|
|
Stefan Jost
Das Pinochet-Trauma ist vorüber
Chile hat sich zum Musterknaben Südamerikas
entwickelt
Seit einigen Jahren entwickeln sich in Südamerika
Krisenszenarien, die zwar verschiedene Ursachen haben, in ihren,
wenn auch unterschiedlich ausgeprägten, Verfestigungstendenzen
jedoch eine Gefahr für die politische und ökonomische
Stabilität des Subkontinents darstellen. In der Verengung
internationaler, vor allem auch deutscher Lateinamerika-Wahrnehmung
gerät dabei nahezu aus dem Blickfeld, in welchem Ausmaß
sich Chile seit 1990 gleichsam zum Musterknaben Südamerikas
entwickelt hat.
Dieser Weg ist trotz aller noch bestehenden Brüche oder
noch ausstehenden Fragen beeindruckend. Er begann mit der
Selbstbefreiung von der Diktatur Pinochets durch ein klares Ja zur
Demokratie im Referendum über Pinochet, setzte sich fort mit
der "Concertación", der Zusammenarbeit zwischen
christdemokratischer und sozialistischer Partei, was den Versuch
einer Kooperation bedeutete, ideologische Gräben der
Vergangenheit zu überwinden, und ging bis hin zu einer
mühsamen, von vielen als verspätet angesehenen, aber
inzwischen unaufhaltsam in Gang gekommenen Aufarbeitung der
Vergangenheit.
Chile konnte in diesen Jahren demokratische Stabilität und
wirtschaftlichen Fortschritt verbinden. Höhepunkt dieser
Entwicklung ist sicher die vor wenigen Wochen erfolgte
Verfassungsreform, mit der die bislang beklagten "autoritären
Enklaven", das heißt die verfassungsrechtlich schwer zu
ändernden Erbschaften aus der Pinochet-Diktatur
überwunden wurden.
Sofern die Demoskopen in Chile ihr Handwerk verstehen,
dürfte Ende dieses Jahres die Kandidatin der
"Concertación" zur Staatpräsidentin gewählt werden.
Auch wenn sich verständlicherweise die traumatische, bis heute
nachwirkende Erfahrung Chiles mit der Pinochet-Diktatur als nahezu
durchgängiger Bezugspunkt durch diesen Band zieht, bietet
gerade diese Verbindung von historischer Grundlage und aktueller
Politik die Chance, auch die künftigen Herausforderungen des
Landes besser einordnen zu können.
Das wahrlich schwergewichtige Buch setzt sich in 43
Einzelbeiträgen zu insgesamt gut gewichteten sechs
Schwerpunktbereichen (Geographie und Bevölkerung,
Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur sowie Chile und
Deutschland, zusätzlich eine detaillierte Chronologie)
fundiert mit den verschiedenen Fragestellungen auseinander und
ermöglicht so einen umfassenden Überblick über die
unterschiedlichsten Facetten chilenischer Realität, der kaum
einen grundlegenden bereich außer Acht lässt.
Bei einigen der Beiträge wäre aktuelleres, nicht auf
Mitte der 90er-Jahre begrenztes Datenmaterial hilfreich gewesen,
etwa zur immer wichtiger werdenden Debatte, wie bei anhaltend hohem
Wirtschaftswachstum die Frage der Einkommensverteilung gestaltet
werden kann. Dies sind aber Einzelanmerkungen, die den positiven
Gesamteindruck dieses Bandes nicht beeinträchtigen
können.
Stefan Jost Peter Imbusch, Dirk Messner, Detlef Nolte
(Hrsg.)
Chile heute. Politik, Wirtschaft, Kultur.
Bibliotheca Ibero-Americana.
Vervuert Verlag, Frankfurt/M. 2004; 957 S., 45,- Euro
Zurück zur
Übersicht
|