"Die kommunale Selbstverwaltung verkommt mehr und
mehr zur reinen Leerformel"
Interview mit Stephan Articus, dem
Hauptgeschäftsführer des Deutschen
Städtetages
Das Parlament:
Welche Bedeutung haben die Kommunen für die
Bürger?
Stephan Articus: Mit den Kommunen kommen die
Bürgerinnen und Bürger alltäglich unmittelbar in
Berührung. Ob sie ins Theater gehen oder ins Schwimmbad, ob
sie mit Bus oder Straßenbahn unterwegs sind oder ob ihre
Kinder im Kindergarten betreut werden - all das sind zumeist
kommunale Angebote. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, welch
vielfältige Leistungen die Städte und Gemeinden
erbringen. Die Kommunen haben aber noch aus einem anderen Grund
eine Schlüsselfunktion für unser Gemeinwesen: Auf keiner
anderen politischen Ebene wird Demokratie für die Menschen so
unmittelbar erfahrbar, wie das in den Kommunen der Fall ist. Es
gilt im wahrsten Sinne des Wortes: Ohne Städte ist kein Staat
zu machen.
Das Parlament:
Wie hat sich die Situation der Kommunen in Deutschland in den
vergangenen zehn Jahren verändert?
Stephan Articus: Die entscheidendste Veränderung
ist, dass sich die Gestaltungsspielräume der Kommunen
erheblich verringert haben. Unter dem seit Anfang der 90er-Jahre
herrschenden massiven Konsolidierungsdruck haben die Städte in
Deutschland ihre Investitionen drastisch reduzieren müssen -
inzwischen um mehr als zwölf Milliarden Euro jährlich
gegenüber dem Jahr 1992 - und ihre freiwilligen Leistungen
zurückfahren müssen. Gleichzeitig haben Bund und
Länder den Städten immer mehr Aufgaben übertragen,
ohne für eine angemessene Finanzierung zu sorgen. Es steht zu
befürchten, dass die im Grundgesetz garantierte kommunale
Selbstverwaltung angesichts dieser Trends zu einer reinen
Leerformel verkommt.
Das Parlament:
Haben die Kommunen in den vergangenen zehn Jahren an politischer
Bedeutung verloren, oder woran liegt es, dass ihre Anliegen von
Bundes- und Landespolitikern oft geflissentlich ignoriert
wurden?
Stephan Articus: Ich glaube nicht, dass die Kommunen an
Bedeutung verloren haben, denn sie waren rein verfassungsrechtlich
betrachtet schon immer Teil der Länder und hatten somit keine
Möglichkeit, wie Bund und Länder an der Gesetzgebung
mitzuwirken. Das daraus folgende Grundproblem ist, dass sich Bund
und Länder oft zu Lasten der Kommunen einigen. Bei eigenen
Finanzproblemen ist die Versuchung dazu besonders groß. Die
Kommunen können sich dagegen aufgrund fehlender Rechte nicht
angemessen zur Wehr setzen, obwohl sie genauso durch demokratische
Wahlen legitimiert sind. Zur Lösung der kommunalen Finanzkrise
brauchen die Kommunen deshalb nicht nur eine Gemeindefinanzreform,
sondern es muss auch ihre strukturelle Benachteiligung
gegenüber Bund und Ländern aufgehoben werden.
Das Parlament:
Ist eines der Probleme, dass das Grundgesetz den Städten
und Gemeinden die Selbstverwaltung zwar zusichert, die Kommunen
diese jedoch nur in sehr geringem Maße mit eigenen
Steuermitteln ausstatten können?
Stephan Articus: Es ist in der Tat sehr problematisch,
wenn den Städten und Gemeinden die kommunale Selbstverwaltung
zwar im Grundgesetz garantiert wird, für die konkrete
Umsetzung dieser Garantie aber vielerorts die Finanzmittel fehlen.
Deshalb haben die Kommunen in den Beratungen über eine
Gemeindefinanzreform nicht nur eine Entlastung bei den Ausgaben
verlangt, sondern stets auch darauf hingewiesen, dass die
Steuereinnahmen der Städte und Gemeinden gestärkt und
verstetigt werden müssen. Um die strukturelle Finanzkrise der
Kommunen zu bekämpfen, sind aber auch verfassungsrechtliche
Korrekturen nötig. Im Grundgesetz sollte unserer Meinung nach
ausdrücklich festgestellt werden, dass zur Garantie der
kommunalen Selbstverwaltung auch die dazu erforderliche
Finanzausstattung gewährleistet werden muss.
Das Parlament:
Die Gewerbesteuereinnahmen der Kommunen sind im ersten Halbjahr
2004 wieder gestiegen. War dies eine Trendwende hin zu den
glorreichen Zeiten Ende der 90er-Jahre?
Stephan Articus: Der zum Teil kräftige Anstieg der
Gewerbesteuereinnahmen in vielen - keineswegs in allen -
Städten ist erfreulich, und wir hoffen natürlich, dass
dieser positive Trend anhält. Denn die Einbrüche der
Gewerbesteuer in den Jahren 2001 und 2002 haben die schon zuvor
vorhandenen kommunalen Finanzprobleme sehr verschärft. Die
jetzt erkennbaren Zuwächse der Gewerbesteuer brauchen die
Städte deshalb dringend, um ihren Aufgaben wieder besser
gerecht werden zu können. Die kommunalen Investitionen sind
jahrelang verfallen, die Sozialausgaben steigen und steigen, die
Kassenkredite haben eine nie da gewesene Rekordhöhe erreicht.
An diesen Fakten sehen Sie, dass wir aus einem tiefen Tal kommen
und jetzt erste Schritte wieder aufwärts gehen können.
Glorreiche Zeiten, in denen wir Gipfel stürmen können,
sind also noch längst nicht angebrochen.
Das Parlament:
Müssen die Kommunen stärker an der Gesetzgebung des
Bundes und der Länder beteiligt werden? Sollte es etwa eine
"Dritte Kammer" geben?
Stephan Articus: Eine verbindliche Beteiligung der
Kommunen an Gesetzgebungsverfahren des Bundes hält der
Deutsche Städtetag für zwingend notwendig. Es ist sehr
ärgerlich, dass die Föderalismus-Kommission dieses Thema
trotz mehrfacher Vorstöße der kommunalen
Spitzenverbände nicht aufgegriffen hat. Wir fordern, dass ins
Grundgesetz ein Anhörungsrecht der Kommunen aufgenommen wird.
Außerdem muss es eine systematische Abschätzung der
finanziellen Folgen von Gesetzen geben, damit den Kommunen nicht
immer wieder immense Kosten aufgeladen werden. In den Fällen,
in denen der Bundesgesetzgeber Kosten auf die Kommunen
überträgt, muss er die Kosten selber tragen. Eine "Dritte
Kammer" hat auf den ersten Blick sicher Charme. In einer Zeit, da
vor allem über die Entflechtung der Gesetzgebungskompetenzen
diskutiert wird, wäre es jedoch nicht zielführend, einen
genau in die entgegengesetzte Richtung weisenden Vorschlag zu
machen.
Das Parlament:
Welche Auswirkungen hat die gestiegene Bedeutung der EU in
Fragen der Gesetzgebung auf die Städte und Gemeinden und wie
reagieren die Kommunen darauf?
Stephan Articus: Wir gehen davon aus, dass rund 70
Prozent aller Entscheidungen auf der EU-Ebene einen kommunalen
Bezug haben. Sie greifen entweder direkt in lokale Aufgabenbereiche
ein oder sind im Rahmen der nationalen Umsetzung von EU-Recht von
den Kommunen anzuwenden. Spätestens mit der Einführung
des Europäischen Binnenmarktes im Jahre 1986 ist Europa auch
im Rathaus angekommen. Der europäische Rahmen erfordert von
der kommunalen Politik erhebliche Anpassungsprozesse, die zum Teil
durch kommunale Europabeauftragte und zum Teil durch ein
verstärktes Engagement der kommunalen Spitzenverbände und
anderer Netzwerke organisiert werden. Besonders wichtig ist, dass
bei aller notwendigen Integration die Belange der Kommunen nicht
übergangen werden. Vor diesem Hintergrund ist es sehr
erfreulich, dass der europäische Verfassungsvertrag die
kommunale Selbstverwaltung ausdrücklich erwähnt und die
Stärkung des Subsidiaritätsprinzips in der
Europäischen Union anerkennt.
Die Fragen stellte Bert Schulz
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