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Christian Buckard
Sich selbst im anderen erkennen
Junge Israeli und Palästinenser an einem
Tisch
Nach der Unterzeichnung des Osloer Abkommens im Herbst 1993
schien ein Friede zwischen Israelis und Palästinensern
erstmals keine Utopie mehr zu sein. Eine der vielen ermutigenden
Folgen des Abkommens war eine Einladung des Muftis von Kairo zu
einer internationalen Konferenz über "religiöse Toleranz"
im darauffolgenden Jahr. Zu dieser Konferenz wurde auch der
israelische Sozialpsychologe Dan Bar-On mit zwei weiteren Kollegen
eingeladen. Bar-On, Professor an der Ben-Gurion-Universität in
Beersheva, lernte am Rande dieser ungewöhnlichen Konferenz
seinen palästinensischen Kollegen Elia Awwad kennen.
Die beiden Psychologen beschlossen ein gemeinsames Projekt: Sie
interviewten israelische und palästinensische junge
Männer, die sich in den Jahren der ersten Intifada (1987 -
1993) als Feinde gegenübergestanden hatten. Das Ergebnis
dieser Untersuchung vermittelte ihnen den Eindruck, dass unter den
zornigen jungen Männern beider Völker Zweifel und
Misstrauen gegenüber den Absichten der anderen Seite
herrschten. Schon damals hätten die beiden Psychologen
eigentlich erkennen können, wie fragwürdig der von oben
verordnete Friede war. Doch erst als Arafat die israelischen
Friedensvorschläge in Camp David zurückwies und danach
die zweite Intifada ausbrach, mussten Bar-On und Awwad feststellen,
dass sie die Zeichen an der Wand ignoriert hatten.
Ferne Utopie?
Wer erfahren möchte, welche psychologischen Faktoren einen
dauerhaften Frieden zwischen Israelis und Palästinensern als
ferne Utopie erscheinen lassen, der lese dieses Buch. Bar-On, als
Kind deutsch-jüdischer Eltern 1938 in Haifa geboren,
durchlebte als Zehnjähriger den israelischen
Unabhängigkeitskrieg. Aus dem Sechs-Tage- und dem Yom
Kippur-Krieg kehrte er zwar nicht körperlich, doch seelisch
schwer verwundet zurück. 25 Jahre lebte er in einem Kibbuz und
war der Chef-Psychologe der Armee im südlichen
Kommandoabschnitt. Er arbeitete als Familien-Therapeut, behandelte
Holocaust-Überlebende und traumatisierte Soldaten und
interviewte als erster israelischer Forscher Kinder von
Nazi-Verbrechern.
Nachdem Bar-On Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und
Nazi-Tätern an einen Tisch gebracht und so die Methode des
gegenseitigen "storytelling" entwickelt hatte, wandte er sich im
Jahr 2000 der Dialogarbeit mit Israelis und Palästinensern zu.
Seine Grundidee ist so einfach, wie ihre Durchführung
schwierig ist: Der Sozialpsychologe setzt sich mit Israelis und
Palästinensern zusammen und ermutigt sie, einander ihre
Lebensgeschichten zu erzählen.
Der Mensch besitzt jedoch - wie David Grossman es formuliert -
"eine große Angst, der Geschichte des Anderen zuzuhören".
Das trifft vor allem auf die palästinensischen Araber zu: Denn
während man auf der israelischen Seite zunehmend bereit ist,
die Leiden der anderen Seite anzuerkennen, scheinen die
Palästinenser immer noch eine große Angst davor zu haben,
die israelische Seite der Geschichte zu hören. Mehr noch:
Palästinensische Teilnehmer dieser Treffen neigen mitunter
dazu, den Holocaust zu leugnen oder das Vorgehen der israelischen
Armee mit der Vernichtungspolitik der Nazis gleichzusetzen.
Ursachenforschung
Bar-On ließ sich davon aber nicht entmutigen, sondern
versuchte vielmehr zu begreifen, wo diese totale Negierung des
"Anderen" und seiner Geschichte herrührt. Er vermutet, dass
sich die Palästinenser noch immer sehr stark über die
Ablehnung des "Anderen" definieren. Sie haben Angst davor, sich in
die Lage der Israelis zu versetzen, die eigene Geschichte
differenziert zu betrachten. Für Bar-On ist der erste Schritt
zu einer Verständigung jedoch erst dann getan, wenn man bereit
ist, die Geschichte des Anderen zur Kenntnis zu nehmen. Und dies
selbst dann, wenn die dabei getroffenen Aussagen falsch und
verletzend sind.
All jene, die mit dem Treffen zwischen Machmoud Abbas und Ariel
Sharon den israelisch-arabischen Frieden schon in greifbare
Nähe rücken sehen, sollten Bar-Ons Buch lesen. Es zeigt
auf, wie breit die Kluft zwischen beiden Völkern ist und
schützt vor trügerischen Hoffnungen. Gleichzeitig
schildert Bar-On seinen Versuch, Brücken zu schlagen. Es ist
diese Mischung zwischen nüchterner Einsicht in die
Realität und trotziger Zuversicht , die Bar-Ons Buch zu einem
außergewöhnlichen Werk machen.
Dan Bar-On
Erzähl dein Leben! Meine Wege zur Dialogarbeit und
politischen Verständigung.
edition Körber-Stiftung, Hamburg 2004; 268 S., 14,-
Euro
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