Hartmann Wunderer
Wir haben die Grenzen erreicht
Krise und Umbau des Sozialstaats
Über Parteigrenzen hinweg besteht Konsens: Der Sozialstaat
muss, wenn er denn überleben soll, grundlegend "umgebaut",
reformiert werden. Die Ursachen hierfür sind bekannt: Das
"Normalarbeitsverhältnis" ist keineswegs mehr normal. Damit
ist eine Finanzierungsvoraussetzung brüchig geworden. Das
Umlageprinzip ist angesichts der demografischen Veränderungen
der letzten Jahrzehnte fragwürdig geworden, die Alterung der
Gesellschaft und ansteigende Lebenserwartungen machen die traditio-
nellen Grundlagen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die
ein stetiges Wirtschaftswachstum und weitgehende
Vollbeschäftigung voraussetzen, inzwischen mehr und mehr
obsolet. Obwohl Demografen seit langem darauf aufmerksam machen,
hat die Politik auf diese Herausforderungen viel zu zögerlich
reagiert und sich vorschnell dem Widerstand von Gruppen gebeugt,
die von Veränderungen betroffen gewesen wären.
Probate Lösungen können und wollen die zehn
Beiträge dieses Sammelwerks nicht anbieten; sie durchforsten
vielmehr das komplexe Terrain, legen dabei Grundstrukturen offen
und entwickeln Leitideen für eine Reform des Sozialstaats.
Dabei dominiert eine politik- und wirtschaftswissenschaftliche
Perspektive, die auch über den nationalen Tellerrand blickt,
haben doch alle EU-Länder ähnliche Probleme.
Sehr instruktiv ist daher der Blick auf die unterschiedlichen
Lösungsmodelle. Wie ein roter Faden zieht sich durch die
Beiträge die Beobachtung, dass die Orientierung der sozialen
Sicherungssysteme am hergebrachten Bild der Arbeitswelt
hinfällig geworden ist. Alle vier Grundsäulen des
Sozialstaats - so Werner Sesselmeier - bröckeln:
Neben das so genannte Normalarbeitsverhältnis, das auf
Dauer und Kontinuität angelegt ist, trat die
Teilzeitbeschäftigung; das Modell der "Ein-Verdiener-Familie"
ist längst obsolet, obwohl im Steuerrecht immer noch das
zweite Gehalt mit hohen Grenzsteuersätzen "bestraft" wird. Das
Prinzip der Lebensstandardsicherung ist nicht mehr
beitragsfinanzierbar; schließlich fußte die Konstruktion
der Sozialversicherungen auf der Annahme der
Vollbeschäftigung.
"Gerechtigkeitsorientiert"
Besonderes Interesse verdienen die Vorschläge für eine
"gerechtigkeitsorientierte Beschäftigungspolitik", die
Wolfgang Merkel entwickelt. Als makroökonomische Maßnahme
schlägt er eine Lockerung der fiskalkonservativen
Selbstbindung der europäischen Staaten vor. Immerhin
löste die weniger monetaristisch-restriktive Geldpolitik
Amerikas Wachstumsimpulse aus, während der europäische
Stabilitätspakt erhebliche konjunkturpolitische Risiken birgt.
Dieser EU-Stabilitätspakt schreibe bei einem
Wirtschaftsabschwung eine prozyklische Konsolidierungspolitik vor,
die offenkundig krisenverschärfend wirke.
Als mikroökonomische Maßnahme empfiehlt Merkel eine
Deregulierung des Arbeitsmarkts. Gegenwärtig belohnen die
Regulierungen des Arbeitsmarkts die Insider, die also über
einen Arbeitsplatz verfügen, während die Outsider
benachteiligt würden. Merkel plädiert weiterhin für
eine Senkung der Lohnsteuern in den unteren Einkommensbereichen und
für eine stärkere Steuerfinanzierung der sozialen
Sicherungssysteme unter Einbeziehung der Kapitaleinkünfte und
indirekter Verbrauchssteuern.
In diese Richtung argumentiert auch Diether Döring: Durch
die Kernfinanzierung der Sozialversicherung über lohnbezogene
Beiträge wurde das Beschäftigungsverhältnis zum
"Lastesel des Sozialstaates" gemacht - eine Entwicklung, die durch
den Prozess der deutschen Einigung nochmals verstärkt wurde.
Diese Integrationsleistungen hätten eher von allen
Bürgern und Bürgerinnen über Steuern finanziert
werden müssen. Durch die überzogenen Beitragslasten
würden nicht nur Beschäftigungsspielräume reduziert,
sondern auch der private Konsum geschwächt.
Blick auf die Nachbarn
Europäische Nachbarländer wie die Schweiz, die
Niederlande oder die skandinavischen Staaten hätten
demgegenüber mittels einer geringeren Belastung der Arbeit und
einer Begünstigung der Teilzeitarbeit bessere
Beschäftigungsverhältnisse erreicht. Beklagt wird
schließlich, dass die geringen Bildungsausgaben sowohl dem
Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zuwider liefen als auch dem
"Standort Deutschland" schadeten, dessen Produktivität durch
höhere Bildungsinvestitionen gefördert werden
könnte.
Sehr anregend sind auch die Beiträge zur "SPD in der
Krise", zur "Europäisierung der Sozialpolitik" sowie die
ländervergleichenden Perspektiven. Der Autorin und den Autoren
ist es weitgehend gelungen, ihre Analysen einigermaßen gut
lesbar und klar strukturiert zu präsentieren - bei der
komplexen Materie kein einfaches Geschäft.
Siegfried Frech und Josef Schmid (Hrsg.)
Der Sozialstaat - Reform, Umbau, Abbau.
Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2004; 191 S., 16,80 Euro
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