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Karl-Otto Sattler
Im Rausch der Zerstörung
Teufelskreis von sozialer Deklassierung und
staatlicher Repression
Tausende von Autos werden abgefackelt, Busdepots
gehen in Flammen auf, Schulen und Kindergärten lodern, gegen
Polizeistationen und Arbeitsämter fliegen Molotowcocktails,
Geschäfte und ganze Unternehmen brennen ab: Europa verfolgt
vor dem Fernseher fassungslos den militanten Aufstand in
Frankreichs Vorstädten, den Banlieues.
Momentaufnahmen aus einer außerirdisch
anmutenden Welt flimmern über die Bildschirme: Pompiers zielen
mit Schläuchen in den nächtlichen Feuerschein,
martialisch auftretende Gendarmen verschießen
Tränengasgranaten, Autobesitzer und Ladeninhaber stehen
verzweifelt vor ihrem vernichteten Eigentum, steinewerfende
Jugendliche huschen gespenstisch durch die Dunkelheit. Ein
Flächenbrand. Herrscht Bürgerkrieg zwischen Lyon und
Paris?
Nun, nach gut zwei Wochen der Exzesse
scheinen die Unruhen allmählich abzuflauen. Doch es ist keine
Befriedung, die einkehrt, es breitet sich eine erzwungene Stille
aus: Nur mit Hilfe des aus der Zeit des Algerienkriegs (!) der
50er-Jahre stammenden Notstandsrechts mit Ausgangssperren und
rechtsstaatlich eigentlich unzulässigen Sonderbefugnissen der
Polizei vermögen Präsident Jacques Chirac, Premier
Dominique de Villepin und Hardliner-Innenminister Nicolas Sarkozy
einigermaßen "Ruhe" und "Ordnung" herzustellen. Gelöst
sind die Probleme der Cités, der deklassierten
Sozialbau-Ghettos am Rand der Großstädte, damit freilich
nicht.
Eine aufgeheizte Atmosphäre,
Schockstarre, Hysterie, politisches Kalkül: Diese brisante
Melange des Augenblicks lässt einen nüchternen Blick auf
die Ursachen der Explosion nur schwerlich zu. Kommentatoren in
Medien und Politiker sprechen bereits aufgeregt von der "Intifada",
vom "Kampf der Kulturen", von "Bagdad" im Herzen Europas - wovon
wahrlich keine Rede sein kann, auch wenn einzelne Ghettojugendliche
im situativen ekstatischen Größenwahn vor TV-Kameras
solches triumphierend zum Besten geben. Ausgerufen werden das
Scheitern und die Ummöglichkeit der Integration von
Ausländern, um die es sich in diesem Fall indes gar nicht
handelt. Plötzlich sollen die republikanische Idee und das
Konzept der französischen Staatsbürgerschaft vor dem Aus
stehen, die nicht auf Abstammung, sondern auf dem Geburtsort und
der Anerkennung der Werte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
fußen. Sarkozy, als Null-Toleranz-Repressionspolitiker ganz
nah am Stammtisch und in Umfragen vorn, sieht einfach Kriminelle
und Gangster am Werk, die er mit dem Kärcher aus der Welt
schaffen will.
Die Straßenschlachten und Flammenorgien
dieser Tage konfrontieren das Land endgültig mit einem seit
Jahrzehnten verdrängten und im Laufe der Zeit immer schlimmer
gewordenen Grundübel, das Soziologen als "schlechtes Gewissen"
Frankreichs bezeichnen, nämlich der sozialen Deklassierung und
Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen und deren Verbannung in
abgeschottete Siedlungen. Solche fast exterritorialen Zonen, solche
Ghettos sind in der Bundesrepublik bislang noch unbekannt, so
genannte "soziale Brennpunkte" in Hamburg, Frankfurt oder Berlin
sind damit in keiner Weise zu vergleichen. Die Arbeitslosen,
Erwachsene und in besonderem Maße junge Leute, tragen
arabische und afrikanische Namen, haben aber französische
Pässe. Gleichwohl werden sie weithin als Ausländer, als
Fremde, als Andere wahrgenommen und abqualifiziert, republikanische
Ideale hin oder her - und im Gegenzug grenzen sie sich zusehends
von den "Franzosen" ab. Auch wenn in den Cités inzwischen sehr
viele Moslems leben: Gerade bei Heranwachsenden spielt das
religiöse Element nur eine untergeordnete Rolle, bisher
jedenfalls.
Ob Clichy-sous-Bois bei Paris, ob Neuhof in
Straßburg, ob Les Coteaux im südelsässischen
Mülhausen: Überall in Frankreich zogen die Städte in
den 60er- und 70er-Jahren Sozialquartiere mit uniformen
Hochhäusern hoch. Dort wurden vorwiegend Zuwanderer aus dem
Maghreb und aus Schwarzafrika untergebracht, wobei deren starker
Zustrom auch eine Folge der kolonialen Vergangenheit Frankreichs
ist. Diese Immigranten waren in den einstigen Boomphasen in
Autofabriken und Stahlwerken durchaus willkommen. Jene Generation
hatte in der Regel Jobs, gering bezahlte Jobs, aber man war nicht
erwerbslos. Im Zuge der dauerhaften Wirtschaftskrise mit ihrem
fortschreitenden Abbau von Arbeitsplätzen hat sich das
dramatisch geändert. Die Kinder in der zweiten und dritten
Generation, die jetzt die Benzinflaschen basteln, haben auf dem
Arbeitsmarkt kaum Chancen: In den Banlieues liegt die
Jugenderwerbslosigkeit bei bis zu 40 oder gar 50
Prozent.
Wer in den "heißen Vierteln" zwischen
heruntergekommenen Wohnkomplexen mit Gittern vor Türen und
Fenstern, verkokelten Mülleimern und zugenagelten
Geschäften (sofern es überhaupt welche gibt) sein Dasein
fristen muss, ist stigmatisiert. Oft vermasselt allein die Adresse
bei der Jobsuche alles - auch im Falle einer qualifizierten
Schulausbildung. "Wer es von hier aus und mit einem arabischen
Aussehen weit bringt, der muss schon brillant sein", sagt Lai-b
Arezki, Sozialarbeiter in Les Coteaux bei Mülhausen. Wenn
20-Jährige trotz guter Zeugnisse keine Arbeit kriegen,
vermögen auch 14-Jährige den Sinn von Unterricht nicht
unbedingt einzusehen: In den Cités ist die Schulabbrecherquote
enorm hoch. Da wird es attraktiver, mit Kleinkriminalität wie
Drogenhandel oder geklauten Mofas und gestohlenen Handys
Geschäfte zu machen.
In diesem sich seit Anfang der 90er-Jahre
verschärfenden Klima hat sich eine Subkultur mit Cliquen und
Jugendbanden entwickelt. Diese abgeschottete Welt, in der "les
kaids" als "kleine Führer" das Sagen haben und zu Vorbildern
für Jüngere werden, hat sich zusehends
verselbstständigt und ist zu einem eigenständigen Milieu
mutiert. Es handelt sich, insofern sind fixe Vergleiche mit den
Barrikadenkämpfen von 1968 aus der Luft gegriffen, nicht um
politisch zielgerichtete Aufstände: Jedes Jahr werden in
Frankreichs Banlieues Tausende von Autos in einem Akt von
implodierender Selbstaggression angezündet - die
Heranwachsenden vernichten die Fahrzeuge ihrer armen Mitbürger
und mit Schulen, Nachbarschaftstreffs oder Sozialstationen die
Lebensgrundlagen der Quartiere.
Von einer Art zerstörerischer
Gefängnisrevolte zu sprechen, mutet gar nicht so abwegig an.
Die Cités sind nicht nur sozial ausgegrenzt, sie werden auch
von der Staatsmacht repressiv in Schach gehalten. Für diese
Politik steht Sarkozy mit seiner Null-Toleranz-Strategie - die im
Übrigen über all die Jahre augenscheinlich keinen Erfolg
gezeitigt hat. Der Innenminis-ter hat nicht erst mit seinen
wohlbedachten Äußerungen vom "Gesindel" und "Lumpenpack"
Öl ins Feuer gegossen. Es ist die Atmosphäre des
Kollektivverdachts im Alltag, die den Staat in den Augen der
Jugendlichen zum Feind macht. Überwachungskameras allerorten
nehmen nicht nur Missetäter, sondern ausnahmslos jedermann ins
Visier. Auch ohne konkreten Verdacht auf eine Straftat werden
Heranwachsende häufig von der Polizei kontrolliert, gefilzt,
stundenlang auf Kommissariaten festgehalten, in Dateien registriert
- es reicht, jung zu sein, eine schwarze Hautfarbe zu haben oder
arabisch auszusehen und in einem "quartier sensible" zu wohnen.
Auslöser des landesweiten Flächenbrands war der Tod
zweier junger Leute in einer Transformatorenanlage, die vor einer
Polizeikontrolle geflüchtet waren.
Langfristig auflösen oder zumindest
entschärfen lässt sich der Teufelskreis aus sozialer
Deklassierung, Rückzug in Parallelwelten, militantem Aufruhr
und staatlicher Repression nur durch die Schaffung von Jobs auch
für die Menschen in den Cités. Immer mal wieder wurden
Gelder in die Banlieues gepumpt, für
Fassadenverschönerungen, für Schulen, für
Sozialarbeiter, für Sport, für Jugendzentren, für
Bibliotheken. Jetzt will Paris wieder in Sozialprogramme
investieren. Ohne Integration auch der Underdogs in die Arbeitswelt
aber muss das alles Stückwerk bleiben. Wobei in Frankreich und
andernorts gern die Frage umschifft wird, ob es bei Millionen von
Erwerbslosen noch eine weitere Zuwanderung in den Arbeitsmarkt in
größerem Stil aus Nicht-EU-Ländern geben
kann.
Vielfach haben Wissenschaftler die sozialen
Zusammenhänge analysiert, nur geschehen ist kaum etwas. Mitte
der 90er-Jahre hatte Jacques Chirac weitsichtig gewarnt, dass es in
den vernachlässigten Vorstädten eines Tages zur Rebellion
kommen werde. Nun ist die Revolte da, und sie ist zwei Jahre vor
den Präsidentschaftswahlen zum Spielball der Innenpolitik
geworden. So wie es aussieht, kann Sarkozy im noch unerklärten
Machtkampf mit Premier de Villepin um Chiracs Nachfolge mit seiner
Politik der Härte fürs ers-te punkten. Gesindel,
Lumpenpack, Hochdruckreiniger: Bei der Mehrheit der Franzosen
treffen solche Parolen auf Zustimmung. Notstandsrecht, an die 3.000
Verhaftungen, drakonische Urteile durch (rechtsstaatlich
fragwürdige) "Schnellgerichte": Sarkozy dürfte die Lage
fürs erste beruhigen können. Aber solange es im Kessel
brodelt, nutzt es auf Dauer nichts, den Deckel draufzuhalten:
Irgendwann droht die nächste Explosion.
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