Johannes L. Kuppe
Eine erfolgreiche Sturzgeburt
Vom Doppelzweck des westlichen
Bündnisses
Die Geschichte der NATO begann mit Erwartungen
an sie, die sich - selten genug in der internationalen Politik -
fast alle erfüllt haben. Gemessen an den sonst üblichen
langen Entstehungszeiten von Bündnissen war sie eine
Sturzgeburt. Die Mutter (Europa) war schwach, der Vater (USA)
stark. Der Säugling wuchs rasch zu einer starken Klammer in
einer von Ehekrisen nicht verschonten Verbindung heran.
Anders als Mitte des letzten Jahrhunderts
jedoch befürchtet, musste das euro-atlantische Kind einen Teil
der ihm zugedachten Aufgaben nicht bis zur letzten Konsequenz
erfüllen, weil sie mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation
historisch obsolet geworden sind. Der andere Teil aber, der aus dem
Doppelzweck der Zeugung entsprang, ist bis heute hochaktuell
geblieben. Dieser Doppelzweck darf daher nicht vergessen
werden.
Aber zunächst: Die Etablierung des
Bündnisses war eine strategische Aktion der
Gründungsmitglieder, die einen erstaunlichen politischen
Weitblick verriet.
In der zweiten Hälfte der 40er-Jahre des
letzten Jahrhunderts war - als Folge des Zweiten Weltkrieges - eine
globale Konstellation entstanden, deren Brisanz heute vergessen
scheint, weil das Konfrontationspotential der neokonservativen
"neuen Weltordnung" scheinbar komplexere Strukturen als die
"einfache" bipolare, tatsächlich aber viel gefährlichere
Drohkulisse zu Beginn des Kalten Krieges aufweist.
Nach 1945 traten sich zwei neue
Weltmächte - die USA damals Weltmacht noch wider Willen, die
UdSSR aber mit voller Absicht - gegenüber, die angesichts
unlösbarer Nachkriegsfolgen fast ungebremst in einen neuen
Konflikt steuerten. Die USA mussten das zerstörte Westeuropa
aufbauen, das ohne institutionalisierten Schutz, jedoch mit der
neuen, politisch-ideologisch und militärisch expansiven
Gegenmacht vor der Haustür äußerst gefährdet
erschien. Justament in diesem historischen Augenblick entstanden
die nuklearen Massenvernichtungswaffen, für deren politische
Kontrolle es (noch) keine Erfahrungen gab.
Zur Erhaltung des Weltfriedens waren zwar im
Juni 1945 in San Francisco die Vereinten Nationen (UN)
gegründet worden. Doch damit war für die eben
geschilderte Konfliktsituation zwischen den entstehenden
politischen Blöcken in einem entscheidenden Punkt ein weiteres
Problem entstanden. Die Charta der UN sah - auf sowjetisches
Drängen - und sieht bis heute ein uneingeschränktes
Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder des
Sicherheitsrates vor. Würden die Sowjets (oder auch China), so
die Überlegungen in den USA bei Ausbruch des Kalten Krieges,
im Falle eines europäischen militärischen Konfliktes mit
dem Kreml gegen UN-Maßnahmen ihr Vetorecht einsetzen,
wären die Vereinten Nationen aus jeder Konfliktlösung
ausgeschaltet gewesen. Stalin hätte freie Hand gehabt und hat
dies auch insofern genutzt, als sich die Ausdehnung seines
Imperiums bis an die Elbe - für die Westmächte
überraschend - abzuzeichnen begann und mit der Gleichschaltung
der osteuropäischen Staaten und der SBZ bis zur 1.
Berlin-Krise 1948/49 dann auch tatsächlich
erfolgte.
Das mit der Gründung der Vereinten
Nationen wieder belebte, wenn auch noch in Ansätzen steckende
System kollektiver Sicherheit, das noch aus der Zeit des
Völkerbundes stammte, bedurfte also eines ausbalancierenden
Gegengewichts in der Charta, die keine Aushebelung des Rechts auf
kollektive Selbstverteidigung - durch Ausnutzung des Vetorechtes -
ermöglichte. Dies geschah auf Betreiben der USA, vor allem des
in diesem Punkt höchst aktiven Senators Arthur H. Vandenberg,
durch die Formulierung jenes berühmten Artikels 51 der
UN-Charta, in dem kollektive Selbstverteidigung auch unter den
Bedingungen des Vetorechtes als UN-konform festgeschrieben wird
("within the Charter but outside the Veto").
"Diese Charta beeinträchtigt im Falle
eines Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs
das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven
Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des
Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen
Maßnahmen getroffen hat." Derartige
Selbstverteidigungsmaßnahmen "berühren in keiner Weise
… (die) auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht" des
Sicherheitsrates.
Bereits zwei Jahre später wurde der so
genannte Rio-Pakt (Pakt von Rio de Janeiro über die kollektive
Verteidigung der südamerikanischen Staaten) der erste
Anwendungsfall des Artikel 51 der UN-Charta.
Damit war die Konzeption zur Schaffung der
NATO geschaffen. In einer von 66 UN-Mitgliedern gegen sechs Staaten
angenommenen Resolution wurden von Vandenberg 1949 eine Reform des
Sicherheitsrates (Begrenzung des Vetorechtes) und die Organisation
regionaler Verteidigungsmaßnahmen gefordert. Die Reform des
Sicherheitsrates ist bis heute nicht gelungen. Doch mit dem Vertrag
von Washington im Mai 1949 begann der politische und
militärische Aufbau der NATO.
Angesichts dieser Gründungsgeschichte
ist nicht zu bestreiten, dass mit der NATO ursprünglich nicht
nur die Schaffung einer neuen Militärallianz klassischen Typs
vorgesehen war, sondern - im Falle eines Angriffs auf die
Gründungsmitglieder - zuerst und zunächst eine
Deblockierung der Friedenswahrungsfunktion der Vereinten Nationen.
Erst an zweiter Stelle stand die Organisation eines
institutionellen Rahmens für Westeuropas kollektive
Verteidigung. Die Verschärfung des Ost-West-Konfliktes und
insbesondere die zunehmende Konfrontation der beiden
Supermächte haben freilich diesen Doppelzweck der NATO in den
Hintergrund gedrängt und ihre Verteidigungs- und
Schutzfunktion in den Fokus von Öffentlichkeit und
Ausbaubemühungen gerückt.
Diesen Doppelzweck hat naturgemäß
die Sowjet-union stets aufs heftigste bestritten. Wie konnte es
auch anders sein, denn sonst hätte sie ja einräumen
müssen, dass die westlichen Befürchtungen einer Blockade
des UN-Sicherheitsrates durch ein Kreml-Veto realistisch waren und
dass die westeuropäisch-amerikanischen
Verteidigungsvorkehrungen vor einem realen Bedrohungsszenario
stattfanden. Die Erinnerung an diese Gründungsbedingungen der
NATO fördert zugleich die Einsicht, dass das Bündnis von
Anfang an mehr als eine klassische Militärallianz war: Mit
ihrer Gründung wurde eine politische Verteidigungsorganisation
mit militärischen Aufgaben geschaffen. Insofern war sie ein
Bündnis ganz neuen Typs in der internationalen
Politik.
Ein weiterer, etwas in Vergessenheit
geratener Aspekt der Gründungsgeschichte der NATO bezieht sich
auf den Charakter der europäisch-atlantischen Beziehungen. Der
entscheidende Anteil der USA an der Gründung der NATO wird
heute von niemandem bestritten. Doch Mutter Europa war eben auch
von Anfang an dabei. Schon im März 1948 hatten sich
nämlich das Vereinigte Königreich, Frankreich und die
Benelux-Staaten im Brüsseler Pakt zu einer klassischen
Verteidigungsallianz zusammengeschlossen. Angesichts des
herunterfallenden "Eisernen Vorhangs" und ihrer eigenen
wirtschaftlichen und vor allem militärischen Schwäche
(vollständige Abrüstung nach Kriegsende) erkannten die
Verbündeten sehr schnell, dass sie kein adäquates
Gegengewicht zur weiter voll aufgerüsteten Sowjetunion bilden
könnten. Sie wandten sich daher an die USA und Kanada mit der
dringenden Bitte um Unterstützung. Diese europäische
Initiative für ein Bündnis über den Atlantik, der
die Amerikaner, entsprechend ihrer eigenen Interessen, sehr schnell
entsprachen, war ein wichtiger Baustein zu Gründung der NATO
nur 13 Monate später.
Als im Dezember 1950 der Oberbefehlshaber der
westalliierten Streitkräfte in Europa im Zweiten Weltkrieg und
spätere US-Präsident, General Eisenhower, vom NATO-Rat
zum "Supreme Allied Commander Europe (SACEUR)" ernannt wurde, war
auch das ein nicht übersehbares Signal an den Kreml, dass eine
weitere sowjetische Expansion in Europa, etwa nach dem Beispiel des
inzwischen ausgebrochenen Korea-Krieges, nicht hingenommen werden
würde.
Mit dem Ende der bipolaren Konfrontation und
dem Entstehen eines global agierenden Terrorismus musste sich die
militärisch-strategische Funktion der NATO ändern, und
zwar hin zu einer weltweiten Krisenbewältilgungsallianz.
Existentielle Nöte für das inzwischen größer
gewordene Europa seitens einer aggressiven östlichen
Großmacht gibt es wohl heute und in absehbarer Zeit nicht
mehr. Jedoch ist die politische Bedeutung der NATO angesichts einer
UNO mit nur beschränkter Entscheidungseffizienz und
Handlungsmacht eher noch gewachsen. Ihre Unterstützung
für die heute teilblockierten Vereinten Nationen gehört
mithin, wie wir in den jüngsten Balkankriegen gesehen haben,
zu ihren vornehmsten Aufgaben - wie damals 1949. Wie vor 56 Jahren
ist die NATO ein regionaler Pfeiler der Vereinten Nationen - der
einzige militärisch handlungsfähige und
zuverlässige, den die Weltorganisation bis heute
besitzt.
Johannes L. Kuppe war viele Jahre Leitender Redakteur der
Wochenzeitung "Das Parlament".
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