Christian Hauck
"Wir wollen gar nicht wachsen"
Schleswig-Holstein: In Gemeinden mit weniger als
70 Einwohnern regeln die Bürger ihre Belange selbst
Die Zahl 70 hat für 18 Gemeinden in Schleswig-Holstein eine
ganz besondere Bedeutung. Deren Bürgermeister blicken im Jahr
vor jeder Kommunalwahl mit Besorgnis auf ihre
Bevölkerungsstatistik. Übersteigt die Einwohnerzahl an
einem bestimmten Stichtag die 70, ist Schluss mit einem in
Deutschland seltenen Sonderstatus. Dann nämlich müsste
ein Gemeinderat gewählt werden. Zählt eine Kleinstkommune
weniger als 70 Einwohner, regeln die Bürger ihre
Angelegenheiten im Rahmen einer Gemeindeversammlung selbst.
"Wir wollen gar nicht wachsen", bekennt ganz offen Helmut Kuhrt,
seit 1978 Bürgermeister von Friedrichsgraben im Kreis
Rendsburg-Eckernförde. Mit derzeit 68 Einwohnern zählt
Friedrichsgraben zu den Großen unter den Kleinsten der 1.126
selbstständigen politischen Gemeinden im nördlichsten
Bundesland. Die kleinste Kommune ist mit nur vier Einwohnern
Wiedenborstel im Kreis Steinburg. Offen spricht niemand
darüber. Doch tatsächlich setzen Kleinstgemeinden alles
daran, ihre Struktur zu erhalten und die 70-Einwohner-Grenze nicht
zu übersteigen. Notfalls, so ist zu hören, müssten
rechtzeitig zum Stichtag eben einige Bürger ins Nachbardorf
"umziehen".
Die Geschichte Friedrichsgrabens ist exemplarisch für viele
der Kleinstgemeinden im Norden. Um 1765 siedelte
Dänenkönig Friedrich westlich von Rendsburg einige aus
Hessen stammende Kolonisten an, um die Moorlandschaft am Fluss
Eider urbar zu machen. Zur politischen Gemeinde wurde das Dorf
jedoch erst nach der Eroberung Schleswig-Holsteins durch
Preußen 1866. Mit 143 Einwohnern richtig groß war
Friedrichsgraben 1946, als nach dem Zweiten Weltkrieg
hunderttausende Flüchtlinge im Lande Aufnahme fanden. 1948 kam
mit der Elektrizität zwar der Durchbruch in die Moderne. 1965
musste jedoch die Dorfschule schließen, womit der Ort seine
einzige kommunale Einrichtung verlor.
Heute umfasst Friedrichsgraben 538 Hektar vorwiegend
landwirtschaftlich genutzte Fläche, sechs Bauernhöfe, 19
Wohnhäuser und eine Gaststätte. Die 20 Kinder besuchen
Schulen und Kindergärten im acht Kilometer entfernten Hohn.
Dort erledigt auch die Verwaltung des Amtes Hohn die laufenden
Geschäfte der Gemeinde Friedrichsgraben. Alle Versuche einer
Zusammenlegung mit benachbarten Kommunen blieben bislang erfolglos.
Trotz finanzieller Anreize bewegte sich bei der großen
Gebietsreform von 1970 gar nichts. Und sogar der Versuch der Nazis,
Friedrichsgraben 1937 mit dem benachbarten Friedrichsholm zu
vereinigen, verlief im Sande. Akute Gefahren für die
Selbstständigkeit bestehen auch heute nicht. Im Kieler
Landeshaus versichern beide große Parteien, dass auch bei
einer möglichen Änderung der Verwaltungsstrukturen die
politischen Gemeinden erhalten bleiben.
Keine Schulden, keine Sorgen
Nicht ohne Stolz präsentiert Kuhrt den Haushalt
Friedrichsgrabens: "Wir haben keine finanziellen Sorgen und vor
allem keine Schulden." Rund 45.000 Euro umfasst der Jahresetat, der
mit einem Überschuss von 6.500 Euro abschließt.
Einzelposten sind neben den Beiträgen für die
Amtsverwaltung sowie den Schulverband die Kosten für den
Unterhalt der Straßen. Und wenn Bürgermeister Kuhrt
zweimal im Jahr die 46 stimmberechtigten Einwohner zur
Gemeindeversammlung in die Gaststätte "Hohner Fähre"
einlädt, gibt es statt Sitzungsgeld ein Essen mit einem
Getränk. Schwierig wird es nur, wenn die "Hohner Fähre"
wegen Betriebsferien geschlossen hat. Dann müssen die
Friedrichsgrabener ihren Haushaltsplan in Kuhrts guter Stube
verabschieden.
Der Autor ist Redakteur im Büro Landeshauptstadt des
Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlags.
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