|
|
Thomas R. Henschel
"Wir waren auf so etwas in keiner Weise
vorbereitet"
Hans-Jochen Vogel erinnert sich an den
Terrorangriff auf israelische Olympioniken 1972 in
München
Es sollten heitere Spiele werden. Hans-Jochen Vogel schaut
nachdenklich und nimmt seine Brille ab, bevor er ansetzt. "Sie
müssen das verstehen: es ist keine
Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis intensiver
Zusammenarbeit gewesen, die die Vergabe der Spiele für 1972
nach München ermöglichte." Vogel, 1960 mit 34 Jahren in
München zum jüngsten Oberbürgermeister einer
deutschen Millionenstadt gewählt, hatte in dieser Funktion
maßgeblichen Anteil daran. Jetzt, 33 Jahre nach dem
Terrorangriff auf die israelische Mannschaft, sitzen wir, drei
Generationen, zusammen in einem Raum und erinnern uns. Hans-Jochen
Vogel, der als Akteur die dramatischen Tage miterlebte, der
Interviewer, der als Kind gebannt vor dem Schwarz-Weiß
Fernseher die Bilder in sich aufnahm, und die Kollegin, die damals
noch gar nicht geboren war und für die diese Ereignisse zur
Geschichte gehören, wie das Attentat auf den
österreichisch-ungarischen Thronfolger.
Die Spiele selbst erlebte Hans-Jochen Vogel nicht mehr als
Oberbürgermeister, sondern als Vizepräsident des
Organisationskomitees. Erstmals war in München auch die DDR
mit ihren Emblemen, also Fahne, Hymne und Wappen vertreten und
demonstrierte damit die neue deutsche Ostpolitik unter Willy
Brandt. Vielleicht waren diese Spiele die letzten, die ohne den
dominierenden Einfluss der Massenmedien und sonstiger kommerzieller
Erwägungen durchgeführt werden konnten. Es war, wie sich
Vogel erinnert "beeindruckende, farbige und mannigfaltige Spiele,
ohne Superlative oder auch nur einen Anflug von Gigantismus, aber
voll herzlicher Lebensfreude und guter Kameradschaft unter den
Teilnehmern."
Dann kam der 5. September 1972. Kurz nach 4:30 Uhr hörte
der Münchner Fernsehreporter Dagobert Lindlau einen Schuss.
Ein Terrorkommando, das sich "Schwarzer September" nannte, hatte
die Unterkunft der israelischen Mannschaft gestürmt und die
Sportler als Geiseln genommen. Bei dem Überfall wurde der
israelische Ringertrainer Moshe Weinberg erschossen. Die
Geiselnehmer forderten die Freilassung von mindestens 200 in Israel
inhaftierten Landsleuten. Für die Vertreter der deutschen
Bundesregierung, unter Leitung des damaligen Bundesinnenministers
Hans-Dietrich Genscher, begannen lange, schwere Stunden der
Verhandlungen mit den Geiselnehmern.
Wenn sich Hans-Jochen Vogel an diesen Tag erinnert, so ist das
erste Bild das von dem "Geiselnehmer mit der schwarzen Maske, wie
er da auf dem Balkon stand und die Verhandlungen führte".
"Genscher selbst", so Vogel, "ist sogar in der Wohnung der
Mannschaft gewesen und hat das Blut und die Toten dort gesehen. Das
ist mir erspart geblieben."
Die Verhandlungen zogen sich hin. Israel weigerte sich
standhaft, auf die Forderungen der Terroristen einzugehen, doch die
Terroristen, die an ihrer brutalen Entschlossenheit keine Zweifel
ließen, stellten neue Forderungen, diesmal direkt an die
Bundesregierung. Nunmehr verlangten sie, dass sie und die Geiseln
ausgeflogen und ihnen drei Flugzeuge zur Verfügung gestellt
werden sollten. Den Deutschen gelang es, die Terroristen davon zu
überzeugen, dass nur ein Flugzeug zur Verfügung gestellt
werden könne. Sie flogen Geiselnehmer und Geiseln nach
Fürstenfeldbruck. Dort sollten, so der geheime Plan der
Sicherheitskräfte, die Geiselnehmer überwältigt,
verhaftet und die Geiseln befreit werden. Tatsächlich lautete
auch eine erste Meldung alle Geiseln seien "sicher und
befreit".
Golda Meir, die damalige Ministerpräsidentin Israels, so
Hans-Jochen Vogel, ging am Abend des 5. Septembers mit dieser
Nachricht "alles sei in Ordnung" schlafen. Willy Brandt weigerte
sich, vor die internationale Presse zu treten, bis ihn nicht der
Bundesinnenminister persönlich über den Ausgang des
Befreiungsversuchs informiert habe. "Als dieser sich", so Vogel,
"nach geraumer Zeit aus Fürstenfeldbruck meldete, musste er
das genaue Gegenteil, nämlich den Tod aller Geiseln
berichten". Es hat, so Vogel heute im Rückblick, "immer wieder
Stimmen gegeben, die fragten, ob die Sicherheitsvorkehrungen
ausreichend gewesen seien. Sie waren aber mit allen Beteiligten,
auch den Israelis, abgestimmt gewesen." Und, das dürfe man in
der heutigen Wertung nicht vergessen, "es war die erste
Herausforderung dieser Art. Wir waren ja", so Vogel weiter, "in
keiner Weise auf so etwas vorbereitet gewesen." Die Konzipierung
und Schaffung der GSG 9, die dann später bei der erfolgreichen
Befreiung der Geiseln aus der Lufthansa Maschine "Landshut" in
Mogadischu zum Einsatz kam, war, so Vogel, "eine der Konsequenzen
aus dem gescheiterten Befreiungsversuch von
Fürstenfeldbruck."
Per Telefonrundruf wurde Hans-Jochen Vogel gebeten, die
schwierige Mission zu übernehmen, die Särge nach Tel Aviv
zu begleiten. Für ihn gehören diese Reise und die
Trauerfeier auf dem Flughafen in Tel Aviv auch 33 Jahre danach zu
den bewegendsten Erfahrungen seines politischen Lebens. "Wir
landeten am späten Nachmittag in Tel Aviv. Die Särge der
toten Sportler waren ja mit auf der Maschine und - so meine ich
mich zu erinnern - auch zwei oder drei Angehörige. Nach der
Landung musste die Trauerfeier direkt am Flughafen stattfinden, da
nach jüdischem Ritus, der 7. September war ein Freitag, die
Toten noch vor Beginn des Shabbats beerdigt sein und einige von
ihnen noch weit in den Norden gebracht werden mussten. Die Rede des
Rabbis und das Blasen des jüdischen Shofars klingen Vogel bis
heute noch in den Ohren. Auch die Rede Yigal Allons, der Golda Meir
vertrat, ist mir unvergessen, vor allem, weil er die sehr
würdige Rede Gustav Heinemanns von der Trauerfeier in
München am Vortage zitierte. Für mich war es
erschütternd, in Tel Aviv an den Särgen von
jüdischen Menschen zu stehen, die in Deutschland ermordet
worden waren. Und doch war es ein wesentlicher Unterschied: im
Dritten Reich waren Juden systematisch verfolgt und ermordet
worden, mit dem Ziel der völligen Ausrottung. Jetzt waren sie
von einem palästinensischen Terrorkommando als Folge des
Nahostkonfliktes ermordet worden. Diese Tat hätte überall
auf der Welt stattfinden können, und doch ausgerechnet
München…!"
Im Rückblick findet Vogel es bemerkenswert, dass von
israelischer Seite nie ein Vorwurf gekommen oder auch nur eine
Äußerung gefallen sei, die einen wie auch immer gearteten
Zusammenhang zwischen diesem Terroranschlag und der deutschen
Geschichte hergestellt habe. "Es hat auch glücklicherweise
keine politisch negativen Auswirkungen auf das deutsch-israelische
Verhältnis gegeben." Willy Brandt selbst rief am Morgen des 6.
Septembers bei Golda Meir an, um sie persönlich über den
tragischen Ausgang der missglückten Geiselbefreiung zu
informieren und seine Anteilnahme auszudrücken. "Es war
für Deutschland ein wirklich einschneidendes Ereignis."
Hans-Jochen Vogel fragt, wie die heutige Generation über
dieses Ereignis denkt, und erfährt, dass die nach 1972
Geborenen, für die dies bereits Geschichte ist, darüber
nichts in der Schule erfahren. Nur aufgrund privaten Interesses
weiß man etwas darüber. "Das", so Vogel nachdenklich,
"muss man mit bedenken."
Der ehemalige Oberbürgermeister steht auf, geht zum Fenster
und schaut in den grauen Himmel. "Was mich vor allem auch sehr
beeindruckt hat war die Reaktion des IOC-Präsidenten Brundage,
der ausgerufen hat: the Games must go on!" Vogel fährt fort:
"Ich war mir zunächst unsicher, ob er Recht hatte, aber schon
eine halbe Stunde später war mir klar, wären die Spiele
abgebrochen worden, hätten wir die Entscheidung über die
Durchführung solcher Weltereignisse in die Hand der
Terroristen gelegt. Brundage hatte mit seiner Entscheidung
Recht."
Vogel schaut wieder aus dem Fenster. "40 Jahre diplomatische
Beziehungen mit Israel. Ich sehe noch Bundeskanzler Ludwig Erhard
vor mir. Zufällig saß ich in einiger Entfernung von ihm
in einem Nebenraum des Hotels Regina, wo wir mit anderen auf den
Beginn einer Veranstaltung der Internationalen Handwerksmesse
warteten. Offenbar hatte er gerade erfahren, dass die arabischen
Länder wegen der Anerkennung Israels die diplomatischen
Beziehungen zur Bundesrepublik abbrechen wollten. Das
bedrückte ihn; aber er hielt an seinem Entschluss fest."
Auch heute engagiert sich Hans-Jochen Vogel politisch. In der
von ihm gegründeten Stiftung "Gegen Vergessen für
Demokratie" werden vielfältige Initiativen zur Bekämpfung
von Rassismus und Antisemitismus gefördert. Politisch hat dies
nichts mit München 1972 zu tun, sagt er, aber "wenn Sie mich
als Person fragen, dann spielt die Erinnerung an diese dramatischen
Tage immer mit."
Thomas R. Henschel ist Direktor der European School of
Governance und hat einen Lehrauftrag an der Hebrew University
Jerusalem.
Zurück zur
Übersicht
|