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Irene Runge
"Nächstes Jahr in Jerusalem" - Nachdenken
über das besondere Land
DDR und Israel: Ein Nichtverhältnis mit
persönlichen Folgen
Im Rückblick verzerren sich auch die
eigenen Bilder schneller als gedacht. Wie war das damals in der
DDR? Wieso hat Israel für mich fast keine Rolle gespielt? Es
bieten sich Legenden an. Ich könnte mir ausdenken, schon immer
mit freudiger Sehnsucht Anteil am Auf und Ab der jüdischen
Staatsbildung genommen zu haben. Aber so war es nicht. Alle, die
ich heute danach frage, müssen wie ich nachdenken, bevor sie
sich an Kleinigkeiten erinnern.
Gegenseitig haben wir uns auf einige
Unterbrechungen in der langen Reihe von Verschweigungen aufmerksam
gemacht. Da war der Sechs-Tage-Krieg. Im "Neuen Deutschland" hatten
sich prominente Genossen als Juden zu Wort gemeldet. Ach, die auch,
und der ... ? Ich weiß, wie zufrieden mich dieses
merkwürdige Coming-Out stimmte, das seinerzeit nicht nur
für mich völlig unerwartet kam. Politisch angepasster
waren da die Bemerkungen über Israel, den Aggressor. Auf dem
Gang der Rundfunkbaracke rief mir einmal ein Kollege zu, ich
hätte den Protest nicht unterschrieben. Ich war zwar, was die
politische Lage anging, gerade nicht auf dem Laufenden, schrie aber
zurück, das würde ich auch nicht tun. Etwas später
kam ein Chef des Wegs und entschuldigte sich. Von dieser
vaterländischen Pflicht sei ich befreit. Eigentlich wollte ich
provozieren, das Gegenteil trat ein. Warum? Israel war doch kein
Thema. Mein Judentum erst recht nicht.
Ich gehörte zu den Emigrantenkindern.
Unsere Eltern schienen mir massenhaft in Medien und Politik
vertreten. Ernsthaft über Israel haben wir dennoch kaum
gesprochen. Natürlich wurden altbekannte jüdische Witze
weitergegeben, geschönte und hässliche Erinnerungen,
antideutsche Sentiments. Aber das waren keine Informationen, nicht
mehr als private und immer wieder kolportierte Anekdoten. Aus
Israel kamen in Dresden bei einem Freund, der wiederum bei einer
ehemaligen Spanienkämpferin und Mexikoemigrantin an Kindes
statt lebte, Pakete mit klebrigen Plastikcontainern an. Der Inhalt
wurde solange mit Knoblauch, Wasser und Zitrone vermischt, bis ein
wohlschmeckender Brei entstand. "Trina!", sagte dazu stolz die ihn
besuchende israelische Schwester des in Dresden lebenden Israelis
mit DDR-Pass. Jüdischer erschien mir allerdings gehackte
Leber.
Etwas mehr Israelkunde gab es für mich,
als ich ab Anfang der 70er-Jahre zu den sonntäglichen
Kulturveranstaltungen der Ostberliner Jüdischen Gemeinde ging.
Manchmal kamen israelische Referenten über die Grenze aus
Westberlin, hin und wieder plauderten Gemeindemitglieder und andere
über ihre Reisen ins besondere Land. In den Anfangsjahren
meines jüdischen Revivals, auf jeden Fall zu Pessach, saß
ich neben der Schriftstellerin Berta Waterstradt, die im Berliner
Widerstand überlebt hatte. Das Fest näherte sich mit dem
alten traditionellen Hoffnungsspruch "Nächstes Jahr in
Jerusalem" seinem Ende, als sie lauthals verkündete: "Ich
fahre schon im Mai. Zu meiner Schwester". Dennoch war das irdische
Israel auch in der Jüdischen Gemeinde kein Dauerthema. Es
soll, sagte mir jemand vor einigen Wochen, eine Art
Gentleman-Agreement gegeben haben, weshalb die Vorsitzenden der
jüdischen Gemeinden es vermieden, sich öffentlich allzu
scharf zur DDR-Nahostpolemik zu äußern. Seit den
70er-Jahren, da war ich schon ein aktives Mitglied, achtete jedoch
nicht nur der Berliner Gemeindevorstand bereits misstrauisch auf
feindselige öffentliche Töne in Richtung Israel. Wir
protestierten das eine ums andere Mal und nicht nur, wenn der
verbohrte Antizionismus seine antijüdischen Ressentiments
erkennen ließ. Klärende Aussprachen mit Redakteuren und
politischen Funktionsträgern folgten, dann kam wieder ein
neues Politikum, was unsere Empörung aufs Neue anheizte. Aus
Sicht der Macht (einige Machthabende hatten in den gleichen
Gefängnissen und Lagern gelitten, manche auch als Juden) waren
das reine Zufälle und Missgriffe.
Heute weiß ich, wie den Älteren der
politische Antijudaismus der frühen 50er-Jahre in den Knochen
steckte. Nein, über die 50er-Jahre und die Prozesse gegen
Juden haben wir auch nicht gesprochen. Ihre Fragelust muss den
Wissenderen im Halse steckengeblieben sein. So, wie keine Namen
fielen. War Paul Merker Genosse oder zionistischer Verräter?
Zwar war er kein Jude, aber dennoch seit Mexiko politischer
Vordenker für jüdische Rechte. Wusste ich das schon
damals? Er war schließlich der Exil-Freund von Freunden der
Eltern. Sie werden darüber geredet haben, wenn ich nicht im
Zimmer war. Die L.'s aber, die waren voller Zuversicht aus dem
Exilland USA nach Prag gegangen und wurden (er war US-Bürger,
sie deutsche Jüdin) als vermutete Zionisten in die Fabrik
gezwungen. Da flohen sie in die DDR, bezogen ein kleines Haus und
setzten ihre journalistische Arbeit fort.
Berta Waterstradt las in der Gemeinde ihre
Geschichten vom israelischen Alltag. Das Heilige Land hatte also
profane Seiten. Ein eingeschmuggelter Ephraim-Kischon-Band machte
die Runde. In Berlin konnte man viel mehr erfahren, auch wenn im
Westfernsehen Israel und Juden kaum präsent waren. Das muss
den DDR-Ideologen entgegen gekommen sein. Dass mich keine Angst vor
Israels Vernichtung umtrieb, kann ich mir heute nur aus meinem
politischen Scheinoptimismus erklären. Die nationalen
Befreiungsbewegungen waren neben sozialistischem Lager,
kommunistischen wie anderen fortschrittlichen Bewegungen in der
kapitalistischen Welt zum Bestandteil einer ideologischen
Dreifaltigkeit avanciert. Alle Ströme flossen in Richtung
Zukunft. Israel galt wie Westberlin als amerikanische Speerspitze
im Fleisch des Guten. Nach sowjetischem Vorbild wurde arabischer
Nationalismus als nachkoloniales Erbe umgedeutet.
1986 veranstaltete der Jüdische
Weltkongress die Konferenz zu seinem 50. Jahrestag in Jerusalem.
Die außenpolitischen Sterne standen gut. Erstmals sollte auch
eine dreiköpfige DDR-Delegation des jüdischen
DDR-Dachverbands nach Israel reisen. Damals dauerten
Visa-Formalitäten wegen der staatlichen Nichtbeziehungen
Monate, noch dazu wurden DDR-Anträge um der deutsch-deutschen
Unverträglichkeiten willen in Wien bearbeitet. Als
DDR-USA-Doppelstaatsbürgerin brauchte ich kein Visum und wurde
kurzfristig zum Ersatz für jemand anderen mitgenommen. "Hier
ist's ja wie in Bulgarien", murmelte Delegationsmitglied Dr. K, als
wir den Flugplatz verließen und in rasendem Tempo gen
Jerusalem gefahren wurden. Ich hatte Israel im Westen vermutet.
Angekommen waren wir im Orient. Bertas Schwester reagierte
empört, weil ich das schmale Warenangebot in der Ben Jehuda
Straße enttäuschend fand. Ich wollte mehr und anderes
sehen, hören, riechen, schmecken. Die Intifada war noch nicht
ausgebrochen. Juden hießen Israelis. Aus historischer Pflicht
sei unsere Zukunft hier, sagten die einen. Andere debattierten mit
mir, ob eine Berliner Mauer das Land stabilisieren würde. Der
Kongress gab Solidaritätserklärungen ab, man berichtete
aus jüdischen Regionen der Welt und hörte sich kaum zu.
Zurück in Berlin schrieb ich einen glühend romantischen
Artikel, den der Chef vom "Sonntag", ehemals jüdischer
England-Emigrant, ablehnte, während die "Weltbühne" ihn
druckte, wofür deren Chef einen politischen Rüffel
erhielt und ich Berge begeisterter Leserbriefe. Im jüdischen
Staat war es wie überall: arme, reiche, kluge und dumme, sogar
reaktionäre Juden gab es, und die gespaltene Kommunistische
Partei, worüber die dort und wir hier auch nicht gesprochen
haben. Jetzt wollte ich Hebräisch lernen und Israel verstehen.
Beides blieb im Ansatz stecken. Ich las Herzl - die Jüdische
Gemeinde führte bereits ihre eigene öffentliche
Bibliothek. Israel hatte ein Gesicht und einen Körper
bekommen. Mir erschien nun nicht mehr ganz so glaubwürdig,
dass die DDR aus Rück-sicht auf den äußeren Handel
mit Israels Feinden zu kooperieren habe, gleichzeitig aber dem
jüdischen Leben Respekt zolle, und es auf die
Palästinenser-Frage nur die enge parteiliche Antwort geben
sollte. Manipulation ist nur solange erfolgreich, wie sie nicht
bemerkt wird.
Dass weder Deutschland-Ost noch Deutschland-
West den Massenmord und Israel zusammendenken wollten, wäre
die richtige Erkenntnis gewesen. Wieso die systematische Verkennung
deutscher Geschichte eine blinde Polit-Projektion auf Israel
begünstigte, ist mir heute offenkundig. Mitten in Berlin,
umgeben von Reisekadern und Emigranten, hätte ich erheblich
früher manches über Israel wissen können, doch mein
Pionier- und späteres FDJ-Herz schlug für die nationalen
Befreiungsbewegungen, für Algerien und Kuba, bangte um
Schwarzafrika. Vietnam kämpfte. Viele Genossen Juden
solidarisierten sich mit den Palästinensern. Auch mein
politischer Sachverstand war ideologisch vereinseitigt, und Israel
passte nicht in das Weltbild. Dabei hatten meine Eltern 1937 im
Mandatsgebiet Palästina geheiratet, meine Großmutter
Klagebriefe über die dortigen Lebensumstände zu uns nach
New York geschrieben. Doch die familiäre Palästinazeit
wurde in der DDR zum Geheimnis. Wirkten das neue Israel und das
alte Judentum politisch und psychologisch wie eine Bedrohung? Um
1958 waren meine französischen Cousinen nach Israel
ausgewandert. Sie hatten ihre Vornamen hebräisiert, ein Jahr
später waren sie wieder zu Hause. Zufällig erfuhr ich
davon, grün vor Neid. Ich pubertierte heftig und wollte ins
Proletariat aufsteigen. Israel konnte mir gestohlen
bleiben.
Im Sommer des letzten Lebensjahres der DDR
war ich sechs Wochen in Jerusalem, um über Stadt und Leute zu
schreiben. Neue Zeiten deuteten sich an, ein Buch musste her. Der
DDR-Verlag hatte keine Devisen, es gab jüdische Freunde von
jüdischen Freunden, die im jüdischen Jerusalem Sofas
hatten. Ich streifte durch die nicht mehr geteilte Stadt, machte
immer neue jüdische Bekanntschaften, sog Witze und
sarkastische Bemerkungen auf, wurde vor Palästinensern und
Ostjerusalem gewarnt. Man fragte nach einem möglichen Ende der
DDR. Nein, das war lachhaft. Nein, ich glaubte an kein
einheitliches Deutschland. Aber, antwortete ich vergnügt auf
einer improvisierten Pressekonferenz, ist die DDR weg, komme ich
her. Später hat man mich an diese Bemerkung
erinnert.
Am Ende der DDR war mir Jerusalem ans Herz
gewachsen. Ich liebte die strengen Frommen, die jüdischen
Altdeutschen ohne, die früheren New Yorker mit ihrer eigener
Art von Religion. Ich gefiel mir unter der brütenden Sonne, in
übervollen Bussen, in Wohnungen, deren Möbel einst in
Frankfurt oder Breslau gestanden hatten. Es war wie ein Wunder, von
jüdischen Verkäuferinnen schnippisch behandelt, von
jüdischen Taxifahrern unfreundlich aufgelesen, von
jüdischen Bettlern verzweifelt angesehen zu werden. Ich
verteidigte mein Recht auf meinen Traum von einer nazifrei zu
verbessernden DDR.
Im Nachhinein ist mir klar, dass ich 40 Jahre
lang an Deutschland nicht gedacht und die Vision Israel nicht
gesucht habe. In Wirklichkeit ist Israel kein Märchen aus dem
Morgenland und die DDR vor dem Abendleuchten untergegangen. Wer
hätte das gedacht?
Irene Runge ist Vorsitzende des
jüdischen Kulturvereins in Berlin.
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