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Barbara von der Lühe
Nicht mehr isoliert von der Welt
Chinesische Gegenwartskunst als Indiz der
Moderne
Mit chinesischer Kunst werden meist
traditionelle Rollbilder, Porzellan und antike Skulpturen oder die
offizielle Kunst des sozialistischen Realismus assoziiert. Dass
aber seit der Öffnung des Landes, seit etwa 1979,
außerdem eine vielfältige und experimentierfreudige
Kunstszene entstanden ist, wird hierzulande trotz der Beteiligung
chinesischer Avantgarde-Künstler an internationalen Biennalen,
Ausstellungen und Kunstmessen noch kaum wahrgenommen.
Mit der Aufsehen erregenden Schau
zeitgenössischer Kunst aus China mit dem Titel "Mahjong", die
unlängst in Bern gezeigt wurde, wird sich dies ändern:
Die Originalität und Qualität der Gemälde,
Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien, Videoarbeiten und
Installationen sind überzeugend. Die Exponate stammen aus dem
Besitz von Uli Sigg, dem früheren Schweizer Botschafter in
China, der bereits in den 90er-Jahren Gegenwartskunst kaufte, als
es in China noch keinen etablierten Kunstmarkt gab - seine
repräsentative Sammlung umfasst heute über 1.200 Werke
von 180 Künstlern.
Der hervorragend gestaltete und mit über
380 prächtigen Abbildungen ausgestattete Katalog zur
Ausstellung ist in mehrfacher Hinsicht ein Standardwerk zur
chinesischen zeitgenössischen und Avantgarde-Kunst:
Ausführlich werden Werk und Biographien von mehr als 80
Künstlern dokumentiert. Der Sammler selbst und bedeutende
Kunsthistoriker, Künstler und Kuratoren wie Ai Weiwei, Hou
Hanru, Li Xianting und Bernhard Fibicher geben mit ihren Texten
einen umfassenden Überblick zur Entwicklung und
gegenwärtigen Situation der chinesischen Gegenwartskunst und
ihrer Rezeption im Westen.
Besonders hervorzuheben ist die detaillierte
Chronologie der unabhängigen Kunstszene von 1979 bis 2005 mit
Daten, Teilnehmern, Veranstaltern und Kurzbeschreibungen der
zahlreichen inoffiziellen und offiziellen Ausstellungen sowie
Symposien und wichtigen Publikationen in China und in anderen
Ländern. Deutlich wird hier der lange Weg bis zur Anerkennung
der chinesischen Gegenwartskunst und ihrer Protagonisten auch von
offizieller chinesischer Seite, die sich nicht zuletzt in der
zunehmenden Zahl öffentlich organisierter Ausstellungen und
Events wie der Shanghai Biennale (seit 2002) und der Guangzhou
Triennale (2002) manifestiert.
Auch private Galerien in Peking, Shanghai und
anderen Städten tragen zur Verbreitung der Kunst bei, so die
in- und ausländischen Galeristen des Künstlerviertels 798
im Norden Pekings, das in den 90er-Jahren auf dem Gelände
einer ehemaligen Fabrik entstand.
Was ist das "typisch Chinesische" in der
Gegenwartskunst? Diese Frage beschäftigt ebenso Künstler
und Betrachter. Schließlich entstand die Avantgarde-Kunst nach
längerer Isolation Chinas von der übrigen Welt in
Auseinandersetzung und als Reaktion auf westliche Kunst. Sie
durchlief mehrere Phasen, vom "Mao-Pop", über den "zynischen
Realismus" bis hin zu Körperkunst, Video- und
Rauminstallationen.
Nonkonform sind die Antworten der
Künstler auf die existentiellen Folgen der enormen
Modernisierungs- und politisch-ökonomischen Wandlungsprozesse,
die China seit zwei Dekaden erfährt. Ebenso spiegeln die Werke
persönliche Erfahrungen und Reflexionen kultureller
Traditionen. Zu Recht problematisieren die Mahjong-Autoren die im
Westen häufig verwendete Formel vom dissidenten Künstler,
was deren Intentionen oft missversteht. Ebenso führe der Topos
des chinesischen Künstlers als Bedrohung des internationalen
Kunstbetriebes in die Irre, in dem alte Vorurteile weiterleben. Als
weitere Topoi nennt Bernhard Fibicher den "nicht mehr chinesischen,
sondern globalen Künstler" und den chinesischen Künstler
als "Exoten".
Viele der im Katalog abgebildeten Werke
zählen zu den "Ikonen" chinesischer Avantgarde-Kunst, wie Ai
Weiweis Han-Vase mit Coca-Cola-Logo, die Glatzköpfe von Fang
Lijun, Xu Bings "Xinglish"-Kalligrafien, Yue Min Juns Skulpturen
breit lachender Männer, Yang Shaobins rote, verfremdete
Porträts und Wang Jinsongs Fotografien chinesischer
"Standardfamilien". In ihrer Vielfalt und Aussagekraft schafft die
zeitgenössische Kunst auch einen Zugang zum modernen China. Im
Herbst 2006 wird die Mahjong-Ausstellung in der Hamburger
Kunsthalle zu sehen sein.
Bernhard Fibicher und Matthias Frehner (Hrsg.)
Mahjong. Chinesische Gegenwartskunst aus
der Sammlung Sigg.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern-Ruit 2005;
360 S., 49,90 Euro
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