Reinhard Lassek
Schlüsselfragen humaner Entwicklung
Ein lesenswertes "Ethik Jahrbuch" / Von Reinhard
Lassek
Seit Jahrtausenden machen sich die Menschen
Gedanken über die Moral ihres Handelns. Auf die ethische
Schlüsselfrage nach dem Erhalt des humanen Impulses wurde
dabei manch bemerkenswerte Antwort gefunden. Doch jene - vor allem
im christlichen Abendland entwickelten - ethischen Grundsätze
werden heutzutage radikaler hinterfragt denn je.
So behaupten einige Hirnforscher, dass unsere
vermeintlich freien Entscheidungen in Wirklichkeit nur das Ergebnis
bestimmter neuronaler Verschaltungen und Prozesse seien. Der "freie
Wille" und damit jede Ethik, die diesen Namen noch verdient,
wären somit pure Illusion. Und Norbert Copray hätte sich
dann eigentlich die Herausgabe dieses "Ethik Jahrbuchs" ersparen
können.
Das Buch wurde herausgegeben von der in
Frankfurt/Main ansässigen Fairness-Stiftung; sie engagiert
sich für "faire Unternehmensstrukturen, faire Führung und
Fairness am Arbeitsplatz". Ohne Ethik, so heißt es, könne
es weder in Unternehmen noch in gesellschaftlichen Organisationen
oder Gruppen Vertrauen und damit erfolgreiches koopratives Handeln
geben. Wichtige Entscheidungen setzten ethische Klärungen und
klare Wertpräferenzen voraus.
Konsequenterweise wird der Band daher durch
das Kapitel Freiheitsethik eröffnet - mit dem
verblüffenden Effekt, dass der geistige Mehrwert, den sich der
Leser durch die im Inhaltsverzeichnis offerierten Themen und
Autoren erhofft, bereits in den ersten beiden Aufsätzen
erwirtschaftet wird. Karl-Heinz Brodbeck gelingt es mit Bravour,
die überzogenen Ansprüche einiger Neuroforscher auf eine
vollständige Naturalisierung der Ethik als "Hirngespinste" zu
entlarven.
Damit ist der Weg frei für eine
grundsätzliche Klärung des komplexen Verhältnisses
zwischen Moral und Ethik. Norbert Copray zeigt auf, dass uns allein
mit der "Moral" - jener Gesamtheit sittlicher Ge- und Verbote, die
unsere soziale Einbindung regeln - überhaupt nicht geholfen
ist. Es muss schon die kritische Prüfung von Werthaltungen und
Normen und damit die Bewertung der Verhältnisse und des
Verhaltens der Menschen untereinander und gegenüber der Natur
hinzutreten. Nietzsches harsche Kritik an der Moral - sie stehe
"der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: Sie verdummt" -
ist nach wie vor aktuell. Ethik lässt sich immer nur im
Gegensatz zur Moral entwickeln. Und diese Botschaft strahlt
selbstverständlich auf alle Teilbereiche der Ethik
aus.
Im Zentrum der Bioethik, wie kann es anders
sein, steht die Debatte um die "Würde des Embryos". Diese gilt
es nach Dietrich Böhler im Zweifel gegen noch so verlockende
Kosten-Nutzen-Erwägungen zu schützen. Doch ist jene oft
zu beobachtende pauschale "Skandalisierung der Biopolitik"
überhaupt verantwortbar? Die Moral, so jedenfalls Volker
Gerhardt, steht keineswegs immer auf Seiten der
Bedenkenträger.
Da Menschenwürde und Menschenrechte
stets auch eine globale Dimension entfalten, ist in Zeiten
fortschreitender Globalisierung auch eine globale Ethik
vonnöten. So möchte etwa Karl Otto Hondrich der
kriegsführenden US-Macht jene nachhaltige Erfahrung des "alten
Europa" ans Herz legen, dass sich die Welt nicht mit Gewalt,
sondern nur mit Moral ordnen lässt. Und Hans Küng stellt
dagegen beinahe resignierend fest, dass sich durch moralische
Appelle von außen ohnehin nichts bewirken lässt. Allein
das "Ethos" der Akteure - gemeint ist moralisches Handeln von innen
heraus - könne dem Versagen der Märkte und Institutionen
sowie dem allgemeinen Versagen der Moral entgegenwirken.
Was es mit diesem Versagen konkret auf sich
hat, erfährt der Leser dann im Kapitel Wirtschaftsethik. Da
geht es nämlich nicht nur um "Freiheit als Grundlage der Ethik
des Unternehmers" (Klaus-Jürgen Grün), sondern auch um
den "Abschied von einer Ethik der Mäßigung" (Christoph
Lütge) oder gar um "Der Gierigen Zähmung" (Mathias
Schüz).
Welche ethischen Orientierungen etwa eine
"Unternehmenskultur" begründen helfen (Claudia Nagel), einen
Berater für die Politikberatung qualifizieren (Axel
Höselbach) oder die Macht der Medien in zivilisierte Bahnen
halten (Ulf D. Posé) und vieles andere mehr wird im Kapitel
"Unternehmensethik" erörtert. Und während die Rechtsethik
nach Lothar Brock vor allem eine Friedens- und Fortschrittsethik
sein sollte, die in eine "Weltrechtsordnung" mündet, fordert
die Politische Ethik nach wie vor soziale Gerechtigkeit. Denn
Gerechtigkeit, so Otfried Höffe, ist schließlich die
Anerkennung dessen, was sich die Menschen einander gegenseitig
moralisch schuldig sind.
Die 30 Beiträge dieses gediegenen Buches
- die den inhaltlichen Bogen von der "Bioethik" bis zum "Weltethos"
spannen - bleiben dem Leser jedenfalls nichts schuldig, was einer
zeitgemäßen Aufarbeitung des komplexen Themas dient. Die
schwierige Übung, einen lesbaren Überblick über die
zentralen ethischen Themen der Gegenwart vorzulegen, ist in
vorbildlicher Weise gelungen. Ohne Umschweife werden die Positionen
der aktuellen ethischen Debatten dargestellt und auf ihr Potential
hinsichtlich einer gegensätzlichen oder verbindlichen
Perspektive geprüft. Dem im Vorwort erhobenen Anspruch, dem
Leser den "Anschluss an die bedeutenden Argumente und
Wertentscheidungen" der Ethikdebatten unserer Zeit zu
ermöglichen, wird dieses Buch vollends gerecht.
Norbert Copray (Hrsg.)
Ethik Jahrbuch 2004.
Fairness-Stiftung, Frankfurt/M., 2004; 310
S., 34,90 Euro
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