Günter Pursch
Oft nur ein Papier
Koalitionsvereinbarungen seit 1949
An diesem Montag - 14. November - wollen CDU,
CSU und SPD ihren Koalitionsvertrag beschließen: die CDU in
Berlin und die CSU in München auf jeweils "Kleinen
Parteitagen", die SPD in Karlsruhe auf einem seit langem geplanten
ordentlichen Parteitag. Seit 1949 wird die Bundesrepublik
Deutschland stets von einer Koalition, also einem aus Politikern
mehrerer Parteien bestehenden Kabinett, regiert. Erst einmal, im
Jahr 1949, konnte - durch die Union 1957 - eine absolute Mehrheit
errungen werden. Doch auch damals gab es eine Koalitionsregierung
von CDU/CSU und der Deutschen Partei (DP).
Zukünftige Partner eines
Regierungsbündnisses treffen zur Vorbereitung der Bildung
eines Kabinetts Vereinbarungen, in denen die Bedingungen ihrer
zukünftigen Zusammenarbeit festgelegt werden. Im Datenhandbuch
zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994 bis 2003 ist zu
lesen: "Solche Koalitionsvereinbarungen enthalten die personellen
und sachlichen Bedingungen der Parteien beziehungsweise Fraktionen,
unter denen die Koalitionspartner bereit sind zur Regierungsbildung
sowie zur parlamentarischen Unterstützung dieser gemeinsam
getragenen Regierung." Weiter heißt es dort: Vertragsformen
könnten sein, zum einen mündliche Absprachen zwischen
Verhandlungsdelegationen, die eventuell nachträglicher
Bestätigung durch die betroffenen Fraktionen bedürfen,
zum anderen Gedächtnisprotokolle, die zu den eigenen Akten
genommen oder ausgetauscht werden, Briefwechsel oder vertragliche
Dokumente mit oder ohne Unterzeichnung.
Außerdem ist festgehalten: "In dem
Maße, in dem Koalitionsvereinbarungen einen schriftlich
fixierten Charakter angenommen haben, ergab sich auch die
Notwendigkeit, ein Gremium zu schaffen, das die Einhaltung der
Absprachen garantieren und überwachen sollte. In der
Bundesrepublik war erstmals nach dem Vorbild aus den Weimarer
Jahren im Koalitionsvertrag von 1961 die Einsetzung eines
,Koalitionsausschusses' vorgesehen. Dieser ist ein dem
Bundeskabinett und den jeweiligen Mehrheitsfraktionen
vorgeschaltetes Koordinationsgremium."
So gab es vor der Regierungsbildung 1949 zwar
Koalitionsabsprachen in Form eines Briefwechsels. Sie wurden jedoch
nicht veröffentlicht. Sie waren - soweit dies bis heute
bekannt ist - auf inhaltlich-politische Fragen beschränkt.
Auch ein Koalitionsausschuss war offiziell nicht vorgesehen.
Allerdings sind sowohl regelmäßige Sitzungen eines
solchen Ausschusses auf Fraktionsebene als auch
regelmäßige, zum Teil wöchentliche Termine von
Gesprächen zwischen Bundeskanzler, Kabinett und Koalition
nachweisbar. Die Koalition wurde damals gebildet aus CDU/CSU, FDP
und DP.
Das gleiche gilt auch für die
Wahlperiode ab 1953. In dem Briefwechsel wurden allerdings auch
strukturelle Fragen der Regierungsorganisationenbehandelt. Die
Koalition wurde aus CDU/CSU, FDP, DP und GB/BHE (Gesamtdeutscher
Block/Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten)
geschlossen.
Als die CDU/CSU 1957 die absolute Mehrheit
sowohl der Wählerstimmen als auch der Abgeordnetenmandate
gewann, koalierte sie mit der DP. Koalitionsabsprachen wurden nicht
veröffentlicht. Ein Koalitionsausschuss war ebenfalls
offiziell nicht vorgesehen. Die Existenz sowie die
Durchführung von Koalitionsgesprächen sind
bezeugt.
Erst mit der Bildung der Bundesregierung
durch CDU/CSU und FDP im Jahr 1961 gab es ein Koalitionsabkommen.
Dies wurde am 20. Oktober geschlossen und - in nicht autorisierter
Fassung - von der Presse veröffentlicht. Auch ein
Koalitionsausschuss war jetzt mit weitreichenden Kompetenzen
ausdrücklich vorgesehen. Er bestand aus "den Vorsitzenden der
Koalitionsfraktionen, deren Stellvertretern und den
Parlamentarischen Geschäftsführern". Vereinbart wurde die
Zusammenarbeit der Regierungsparteien für die Dauer der
Vierten Wahlperiode zudem gab es die Zusicherung, während
dieser Zeit kein anderes Koalitionsangebot anzunehmen. Man
vereinbarte, Konrad Adenauer zum Bundeskanzler zu wählen,
jedoch nicht für die Dauer der gesamten Legislaturperiode. Die
Fraktionsvorsitzenden erhielten die Berechtigung, an den
Kabinettssitzungen teilzunehmen. Weiterhin wurden politische
Grundsätze in den Bereichen der Außen- und
Deutschlandpolitik, der Innen-, der Wirtschafts-, Agrar- und
Sozialpolitik vereinbart. Dieses Abkommen wurde zum Teil durch ein
"Arbeitspapier" bestätigt beziehungsweise durch ein
"Arbeitsprogramm" ergänzt.
Nach der Bundestagswahl 1965 - Konrad
Adenauer war 1963 von Ludwig Erhard abgelöst worden - wurden
die Koalitionsabsprachen zwischen CDU, CSU und FDP nicht
veröffentlicht, ein Koalitionsausschuss war nicht vorgesehen.
Allerdings platzte die Koalition im Herbst 1966 und wurde von der
"Großen Koalition" unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) als
Bundeskanzler und dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt als Vizekanzler
und Außenminister abgelöst. Die Partner verzichteten auf
einen detaillierten Koalitionsvertrag. Teilweise wurden die
"Leitsätze der SPD für die Koalitionsverhandlungen im
Herbst 1966" in die Regierungserklärung Kiesingers
übernommen. Ein Koaltionsausschuss war nicht vorgesehen. Ab
Sommer 1967 tagte der "Kressbronner Kreis", der aus Bundeskanzler
Kiesinger, Außenminister Brandt, den beiden
Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU, Rainer Barzel, und SPD, Helmut
Schmidt, sowie weiteren Mitgliedern - je nach Bedarf -
bestand.
Mit der Wahl zum Sechsten Deutschen Bundestag
wurde die Union 1969, die bis dahin 20 Jahre ununterbrochen den
Kanzler stellte, auf die Oppositionsbänke gedrängt,
obwohl sie die stärkste Fraktion stellte. SPD und FDP gingen
die erste sozial-liberale Koalition ein. Es gab umfangreiche
Koalitionsvereinbarungen. Ein Koalitionsausschuss war offiziell
nicht vorgesehen.
Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 -
die SPD stellte erstmals die stärkste Fraktion - wurde die
sozial-liberale Koalition fortgesetzt. Einen Koalitionsausschuss
sollte es auch in dieser Wahlperiode offiziell nicht geben. Die
Koalition wurde fortgesetzt, nachdem Willy Brandt Anfang Mai 1974
als Bundeskanzler zurücktrat. Zu seinem Nachfolger wurde
Helmut Schmidt gewählt.
Mit der Bundestagswahl 1976 wurde die CDU/CSU
zwar wieder stärkste Fraktion, die sozial-liberale Koalition
wurde jedoch fortgeführt. Auch hier gab es wieder detaillierte
Koalitionsvereinbarungen. Auch wenn ein Koalitionsausschuss
offiziell nicht gebildet werden sollte, waren mehr oder weniger
regelmäßige Treffen auf vier Ebenen zu verzeichnen: auf
interfraktioneller Ebene, auf Parteiebene, innerhalb der
Bundesregierung und ein als "Koalitionsgespräche" oder
"Koalitionsrunde" bezeichnetes informelles Entscheidungszentrum, an
dem die Spitzenpolitiker aus Kabinett, Fraktionen und Parteien
teilnahmen.
Nach der Bundestagswahl 1980 wurde die
CDU/CSU wieder stärkste Fraktion. SPD und FDP hatten sich
jedoch schon im Wahlkampf mit entsprechenden Koalitionsaussagen
darauf geeinigt, ihr Regierungsbündnis fortzusetzen. Die
"Koalitionsgespräche" wurden fortgesetzt. Am 17. September
1982 traten die FDP-Minister zurück. Die sozial-liberale
Koalition war nach 13 Jahren zerbrochen. CDU/CSU und FDP
vereinbarten ein gemeinsames Sachprogramm, bevor der CDU-Partei-
und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl am 1. Oktober 1982
durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den Amtsinhaber
Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt wurde. Die neue
"Koalition der Mitte" sah einen Koalitionsausschuss nicht
vor.
Sie wurde mit den im März 1983
vorgezogenen Bundestagswahlen bestätigt. Auch hier wurden
detaillierte Koalitionsvereinbarungen getroffen. Einen
Koalitionsausschuss sollte es nicht geben. Es sind jedoch als
"Koalitionsgespräche" oder "Koalitionsrunde" bezeichnete
turnusmäßige Treffen der Spitzenpolitiker zu verzeichnen.
Ferner kam es zu gelegentlichen Zusammenkünften der drei
Parteivorsitzenden, "Dreier-Gespräche" genannt oder auch
respektlos als "Elefantenrunde" tituliert.
Nach der Bundestagswahl 1987 wurde kein
ausdrücklicher Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP
geschlossen. Allerdings wurden zahlreiche Detailvereinbarungen
getroffen. Wie schon in der Wahlperiode zuvor war kein offizieller
Koalitionsausschuss vorgesehen. Aus den "Koalitionsgesprächen"
und den gelegentlichen Treffen der Parteivorsitzenden wurde die
"Koalitionsrunde" zu einem Entscheidungsgremium
fortentwickelt.
1990 wurde mit der Bundestagswahl die
"Koalition der Mitte" bestätigt. Union und FDP verabredeten
detaillierte Koalitionsvereinbarungen. Ein Koalitionsausschuss war
erneut nicht vorgesehen. Die "Koalitionsrunde" entwickelte sich in
dieser - der Zwölften - Wahlperiode zu einem informellen
Entscheidungsorgan mit umfassenden Kompetenzen. Weiterhin wurden
"Koalitionsarbeitsgruppen" eingesetzt.
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