|
 |
Burkhard Birke
Unabhängigkeit ist zu teuer
Europas Kolonien und Überseegebiete in der
Karibik
Gerade weil es in die heiße Karibik gehen
sollte, bekam Nicolas Sarkozy kalte Füße. Der sonst so
wortgewaltige französische Innenminister sagte seine Anfang
Dezember geplante Reise in die französischen Departements
"Outre-mer" - die karibischen Überseegebiete - kleinlaut ab.
Kein Hurrikan, aber ein politisches Gewitter hatte sich über
den französischen Antillen zusammengebraut. Sarkozy drohte ein
ähnliches Schicksal wie einst dem Rechtsradikalen Jean-Marie
Le Pen, den man seinerzeit auf Martinique die Landung verweigert
hatte.
Auslöser des Sturms der Entrüstung
waren ein Gesetz und eine Feier, gewürzt durch die deftige
Sprache des Ministers: Die von einer düsteren Neigung zur
Selbstverleugnung bedrohten Franzosen sollten ihre exzessive Reue
wegen ihrer Geschichte ablegen, sagte Sarkozy, um ein Gesetz zu
rechtfertigen, das die positive Rolle der Kolonialmacht Frankreich
würdigen sollte. Hinzu kam noch die Pariser Feier zum Gedenken
an Napoleons Sieg bei Austerlitz vor 200 Jahren.
Weder Napoleon, geschweige denn die
Kolonialzeit sind auf Martinique und Guadeloupe in guter Erinnerung
geblieben. Napoleon wurde zur Hassfigur, weil er 1802 die Sklaverei
wieder einführte, die 1794 bereits abgeschafft worden war. Bis
1884 mussten die schwarzen Plantagenarbeiter warten, um ihr Recht
als freie Personen genießen zu dürfen. Und noch einmal
verstrichen mehr als 100 Jahre, bis aus den Kolonien
Überseegebiete mit zunehmender Selbstverwaltung wurden. Kein
Wunder also, wenn die rund 440.000 Einwohner Guadeloupes und die
zahlenmäßig fast ebenbürtige Bevölkerung auf
Martinique keinen Grund zur Glorifizierung der kolonialen
Vergangenheit der Grande Nation sehen. Außerdem sind sie zwar
Franzosen, aber zu 90 Prozent dunkler Hautfarbe und Nachfahren der
aus Westafrika eingeschleppten Sklaven. Sie waren gut genug, in den
Kriegen an der Seite des Mutterlandes zu kämpfen, aber die
"Eingeborenen der Republik", wie sich die aus den Ex-Kolonien
stammenden, im Mutterland lebenden Franzosen auch nennen,
spüren: Ihre Kinder werden immer noch
ausgeschlossen.
Doch weshalb beschreiten die meist
Créole sprechenden - eine Art Mischsprache aus
Französisch und afrikanischen Elementen - Insulaner dann nicht
den Weg in die Unabhängigkeit? Die Antwort auf diese Frage ist
simpel und mit einem Blick ins Portefeuille gegeben:
Unabhängigkeit wäre schlicht zu kostspielig. Weder
Französisch-Guyana mit seinem 173.000 Einwohnern, noch die
beiden großen französischen Antilleninseln könnten
auf sich gestellt, so gut leben, wie sie es jetzt tun.
Eine Million "Karibik-Franzosen"
genießen die gleichen Rechte wie die Bürger im 8.000
Kilometer entfernten Mutterland. Alle französischen Gesetze
finden Anwendung, den lokalen Besonderheiten wird Rechnung
getragen. Welcher Bürger von Martinique oder Guyana würde
schon gern auf den französischen Mindestlohn, die Familien-
und Kinderzuschüsse verzichten - noch dazu in Euro und auf dem
Niveau des Mutterlandes? Lediglich die Sozialhilfe ist den
örtlichen Gegebenheiten angepasst und Sache der Lokal-,
beziehungsweise Regionalverwaltung.
Politische Vertretung in Paris
Für Verteidigung, Sicherheit und
außenpolitische Belange der Überseedepartments ist Paris
zuständig. Im Senat reden jeweils zwei Vertreter aus den drei
karibischen Überseedepartements mit. In der
Nationalversammlung sind Martinique und Guadeloupe entsprechend
ihrer Bevölkerung mit jeweils vier, Guyana ist mit zwei
Abgeordneten vertreten. Die Regionen verwalten sich im Übrigen
selbst, das heißt sie wählen ihren "Conseil General"
(für das Departement) und den "Conseil
régional".
Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ginge es
den Insulanern ohne Frankreich schlechter. Der Tourismus und der
Bananen-, Fisch- und Rumexport reichen als Finanzbasis nicht. Die
Überseedepartements bauen auf die Großzügigkeit des
"Ministère d'outre mer" und der Europäischen Union. So
zeigt ein Blick in das letzte Budget von Guadeloupe: Von 100 Euro
auf der Habenseite stammen 39 aus eigenen Steuereinnahmen, 28 Euro
entspringen Zuwendungen und Staatsbeteiligungen, 22 aus EU-Geldern
und 11 Euro sind Neuverschuldung. Kein Wunder, dass der Drang in
die Unabhängigkeit in der Breite der Bevölkerung nicht
allzu groß ist! Es sind nur jene Zwischentöne wie die von
Innenminister Sarkozy, die einen empfindlichen Nerv
treffen.
Weltraumbahnhof Kourou
Für die verblichene Kolonialmacht
Frankreich selbst sind gerade die karibischen Überseegebiete
nicht nur Relikt glorreicherer Zeiten, sie besitzen durchaus
strategische Bedeutung: vor allem Guyana mit seinen
Weltraumbahnhof. In den 60er-Jahren errichtete die
französische Raumfahrtagentur CNES den Raumflughafen in
Kourou. Mit Hilfe der Europäischen Weltraumbehörde ESA
wurde Kourou für experimentelle und kommerzielle Ariane-Starts
ausgebaut. Guayanas Nähe zum Äquator macht es strategisch
für die Raumfahrt so bedeutsam: Die Raketen können von
Kourou aus zehn Prozent mehr Ladung ins All transportieren als vom
US-amerikanischen Cape Canaveral. Allein aus diesem
übergeordneten Interesse wird Frankreich das
Überseegebiet wohl nie in die Unabhängigkeit
entlassen.
Europa bleibt also auf absehbare Zeit
präsent in der Karibik, zumal sich auch die Niederlande und
Großbritannien als alte Seefahrernationen und
Kolonialmächte noch mit Kronkolonien in der Karibik
schmücken. Eine Insel teilen sich die Holländer sogar mit
Frankreich: St. Martin heißt sie im Norden, im Süden St.
Maarten. Zusammen mit Bonaire und Curacao - vor allem wegen des
gleichnamigen Likörs bekannt -, Saba und St. Eustatius bildet
St. Maarten die "Niederländischen Antillen" (800
Quadratkilometer Fläche, 181.000 Einwohner) und als solche
auch eine Gebiets und Verwaltungseinheit. Aruba (193, 93.000),
unweit der venezolanischen Küste gelegen, ist das zweite
koloniale Standbein der niederländischen Krone in der
Karibik.
Zum deutlich geschrumpften britischen
Karibikimperium gehören Anguilla (96 Quadratkilometer, 11.400
Einwohner), die britischen Jungferninseln (153, 21.000), die
Cayman-Inseln (259, 41.000), die 1997 von einem Vulkanausbruch
heimgesuchte Insel Montserrat (102, 4.500) sowie die über 30,
bis auf acht unbewohnten, Turks- und Caicoinseln (430, 20.000).
Bermuda liegt zwar auf dem Weg in die Karibik - in 1.000 Kilometern
Entfernung zählt diese Kolonie unter Regentschaft von Queen
Elizabeth II. territorial jedoch nicht mehr zur Karibik.
Die letzten Kolonialbastionen im Zeichen
ihrer Königinnen sind sehr heterogen: weniger was ihre
Bevölkerung, eine Mischung meist aus den Nachfahren der
afrikanischen Sklaven und den jeweils tonangebenden Europäern
und womöglich einem Rest an indianischen Ureinwohnern angeht,
als vielmehr wirtschaftlich.
Die britischen Jungferninseln profitieren vom
Tourismusboom, was sich in einem sehr hohen Pro-Kopf-Einkommen von
38.643 US-Dollar (2003) niederschlägt. Die Finanzdrehscheibe
Cayman Islands schwimmt buchstäblich im Geld: So sehr, dass
die britische Regierung Mühe hat, dem Geldwäscherparadies
europäische Richtlinien auf- und damit die Daumenschrauben
anzulegen. Das Pro-Kopf-Einkommen auf den Cayman-Inseln betrug
zuletzt 36.271 US-Dollar im Jahr.
Die Wirtschaftskraft der eng mit Jamaika
verbundenen Turks- und Caicoinseln hingegen wurde für 2003 nur
auf rund 13.500 US-Dollar pro Kopf geschätzt. Montserrat indes
ist noch im Begriff, sich von den Aktivitäten und dem Ausbruch
des Soufriere Hills Vulkans in den 90er-Jahren zu erholen. Damals
unterstützte die britische Regierung die Insel allein mit
umgerechnet 100 Millionen Euro.
Generell lassen sich die Briten die Karibik
durchaus etwas kosten: Im Haushaltsjahr 2006/2007 sind 96 Millionen
Pfund (circa 150 Millionen Euro) für die Gesamtregion an
Ausgaben vorgesehen. Der Großteil davon fließt in die
Kolonien, nicht unbeträchtliche Summen erhalten die ehemaligen
britischen Gebiete. Die meisten erlangten in den 60er-Jahren die
Unabhängigkeit. Die Territorien, die damals bei der Krone
blieben, erlangten sukzessive interne Autonomie. Die Aufteilung der
Zuständigkeiten und der Macht zwischen Großbritannien und
den britischen Überseegebieten, wie die Kolonien genannt
werden, ist etwas kompliziert. In den "British Overseas
Territories" wählt das Volk in der Regel einen Legislativrat.
Diese Volksvertretung bestimmt dann die meist von einem "Chief
Minister" angeführte Regierung, die für alle internen
Fragen zuständig ist. Der Legislativrat kann in der Regel auch
das Recht zur Ernennung von Richtern und anderen wichtigen
öffentlichen Funktionen in den jeweiligen Gebieten
wahrnehmen.
Formell hat allerdings der Gouverneur seiner
Majes-tät das Sagen: Verteidigung, Innere Sicherheit und die
außenpolitische Vertretung sind Sache der Regierung Ihrer
Majestät, die diese entweder direkt von London aus wahrnimmt,
oder an den Gouverneur entsprechend delegiert.
Ähnlich wie die britische, regelt auch
die niederländische Krone die Geschicke ihrer Untertanen in
der Karibik: Sie bleibt zuständig für Verteidigung,
Außenpolitik, Menschenrechte, Demokratie und
Rechtstaatlichkeit. Für die erwähnten Aufgaben sowie
für Förderung im Bildungs- und Wirtschaftssektor zahlt
Den Haag nach Auskunft des Außenministeriums in diesem Jahr 45
Millionen Euro an Aruba und 145 Millionen Euro an die
Niederländischen Antillen. Intern genießen beide Gebiete
Autonomie, wählen ihre "Staten", ihre Parlamente mit 21
(Aruba) beziehungsweise 22 Abgeordneten. Die Geschäfte
führt ein Regierungschef. Die Interessen der Niederlande
vertritt ein Gouverneur.
Ein hohes und teures Gut
Gouverneure für Kolonien im 21.
Jahrhundert? Die Existenz von immer noch 16 Kolonien weltweit
bezeichnete UN-Generalssekretär Kofi Annan vor nicht allzu
langer Zeit als Anachronismus. Mehr als die Hälfte der 16
Kolonien liegt, je nach Zähl- und Interpretationsweise, in der
Karibik. So können auch die amerikanischen Jungferninseln als
Kolonie gelten. Erst vor wenigen Wochen hatte der UN-Ausschuss zur
Abschaffung der Kolonien auch die Vertreter aus der Karibik erneut
zu Anhörungen nach New York geladen. Was die UN-Verfechter der
Unabhängigkeit zu hören bekamen, war nicht immer ganz
nach ihrem Geschmack. Unabhängigkeit ist ein hohes, vor allem
aber ein teures Gut, lautete die Botschaft. Kurzum: Bei
weitgehender interner Autonomie, beziehungsweise Gleichstellung mit
anderen Landesteilen wie im Falle der französischen
Überseegebiete, wäre der Preis für die völlige
Eigenständigkeit einfach zu hoch. Zu großzügig
sprudeln die Finanzquellen der Kolonialherren, zu weitreichend sind
die Rechte der Karibikeuropäer, sich überall in der
Europäischen Union niederzulassen, als dass man einen derart
hohen Preis für die Verwirklichung eines Ideals zu zahlen
bereit wäre.
Und das obwohl sich die Bewohner der Karibik
in den jeweiligen Mutterländern als Bürger zweiter Klasse
behandelt fühlen! Immerhin sind sie aber Bürger - auch
der EU - mit allen Rechten, und müssen nicht - wie so viele
andere aus ehemaligen Kolonien - an die immer dickeren Pforten der
Festung Europa anklopfen.
Burkhard Birke arbeitet als Redakteur beim
Deutschlandfunk.
Zurück zur Übersicht
|