, einer der führenden Rechtsextremismus-Experten der
Republik, beobachtet in seiner Langzeitstudie "Deutsche
Zustände" ein stetes Ansteigen "menschenfeindlicher"
Einstellungen. Im vergangenen Winter warnte Heitmeyer bei der
jährlichen Veröffentlichung seiner Umfrageergebnisse vor
einer "dramatischen" Tendenz. 60 Prozent der Befragten hatten ihm
da die Antwort gegeben, es seien zu viele Ausländer im Land -
nur zwei Jahre zuvor waren es noch fünf Prozent weniger
gewesen. 36 Prozent - und nicht mehr 28 - wollten Ausländer
nach Hause schick-en, wenn die Arbeit knapp wird. In der gleichen
Zeit hatte sich die Erwartung, die eigene wirtschaftliche Situation
werde sich verschlechtern, auf über 40 Prozent der
Bevölkerung ausgedehnt; zwei Jahre vorher glaubte das "nur"
jeder Vierte. Sorgen bereitete Heitmeyer vor allem die zunehmende
Ablehnung der in Deutschland lebenden Muslime: Fast 58 Prozent
konnten oder wollten sich nicht vorstellen, in einem Viertel mit
vielen Muslimen zu leben. Heitmeyer misst nicht in erster Linie
rechtsextreme Einstellungen, sondern etwas, was er "gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit" nennt. Die sieht er nun vor allem als Folge
sozialer Desintegrationsprozesse ständig steigen - mit
potenziell dramatischen Auswirkungen für jene, die angefeindet
werden. Es drohe "die Gefahr, dass sich die Ungleichwertigkeit von
Gruppen und auch von einzelnen Menschen, die ihnen angehören,
verschärft", beobachtet Oskar Heitmeyer. Und, was die Menschen
am unteren Ende der Gleichwertigkeitsskala angeht: "Die Sicherheit
ihrer physischen und psychischen Integrität ist
gefährdet, die ihnen ein Leben in Anerkennung und
möglichst frei von Angst ermöglicht."
Parteipolitisch betrachtet schlägt sich
all das erstaunlich wenig nieder: Wenn jeder Dritte für die
Schaffung von Arbeitsplätzen Zuwanderer abschieben will, ist
das eine Forderung, die sich so nur bei der NPD findet. Wen aber
wählen die Menschen dann, die so denken? Laut einer
Forsa-Studie von 1998 wählt jeder dritte rechtsextrem
Eingestellte SPD, etwa jeder vierte CDU. Vier Prozent wollten
damals den Grünen, je zwei der FDP oder der PDS ihre Stimme
geben.
Der Hang zur Sozialdemokratie ist dabei ein
Novum: Noch in den 80er-Jahren bündelte die Union einen
großen Teil des rechten Potenzials. Stöss führt das
vor allem darauf zurück, dass rechtes Gedankengut heute mehr
Arbeiter und Unterschichtler anzieht als früher - und die
wählen nun mal eher SPD. Dass rechte und linke politische
Denkmuster häufig nah beieinander liegen, legt auch eine
Untersuchung über Rechtsextremismus in den Gewerkschaften
nahe. "Rechtsextreme Einstellungen sind unter
Gewerkschaftsmitgliedern genauso weit verbreitet wie unter
Nicht-Mitgliedern", hat Stöss in einer Studie, für die er
vor zwei Jahren 4.000 Gewerkschafter befragte, diagnostiziert.
Unter Mittelschichts-Mitgliedern ist ihr Anteil sogar höher
als bei Mittelschichtlern ohne Mitgliedsausweis. Insgesamt denkt,
so ein Ergebnis der Studie, jeder fünfte der rund sieben
Millionen Gewerkschafter rechts.
Darüber, wann genau eine rechte
Einstellung zu einer rechten Wahlentscheidung wird und wann nicht,
rätseln die Sozialforscher immer wieder. Fest steht, dass es
rechten Parteien häufig gelingt, vor allem Erst- und
Nichtwähler für sich zu gewinnen. Dabei gelten
Erstwähler eigentlich als anfällig für neue und
vermeintlich attraktive Alternativen. Aber schon bei den ehemaligen
Nichtwählern wird es schwierig: Sind das alles
"Denkzettel"-Wähler, die den etablierten Parteien eins
auswischen wollen? Oder meinen sie tatsächlich, endlich eine
politische Heimat gefunden zu haben? Richard Stöss warnt
davor, es bei dem Glauben an den rechten "Protestwähler" zu
belassen: Die allermeisten Rechtswähler seien auch rechts
eingestellt. Stöss weist deshalb darauf hin: "Protest und
Überzeugung schließen sich nicht aus."
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