Georg Nienaber
Die Kommunen als Vorreiter für den Bund
Direkte Bürgerbeteiligung ist vertraute
Praxis in vielen Gemeinden
Es war eine Art politischer Vertrauensbeweis an
ein zusehends erwachsen gewordenes Volk: Willy Brandt formulierte
vor drei Jahrzehnten mit seinem Aufruf, Deutschland dürfe,
könne und müsse "mehr Demokratie wagen" ein Richtung
weisendes Polit-Postulat. Er traute den Bürgern mehr
Verantwortung und das Vermögen zu, über ihre
Angelegenheiten selbst entscheiden zu können. Gerade die
partizipativen Initiativen und mutigen Aktionen der Menschen in der
DDR haben diese Aufforderung später aufgenommen und die
Demokratisierungswünsche in Deutschland nach 1990
verstärkt - vermehrt in Richtung direkter Demokratie.
Nirgendwo haben die Menschen diese Forderung stärker umgesetzt
als auf der kommunalen Ebene.
Nirgends leben und erleben Bürger
politische Beteiligung intensiver als in ihren Gemeinden. Als
Vorreiterin gerade im Bereich der direkten Demokratie erweist sich
die lokale Ebene dabei einmal mehr als "Schule der Demokratie".
Auch wenn die repräsentative Demokratie - ebenfalls wie auf
Landes-, Bundes- und Europaebene - nach wie vor das vorherschende
System ist, hat die direkte Bürgerbeteiligung in vielen
Bereichen in der kommunalen Politik ihren etablierten Platz
gefunden. Für die Kommunen sind dabei in jüngster
Vergangenheit besonders zwei hervorstechende Neuerungen hin zu mehr
Demokratie zu unterstreichen: die Einführung von
Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden sowie die Direktwahl
des Bürgermeisters in nahezu allen Gemeindeordnungen. Die
Landesgesetzgeber haben damit verfassungsrechtlich eine starke
Beteiligungschance der Bürger an ihren Ortsangelegenheiten
festgeschrieben.
Mit den Bürgerbegehren haben die
Souveräne der Kommune die Gelegenheit, den gewählten
Räten eine konkrete Sachentscheidung aus der Hand zu nehmen
und verbindlich direktdemokratisch zu entscheiden. Dazu können
die Bürger beantragen - hier setzt das Begehren ein -, dass
sie an Stelle des Rates eine örtliche Angelegenheit
entscheiden können, also einen Bürgerentscheid
durchführen. Für das Begehren im ersten wie für den
Entscheid im zweiten Schritt sind bestimmte Quoren per
Unterschriftenlisten zu erreichen, um als erfolgreich gelten zu
können. Die konkreten Regelungen dazu sind in den
Bundesländern unterschiedlich gefasst. Gemein ist ihnen jedoch
allen, dass nur eine beachtliche organisatorische
Initiatorenbewegung zu entsprechenden Schritten führen
kann.
Die Gemeindebevölkerung muss die
Entscheidungen ihrer einmal gewählten Ratsvertreter nicht mehr
widerstandslos hinnehmen. Die Möglichkeit zur entscheidenden
Mitsprache bleibt während der gesamten Wahlperiode bestehen,
so dass die Gemeindebürger nicht nur alle paar Jahre in der
Wahlkabine ihre Souveränität entscheidend ausdrücken
können.
Das bleibt nicht ohne Folgen für die
gewählten Gemeindevertreter: Allein das "Drohpotential" eines
Bürgerbegehrens veranlasst viele Ratsmitglieder, sich in ihren
Entscheidungen näher am Bürgerwillen zu orientieren.
Damit ist neben der tatsächlichen Anwendung der
Beteiligungsinstrumente ein nicht unbedeutender Nebeneffekt
angesprochen, den die Statistiken über
Nutzungshäufigkeiten von Bürgerbegehren und
Bürgerentscheiden nicht erfassen können. Dennoch
können auch Zahlen den Demokratisierungsschub der Kommunen
dokumentieren: Rund 2.500 Bürgerbegehren und -entscheide vor
allem zu den Themengebieten der Verkehresfragen, Bauvorhaben und
öffentlicher Einrichtungen und Infrastruktur wurden bis 2002
durchgeführt. Dabei ist die Nutzungshäufigkeit in den
Bundesländern durchaus unterschiedlich. Beispiel Bayern:
Über 1.100 direktdemokratische Verfahren haben die Bürger
in den Freistaat-Gemeinden seit 1995 initiiert. In den übrigen
Bundesländern liegen die Zahlen weit darunter, zwischen 232 in
NRW über 165 in Sachsen bis hin zu 57 in Sachsen-Anhalt oder
78 in Rheinland-Pfalz. Als Vergleichsindikator kann daher vor allem
das Verhältnis von Begehren zu Einwohnerzahlen dienen. So
kommt in Bayern auf 64.000 Einwohner jährlich ein
Bürgerbegehren, während der Wert in
Baden-Württemberg bei knapp 800.000 Gemeindebürgern
liegt.
Bei der genaueren Analyse ist jedoch auch
festzustellen, dass es besonders partizipationsfreudige Gemeinden
gibt: Bislang 15 Bürgerbegehren allein in München,
zwölf in Nürnberg wie auch in Regensburg und immerhin
acht Verfahren in kleineren Städten wie Passau oder Neu-Ulm
sprechen für einen enormen Beteiligungswillen der heimischen
Bevölkerung. Allerdings hat die große Mehrheit der
Kommunen bislang noch gar keine Bürgerbegehren gesehen. Die
Anwendungshäufigkeiten weisen demnach regionale Unterschiede
auf, beweisen aber auch, dass die plebiszitären Elemente
durchaus politischen Einsatz finden. Grund für diese
Divergenzen ist unter anderem die unterschiedliche Ausgestaltung
der Bürgerbegehren. So sind zum Beispiel in der
Gemeindeordnung Niedersachsens mehr Themenbereiche für ein
Begehren ausgeschlossen als in Bayern. Und natürlich ist die
Frage der Quorumshöhe immer auch eine Frage der
Attraktivität des direktdemokratischen
Instrumentes.
Nach bisherigen Erfahrungen kann festgehalten
werden: Das Bürgerbegehren als partizipatives Instrument hat
sich bewährt. Ein befürchtetes Entscheidungschaos kann
bislang nicht festgestellt werden. Die Bürger nutzen in vielen
Fällen ihr direktdemokratisches Recht, auch wenn die
Beteiligung an den Abstimmungen häufig nur niedrig ist und
gerade die Gültigkeitshürden überwinden. Klar muss
dabei aber auch sein, dass der verstärkte Beteiligungswunsch
einhergeht mit strukturellen Veränderungen im Bewusstsein der
lokalen Parteien und damit auch des Gedankens der
repräsentativen Demokratie: In Teilen findet eine
Machtverschiebung statt. Ein Stück weit müssen die
Räte und damit die Parteien Einfluss abgeben. Damit wird
Lokalpolitik bürgernäher, aber - das ist der Preis - in
vielen Fällen auch unberechenbarer. Und: In manchen
Fällen erscheinen die Ankündigungen von
Bürgerbegehren auch als bloße Wahltaktiererei bestimmter
Fraktionen oder Bürgergruppen. Zudem beklagen sich einige
Kommunen auch über die Vertretung von reinen
Partikularinteressen im Rahmen eines Bürgerbegehrens - eine
Gefahr, die bei niedrigen Gültigkeitsquoren auch nicht ganz
auszuschließen ist.
Lokalpolitik wird auch durch die Direktwahl
der Bürgermeister bürgernäher und demokratischer.
Durch die besonders in den 90er-Jahren in fast allen
Bundesländern eingeführte Urwahl des Rathauschefs
büßt auch hier die repräsentative Demokratie an
Mitsprache ein. Sehr zentrale Personalentscheidungskompetenzen
gingen auf die Bürgerschaft direkt über. Die
Gemeindebevölkerung selbst wählt aus, wer die Geschicke
der Kommune leiten soll. Auch wenn die Vorentscheidungen über
die Kandidaten der Parteien in der Regel parteiintern getroffen
werden, fällt die letztendliche Entscheidung allein der
Bürger.
Letztlich kann - das sehen die meisten
Gemeindeordnungen vor - sich jeder um das Bürgermeisteramt
bewerben, auch als parteiunabhängiger Einzelbewerber. Da die
Amtsinhaber meist auch auf ihre Wiederwahl hoffen, verhalten sie
sich oft besonders bürgernah und beteiligungsfreundlich, wie
eine aktuelle Studie zur Direktwahl der Bürgermeister in NRW
gezeigt hat. Allein in diesen Rahmenbedingungen deutet sich schon
unmissverständlich ein Plus an lokaler Direktdemokratie an.
Ein Demokratisierungsgewinn, den die direkt gewählten
Bürgermeister selbst überdeutlich als Vorteil sehen:
Über 90 Prozent der 1999 in NRW erstmals urgewählten
Bürgermeister werteten die Direktwahl als positives
Partizipationsinstrument.
Allerdings birgt das Direktwahlsystem auch
Fallstricke, die das kommunale Regierungssystem behindern, wenn
nicht sogar lähmen können: Durch die getrennte Wahl der
Ratsmitglieder und des Bürgermeisters ist es gar nicht selten
zu regelrechten Cohabitations-Systemen gekommen: Ein
Bürgermeister der A-Partei steht einem von der B-Partei
dominierten Rat gegenüber. In manchen Gemeinden hat dieses
Blockadeverhältnis zu massiven Behinderungen der
Gemeindeorgane geführt. Demokratie ja - aber in diesen
Fällen kann das auch die Gefahr des tendenziellen Abschieds
von der lokalen Effizienz bedeuten.
Die Einführung der Direktwahl war
beseelt vom Wunsch, die Menschen näher an die Kommunalpolitik
zu führen. Allerdings sagt die Statistik, dass die Urwahl
keine besondere Wahlmotivation zu sein scheint: In NRW etwa lag die
Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen 1999 mit der ersten
Bürgermeister-Direktwahl unter der vorherigen. Dieser
Abwärtstrend muss seit längerem beobachtet werden und hat
sich bei den jüngsten Kommunalwahlen weiter
verstärkt.
Neben den beiden hier beleuchteten, zentralen
Beteiligungsinstrumenten haben auf der kommunalen Ebene auch viele
weitere Einbindungsmöglichkeiten der Bürgerschaft ihr
Zuhause: Vom Bürgerhaushalt über Bürgerinitiativen
bis hin zu Planungszellen oder Runden Tischen reicht die
Partizipationspalette. Die Bürgermeister der genannten
Befragung maßen diesen Instrumenten auch hohe Bedeutung bei -
und wollen sie teils sogar weiter ausbauen.
Bürgerbegehren, Bürgerentscheide
und die Direktwahl der Bürgermeister als aktuelle und zentrale
Beteiligungsinstrumente ermöglichen ohne Frage ein Mehr an
lokaler Mitsprache der Bürger, auch wenn die Beteiligungen an
den partizipativen Abstimmungen bisher manchmal noch zu
wünschen übrig lassen. Die Partizipationsorientierung in
der Kommune hat sich bewährt und kann Vorbildfunktion für
die übrigen politischen Ebenen haben. Insgesamt darf
festgehalten werden, dass Willy Brandt den Bürgern nicht zu
viel zugetraut hat: Man kann, man sollte und man wird den Menschen
mehr Mitsprache in ihren eigenen Angelegenheiten einräumen und
darf also getrost "mehr Demokratie wagen".
Dr. Georg Nienaber ist Lehrbeauftragter am
Institut für Politikwissenschaft der Uni Münster und
Persönlicher Referent des Oberbürgermeisters von
Eisenach.
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