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Michaela Schlangenwerth
Kleine Fluchten aus dem Alltag
Mädchenläden wie Rabia in Berlin
bieten gerade türkischstämmigen Teenagern einen
Freiraum
Die 16-jährige Fatima kann ihr Glück
noch gar nicht fassen. "Super ist es hier", sagt sie. Früher
hing sie entweder allein zu Hause oder gemeinsam mit einer Freundin
auf der Straße herum. In der zehnten Klasse ihrer Berliner
Realschule drohte sie, den Anschluss zu verlieren. Den teuren
Nachhilfeunterricht konnten sich die Eltern nicht leisten. Dann gab
die Lehrerin der Mutter ein Informationsblatt über den
Mädchenladen Rabia, der in Berlin-Kreuzberg im so genannten
Wrangelkiez liegt, einige Straßenzüge, die selbst noch
für Kreuzberger Verhältnisse als arm gelten. Der
Migrantenanteil liegt bei über 35 Prozent. Fatima und ihre
Freundin jedenfalls kommen jetzt jeden Nachmittag hierher. "Ich
komme wieder in der Schule mit, es macht mir wieder Spaß. Die
Hausaufgabenhilfe hier ist hervorragend", erzählt der
Teenager.
Rabia ist einer von mehreren
Mädchenläden in Berlin. Die Cafés haben ein
besonderes Konzept: Jungs und Männer sind hier nicht
erwünscht. Die Mädchen sollen in einem geschützten
Raum ihre Probleme besprechen können, Selbstbewusstsein und
Vertrauen entwickeln. Weil auch die Eltern
türkischstämmiger Mädchen wissen, dass Jungs in den
Mädchenladen nicht hinein kommen, erlauben sie ihren
Töchtern, denen sie ansonsten bisweilen wenig Freiraum lassen,
Mädchencafés wie Rabia aufzusuchen. Für die
türkischstämmigen Mädchen ist Rabia oftmals die
einzige Möglichkeit, jenseits der Schule den engen
häuslichen Milieus zu entkommen und kleine Freiheiten zu
erfahren. Ganz wichtig ist neben der Hausaufgabentreuung die
Projektarbeit. Dabei können sich die Mädchen weiter
entwickeln, Fähigkeit ausprobieren. Sie lernen einen anderen
Umgang mit Konflikten, kommen ihren eigenen Standpunkten auf die
Spur, entwickeln Individualität.
Die 12-jährige Özlem, die schon
seit zwei Jahren zu Rabia kommt, hat zusammen mit anderen bereits
ein Hörspiel produziert. Jetzt arbeitet sie an einer
Ausstellung über Unternehmerinnen bei der die
Rabia-Mädchen Geschäftsfrauen im Kiez befragten, wie es
ihnen mit ihrer Selbstständigkeit ergeht. "Spannend" findet
Özlem solche Projekte. "Aber Mädchen aus anderen Teilen
Kreuzbergs kommen nicht hierher", sagt die Sozialpädagogin
Ulrike Pyplatz. "Der Weg ist zu weit, gerade für
türkische Mädchen, deren Bewegungsradius ob der
familiären Gebote oft sehr eng gesteckt ist."
Den Mädchenladen Rabia gibt es seit
sechs Jahren. Etwa 20 Mädchen kommen unter der Woche
täglich hierher, etwa 40 bis 60 weitere besuchen den Laden
regelmäßig. Rabia ist das einzige große Kreuzberger
Mädchenprojekt, das die Sparmaßnahmen der vergangenen
Jahre überlebt hat. Berlin hat seine Förderung von
Migrantenkindern rabiat auf genau das Minimum heruntergefahren, das
durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz vorgeschrieben
ist.
Rabia hat nicht nur viele Mädchen
unterschiedlichster Herkunft durch Hauptschule und Gymnasium
gebracht. Entgegen gängiger Vorurteile sind türkische
Eltern oft sehr bildungsorientiert. Nur mangelt es ihnen oftmals
aufgrund schlechter Deutschkenntnisse an den Möglichkeiten,
ihren Kindern bei den Schulaufgaben zu helfen.
Obwohl nur eine einzige Sozialpädagogin
fest angestellt ist und sich die anderen Mitarbeiterinnen durch ein
Flickwerk von Projekten finanzieren müssen, haben die
Pädagoginnen großen Erfindungsreichtum bewiesen, um mit
der Finanznot fertig zu werden und den Mädchen Sinnvolles
anbieten zu können. Dazu gehört das tägliche
Mittagessen, das es gibt, seit Rabia-Mitarbeiterinnen feststellten,
dass manche der Mädchen ohne Frühstück in die Schule
gehen, und sich - von den Eltern mit ein paar Euro versehen -
hauptsächlich von Süßigkeiten und Döner
ernähren. Jugendhilfeträger sind für die Versorgung
von Kindern nicht zuständig, Fördergelder für ein
Mittagessen waren nicht aufzutreiben. Also traf Rabia eine
Übereinkunft mit dem Verein Berliner Tafel, der nun kostenlos
Gemüse, Salat und Obst liefert. 50 Cent zahlen die
Mädchen für das Essen, das reicht für den Kauf der
Grundnahrungsmittel. Vier Mal in der Woche kochen die
Mitarbeiterinnen, einmal in der Woche kochen die Mädchen. Dann
werden die Tische mit dem besten Geschirr und richtigen Tischdecken
eingedeckt, und es wird am Tisch bedient. Inzwischen hat sich
daraus ein eigenes Projekt zur Berufsförderung im Hotel- und
Gastronomiegewerbe entwickelt. Das Mittagessen bei Rabia ist aber
auch der Moment, wo sich Gespräche entwickeln, man neue
Freundinnen gewinnen oder überraschende Hilfe bekommen kann.
Es ist ein Ort der Stärkung.
Wie viel den Mädchen die Mittagessen
bedeuten, zeigen unter anderem die Hörspiele, die Rabia in
Kooperation mit umliegenden Schulen produzierte. Die Geschichten
wurden von den Mädchen selbst erfunden, meist geht es um
Streit in Cliquen. Streit, der entsteht, einfach weil ein
Mädchen neu in die Klasse kommt oder ein Missverständnis
vorliegt. Brutale Übergriffe von Älteren müssen
ausgehalten, Allianzen mit anderen Mädchen gebildet werden.
Lehrer, Eltern oder andere erwachsene Autoritätspersonen
kommen als Hilfe nicht in Frage. "Du Opfer" ist in den Geschichten
das schlimmste Schimpfwort.
Ähnlich verhält es sich mit vielen
anderen Rabia-Projekten. Dem Projekt "Mädchenballplatz" etwa
liegt die Idee zugrunde, dass Mädchen mehr Chancen haben
sollten, öffentliche Orte zu nutzen, auch um dort Ball zu
spielen. Wie schwer das ist, wurde im Problemkiez schnell sichtbar.
Die Jungen wollten weibliche Gesellschaft auf "ihrem" Platz nicht
dulden. Sie nahmen den Mädchen die Bälle weg und
bedrohten die entsetzten Erzieherinnen. Die herbeigeholte Polizei
schlug sich dann noch auf die Seite der Jungen. Fünf Jahre ist
das her. "Seitdem haben wir viel dazu gelernt", sagt Pyplatz.
"Darüber, wie wir gewalttätige Konflikte bewältigen,
und wie wir Jungen in unsere Arbeit integrieren." Rabia will die
Mädchen darin unterstützen, sich in der
Öffentlichkeit freier zu bewegen, damit sie an Angeboten
teilnehmen und sich behaupten können. Doch das funktioniert
nur, wenn bei den prekären Beziehungen zwischen Jungen und
Mädchen Vermittlungsarbeit geleistet wird. Heute gibt es den
Mädchenballplatz immer noch. Als Koprojekt für
Mädchen und Jungen, betreut von weiblichen und männlichen
Sozialpädagogen.
Freundlich ist die Atmosphäre an einem
normalen Tag bei Rabia, friedlich und konzentriert. Im
geräumigen Café sitzen acht Mädchen über ihren
Hausarbeiten. An anderen Tischen wird gemalt und gelesen, hinter
der Theke beim Spülen geholfen. Ungefähr die Hälfte
der Mädchen trägt ein Kopftuch. Oben im Musikraum proben
Patricia und ihre Freundin an selbst geschriebenen Songs. In den
Holz- und Metallwerkstätten im Seitenflügel, die einmal
in der Woche nicht nur für Mädchen, sondern für die
gesamte Nachbarschaft geöffnet sind, basteln Jungen und
Mädchen an Bumerangs und CD-Regalen.
Doch die Ruhe kann schnell kippen - und das
weiß jeder hier: Vor einigen Wochen kam es in einer Gruppe von
Mädchen zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung, danach
war der Mädchenladen für kurze Zeit wie ausgestorben.
Jetzt haben die randalierenden Mädchen erst einmal Hausverbot.
Nach Einzelgesprächen, bei denen die Bedingungen ausgehandelt
werden, dürfen sie wieder kommen. "Dass die Tür offen
bleibt, trotz ihres Verhaltens", sagt Ulrike Pyplatz, "das ist das
Wichtigste. Das ist etwas, was ihnen in ihrem Leben nicht oft
passiert."
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