Manfred Funke
Die zweifelhafte Rolle der Wissenschaft
Giftgasproduktion unter dem NS-Regime
Am 15. Mai 1943 hielt Otto Ambros,
Vorstandsmitglied der I.G. Farben, bei Hitler einen Vortrag. Sein
Thema: "Die Lage auf dem Kampfstoffgebiet". Unmittelbar danach
beschloss man im Führerhauptquartier, die Produktion des
tödlichen Kampfgases Tabun von monatlich 1.000 auf 2.000
Tonnen zu erhöhen. Zugleich sollte zur Herstellung von 100
Tonnen des Nervengases Sarin pro Monat umgehend eine
zusätzliche Versuchsanlage errichtet werden. Das Werk
Falkenhagen hatte ferner künftig 50 Tonnen des neuen
Kampfstoffes Chlortrifluorid im Monat zu liefern.
Diese chemische Wunderwaffe (Tarnname
"N-Stoff") sollte vor allem bei der Zerstörung der
Frischluftaggregate in Festungsbauten zum Einsatz kommen.
Zusätzlich wurde der N-Stoff für die Ausschaltung der
Gasmaskenfilter in feindlichen Stellungen und für die
Beschleunigung der Zerstörungskraft deutscher Waffensysteme
erprobt. Die Freigabe dieser chemischen Kampfstoffe "als ein Mittel
der allerletzten Entscheidung", so eine Gesprächsformulierung,
wurde bis Kriegsende vertagt.
Ambros hatte bei Hitler darauf verwiesen,
dass auch der Feind Kampfgas bereithielt. Belegt wurde dies am 2.
Dezember 1943 im Hafen von Bari. Als dort deutsche Flieger einen
Frachter bombardierten, kam die Ladung von 540 Tonnen
Senfgasmunition zur Explosion. 620 Soldaten und über 1.000
Zivilisten fanden den Tod. In Deutschland selbst blieben bis
Kriegsende über 12.000 Tonnen des Nervengases Tabun
eingelagert. Es war einsatzbereit in Bomben
abgefüllt.
Dass die Kampfgase nicht an die Front gingen,
wie es Hitler zeitweilig bei der Belagerung Leningrads erwog,
begründete sich wohl nicht nur aus Schwierigkeiten bei
Koordination und Transport. Churchill hatte in seiner Rundfunkrede
am 10. Mai 1942 mit massiven Giftgas-Angriffen auf deutsche
Städte gedroht, falls Hitler Gas als Waffe gegen Russland
einsetze.
Dass sie für Hitler eine wichtige Option
blieb, ergibt sich aus der Fortsetzung der Produktion und der
weiteren Erforschung von Kampfgas, wofür verstärkt
Finanzmittel und KZ-Häftlinge bereitgestellt wurden. Von
Chemikern und Technikern wurde von der Wehrmachtsführung mit
immer größerer Ungeduld ein kriegsentscheidender Beitrag
eingefordert.
Die Entwicklung der neuen Kriegstechnik war
in Deutschland trotz des Verbots der Kampfstoff-Forschung im
Versailler Vertrag (Art. 171) verdeckt weiter betrieben worden,
zeitweise gut abgeschirmt durch die geheime militärische
Zusammenarbeit mit Russland während der Weimarer Republik.
Hitler konnte von Anbeginn seiner Aufrüstung intakte deutsche
Forschungsinstitute für Kampfgas einbeziehen. Sie arbeiteten
dezentral, waren indes durch Personal und Aufgabenstellung
vernetzt.
Eine herausragende Rolle spielte dabei die
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (nachmalig Max Planck-Gesellschaft). An
sechs verschiedenen Instituten betrieb sie Kampgasforschung. Dies
besonders am Institut für physikalische Chemie und
Elektrotechnik in Berlin-Dahlem. Dort wurde kontinuierlich von 1933
bis 1945 an Problemen des Gasschutzes chemischer Waffen in
Kooperationen mit Industrie, Militär, Partei- und
SS-Organisationen gearbeitet.
Die Rekonstruktion dieser "Kooperationen" mit
ihren Programmen, Forschungsetats, Kompetenzkonflikten und Intrigen
gestaltet Florian Schmaltz in seiner Bremer Dissertation ebenso
weit- wie tiefgreifend. Er durchleuchtet ein Nebelspiel deutscher
Wissenschaftsgeschichte, indem er sich durch Instituts- und
Firmenarchivalien umsichtig zu den Kernbereichen der
Militarisierung deutscher Wissenschaft vortastet. Nachweis und
Nachvollzug der vielfältigsten Aktivitäten in diesen
Kooperationen sind faszinierend. Packend geradezu lesen sich die
Lebensläufe der Akteure mit ihren Reaktionen auf die
tägliche Belagerung durch patriotische Inpflichtnahme,
Wissenschaftsethik, Karrierenkalkül und bandagiertem Gewissen.
Der vermutete Führerwillen diente ebenso als Gravitation wie
als Referenz für die Eigenwege der Labor-Teams.
Zu großes Risiko
Bot sich den Funktionseliten nur das
Schmiegsame als Verhaltensklugheit? Max Planck, seit 1930
Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, bedauerte zwar 1933
"schmerzlich" die Entlassung jüdischer Kollegen mit Fritz
Haber an der Spitze. Gegen dessen von den Nazis lancierten
Nachfolger protestierte Planck am 11. August 1933 nur recht
ambivalent: "Uns allen, die wir der nationalen Regierung einen
vollen Erfolg wünschen, muss daran gelegen sein, dass nicht
der Eindruck entsteht, die deutsche Wissenschaft werde in ihrer
bisherigen ruhmreichen Entwicklung gehemmt werden. Das kann aber
nur erreicht werden, wenn es uns gelingt, den besten und nur den
besten arischen Gelehrten, den wir überhaupt in Deutschland
finden können, an diese Stelle zu bringen."
Im Zusammenhang damit belegt Schmaltz, dass
Planck mit dem Plan des Reichswehrministeriums, das
Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie wieder in ein
Zentrum der Chemiewaffenforschung umzuwandeln, prinzipiell
einverstanden war. Da indes das gesamte Ausland auf Dahlem blicke,
so Planck, empfehle sich eine Verlagerung auf unauffälligere
Forschungsstätten.
Am Ende unterblieb wohl aus strategischen
Risiko-Erwägungen der Kriegseinsatz der mit großem
Aufwand gefertigten Nervengase. "Erst eine erweiterte Perspektive",
schließt Schmaltz, "auf die langfristigen Konsequenzen der
Entwicklung der Nervenkampfstoffe macht ihre Bedeutung ersichtlich.
Neben der deutschen Raketentechnik wurden die Nervengase nach
Kriegsende umgehend als die technologisch avanciertesten
Waffensysteme von den Alliierten Siegermächten
übernommen. Ende der 1940er-Jahre begannen in der UdSSR und in
den USA die Forschungsarbeiten, beide Waffensysteme miteinander zu
kombinieren. Das Ergebnis war die ballistische Rakete mit
chemischem Nervengas-Sprengkopf." Im deutschen Beitrag zum
Zeitalter der ABC-Waffen erkennt Schmaltz "eine der belastenden
Erbschaften des NS-Regimes".
Florian Schmaltz
Kampfstoff-Forschung im
Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten,
Militär und Industrie.
Wallstein Verlag Göttingen, 2005; 676
S., 39,- Euro
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