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Barbara Bollwahn
"Deutsch ist notwendig, aber nicht alles"
Seit 1991 kommen Juden aus Russland nach
Deutschland
Jedes Mal, wenn Ludmilla Pogrebinska ihre
Wohnung betritt oder verlässt, steht sie mir ihren
Füßen auf einer deutschen Vokabel. "Willkommen",
heißt es auf dem Fußabtreter vor ihrer Tür in
Berlin-Wedding. Viele andere Begriffe muss die 66-Jährige
mühsam lernen. Als sie mit herzlicher Freundlichkeit die
Tür öffnet, bittet sie, den Mantel abzulegen. "Anziehen",
sagt sie, als sie die Arme ausbreitet, um die Garderobe in Empfang
zu nehmen.
Die alleinstehende Rentnerin kam 2003 von
Kiew nach Deutschland. Ihre Mutter war Jüdin, und der Nachweis
darüber reichte, um als so genannter
"Kontingentflüchtling" einzuwandern. So haben es 1991 Bund und
Länder beschlossen, um die jüdischen Gemeinden zu
stärken, die nach dem Massenmord an sechs Millionen
europäischen Juden damals nur rund 30.000 Mitglieder in
Deutschland hatten. Nun soll der Zuzug an Bedingungen wie
Sprachkenntnisse und Berufsaussichten geknüpft werden - ein
umstrittenes Vorhaben.
Ludmilla Pogrebinska besucht freiwillig
zweimal in der Woche Deutschkurse der Jüdischen Gemeinde. Doch
wirklich verständlich machen kann sie sich nur in ihrer
Muttersprache. Deshalb übersetzt Igor Singer von der
Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde das Gespräch. "Ihr
fehlt die Praxis, deshalb geniert sie sich", sagt er.
Die ehemalige Ergotherapeutin hat sich in
ihrem neuen Leben eingerichtet. Zwischen Gläsern mit Goldrand,
russischer Belletristik in der Schrankwand, Satellitenfernsehen
für den Empfang russischer Sender - und ihren
Deutschbüchern. Sie leidet darunter, sich nicht so
verständlich machen zu können, wie sie möchte. Sie
vermisst die Wochenendausflüge, die Fahrradtouren, die
Spaziergänge, die sie in Kiew mit Freunden und Bekannten
gemacht hat. Aber sie sagt, dass sie trotzdem "sehr glücklich"
sei. Im Vergleich zu ihrer Rente in Russland, die manchmal nicht
für das tägliche Brot reichte, hat sie mit der
Sozialhilfe ein Auskommen. "Jeder Anfang ist schwer", zitiert sie
in Deutsch ein deutsches Sprichwort.
Nach Angaben des Bundesinnenministeriums
kamen seit 1991 etwa 190.000 jüdische
"Kontingentflüchtlinge" nach Deutschland, von denen etwa
83.000 den jüdischen Gemeinden beigetreten sind. Mit dem zu
Jahresbeginn in Kraft getretenen Zuwanderungsgesetz hat das
Kontingentflüchtlingsgesetz seine Gültigkeit verloren.
Seitdem wird nach einer Neuregelung gesucht. Zuständig ist die
Innenministerkonferenz (IMK). Im Dezember 2004 beschloss die IMK,
die Aufnahme vom Beherrschen der deutschen Sprache und der
Aussicht, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen,
abhängig zu machen. Anfang des Jahres beschäftigte sich
der Innenausschuss des Bundestages mit dem Thema. Die
Ausschussvorsitzende Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD) plädierte
dafür, die Sensibilität des Themas zu
berücksichtigen und sich lieber mehr Zeit zu lassen. Eine
Entscheidung könnte auf der nächsten regulären
Innenministerkonferenz im Juni fallen.
Ludmilla Pogrebinska äußert sich
zurückhaltend zu dem Thema. Den Beschluss der Innenminister
nennt sie "objektiv nicht gerecht". Für ältere Menschen
wie sie reichten doch Kenntnisse der Umgangssprache. Und die
Arbeitsfrage stellt sich bei ihr als Rentnerin ohnehin nicht.
"Deutschland hat ein Recht, solche Forderungen zu stellen", sagt
sie, "aber die Leute in Russland haben auch ein Recht, bei ihren
Familien in Deutschland zu sein."
Die Integration jüdischer Zuwanderer
wird allerdings tatsächlich häufig dadurch erschwert,
dass viele von ihnen kaum Deutsch sprechen und von Sozialhilfe
leben. Igor Singer von der jüdischen Gemeinde, der selbst seit
1993 in Deutschland lebt und sehr gut Deutsch spricht, weiß
von vielen Familien, die zerbrechen, von Eltern, die keine
Autorität bei ihren Kindern haben, weil sie "hilflos" sind,
und von "Russen, die schon einen Schreck kriegen, wenn sie nur
einen Brief im Briefkasten sehen".
Das Problem ist also nicht einfach zu
lösen. Selbst diejenigen, die sich täglich mit dem
jüdischen Leben in Deutschland beschäftigen, haben
unterschiedliche Einstellungen zum dem Thema. Der israelische
Botschafter Schimon Stein beispielsweise begrüßt die
umstrittenen Pläne für jüdische Zuwanderer, weil
seiner Meinung nach russische Juden nicht nach Deutschland, sondern
nach Israel gehören. Israel hat im vergangenen Jahr die
niedrigste Einwanderungsquote seit 15 Jahren verzeichnet. Der
Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, fordert
dagegen kostenlose Sprachkurse für auswanderungswillige Juden
aus Osteuropa. Nur so, sagt er, hätten sie eine Chance, in
Deutschland Arbeit zu finden. "Theoretisch ist das so", kommentiert
die vor zehn Jahren von St. Petersburg nach Israel ausgewanderte
Nora Gaydukova diese Forderung, "aber praktisch nicht". Nora
Gaydukova und ihr Mann Igor Khubbeev gehören zu den vielen gut
qualifizierten Akademikern, die es unter den Zuwanderern aus
Russland gibt. Sie ist Soziologin, er Arzt. Schon in St. Petersburg
haben sich die beiden auf Deutschland vorbereitet und die Wartezeit
auf die Ausreise genutzt, um Deutschstunden zu nehmen, die sie aus
eigener Tasche bezahlt haben. Doch trotz ihrer relativ guten
Sprachkenntnisse, jahrelanger Berufserfahrung und der Anerkennung
ihrer Ausbildungen haben auch sie es bis heute schwer. "Deutsch ist
notwendig, aber nicht alles", sagt Nora Gaydukova bestimmt.
Für sie gibt es vieles andere, das wichtiger sei, das man aber
vorher nicht lernen könne: die Lebensart, der Alltag, das
Kreditwesen, das Rechtssystem. Sie fände es auch gut, wenn
Auswanderungswillige bereits in Russland Informationen über
den deutschen Arbeitsmarkt bekämen, wie er funktioniert, wo
man sich wie bewirbt. "Auf dem Arbeitsmarkt nützt es mir
nichts, guten Tag sagen und eine Tasse Kaffee bestellen zu
können."
Die jüdischen Eltern von Nora Gaydukova
sind vor zehn Jahren von St. Petersburg nach Israel ausgewandert.
Für die Tochter kam das nicht in Frage. "Ich kann kein
Hebräisch, ich bin nicht sehr religiös, zu mir passt
besser Europa", sagt die lebhafte Frau. 1996 gab sie ihre
Unterlagen beim deutschen Konsulat in St. Petersburg ab. Sieben
Monate später kam sie mit ihrem Mann Igor Khubbeev, der damals
dreijährigen Tochter, einem Koffer mit Büchern und zwei
großen Koffern mit Kleidung nach Deutschland, nach Bad Pyrmont
in Niedersachsen. Vor anderthalb Jahren zog die Familie dann nach
Berlin. Nora Gaydukova hat eine Doktorandenstelle an der
Universität und beschäftigt sich mit Unternehmen
russischer Migranten in Deutschland. Vor kurzem hat sie eine Ich-AG
als Journalistin gegründet. Sie ist optimistisch: "Man muss
sich bemühen und fleißig sein." Ihr Mann nickt zu ihren
Worten.
Igor Khubbeev, der in Russland als
Rettungsarzt und Internist gearbeitet hat, verdiente in der ersten
Zeit in Deutschland seinen Lebensunterhalt als Altenpfleger und
Küchenhilfe. "Das war ein bisschen Diskomfort", sagt er in
stockendem Deutsch und ganz bescheiden. Aber so hatte er
später Anspruch auf Arbeitslosengeld und somit auf
Fortbildungen, von denen er sich eine Verbesserung seiner
beruflichen Situation erhofft. Bisher hat er nur befristete
Anstellungen als Arzt bekommen. Seit Herbst bezieht er
Arbeitslosengeld und bewirbt sich "noch mal und noch mal". Und
hofft, dass es klappt. Denn Integration ist für ihn die
"Ausübung meines Berufs".
Die Zuwanderung russischer Juden von ihren
Aussichten auf Arbeit abhängig zu machen, das klingt für
das Paar zynisch. "Dann sollen die Politiker ehrlich sagen, wir
nehmen gar keine mehr", sagt Nora Gaydukova zu dieser Perspektive.
Aus den bisher "sehr weichen" Zuwanderungskonditionen "sehr
strenge" zu machen sei auch ungerecht: Denen gegenüber, die
noch auswandern wollen. So wie ihre 33-jährige
Tochter.
Barbara Bollwahn ist Redakteurin der
"tageszeitung".
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