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Burkhard Birke
Seelenkost mit Hüftschwung
Ohne Musik geht nichts in der Karibik
Unsere Musik ist nichts anderes als der Ausdruck unserer Art zu
lieben, zu hassen, zu fühlen, die alltägliche Existenz zu
leben, ohne Schutz zu sein, voll von Sonne, Wind und Meer, einem
Horizont und einem weiten Himmel, herrlich blau, der uns
einhüllt mit unserer wahrhaftigsten Hoffnung der Karibik." Ist
dieser Beschreibung des Salsa von Domingo Alvarez noch etwas
hinzuzufügen? Oder sollten wir uns alle ganz einfach nur
berauschen an dem "klingenden Rum, den man mit den Ohren trinken
muss", wie es Kubas Nationaldichter Nicolás Guillén
einmal formuliert hat?
Auf Kuba, der Wiege des Salsa, wird Musik nicht zelebriert,
getanzt und gesungen: Sie wird gelebt! Selbst wenn nach einem der
zuletzt zahlreichen Wirbelstürme wieder einmal der Strom
ausgefallen ist, das Wasser in den engen, von zerfallenden
Häusern gesäumten Gassen Havannas steht, tönt aus
irgendeinem Winkel eine Melodie aus einem krächzenden
Transis-torradio oder spielt jemand auf einer leeren Flasche eine
Rumba.
"Alles in meinem Dasein ist Musik und Gesang!", schrieb
Nicolás Guillén. Damit hat der kubanische Dichter im
Grunde nicht nur aus seinem, sondern dem Herzen aller Menschen in
der Karibik gesprochen. Fällt dem Bewohner eines
baufälligen Hauses die Decke auf den Kopf, dann gibt es in
Deutschland eine Untersuchung des Falles, einen Prozess, ein
Urteil. In Kuba erzählt jemand die Geschichte in einem Lied,
und die Leute tanzen später dazu. Genau das haben die Musiker
von Los Van Van getan - wie Francisco Zayas vom Jazzensemble Habana
Sax einmal in einem Interview das Verhältnis seiner Landsleute
zur Musik charakterisierte.
Problemverarbeitung à la cubana! Es sind die
Alltäglichkeiten, die Geschichten über die verflossene
Liebe, den Seitensprung, das ausgesprochen attraktive Hin-terteil
der Nachbarin, die besonders leckere Schweinekruste, von der man
auf Kuba meist nur träumt, den Chicharrón, die besungen
und beschrieben werden - und mit denen Musiker wie die von der
Altherren-truppe des Buena Vista Social Clubs mit Dame Omara
Portuondo aus Kuba zu Weltruhm gelangten.
In einer Region, in der - mit Ausnahme Kubas und der dank
europäischer Mutterländer hoch entwickelten Inseln
Martinique, Guadeloupe und Aruba - die Zahl der Analphabeten hoch
ist, wird Musik außerdem zu einem entscheidenden
Kommunikationsmedium. Diese Funktion geht wie die Musik selbst auf
eine eher traurige Episode der Geschichte zurück: Die der
Sklaverei. In vielen Kolonien war es den aus Westafrika als billige
Plantagenarbeiter eingeschleppten Sklaven verboten zu sprechen. Was
ihnen blieb, um sich auszudrücken und zu verständigen,
waren Trommeln, Tanz und Gesang. Cumbia zum Beispiel, die
kolumbianische Traditionsmusik, der Tanz aus dieser Karibikregion,
bedeutet im Grunde nichts anderes als Trommel und Bewegung.
Ob in Kolumbien, auf Kuba, Trinidad oder Jamaika: Überall
verschmolzen europäische und indianische Harmonien und
Melodien innerhalb eines westafrikanischen Rhythmusgerüstes zu
etwas Neuem. In Kolumbien waren es Cumbia und Vallenato, auf Kuba
zunächst die Rumba. Dann entstand im Oriente, dem Osten der
Zuckerrohrinsel, der Son - beeinflusst auch von der Tradition der
Troubadoure, der singenden Erzähler. Auch auf Martinique und
Guadeloupe sowie auf Trinidad und Tobago blieben die Künste
der Barden nicht ohne Einfluss auf das, was wir heutzutage als Souk
oder Soca und Calypso bezeichnen. Der amerikanische Jazz, selbst
eine Fusion aus schwarzer und weißer Musik, und später
der Rhythm and Blues verliehen der Musik der Karibik dann ihre
besondere Würze.
Dass auch die Rockmusik der Karibik ihren Stempel
aufdrückte, lässt sich beim klassischen Reggae des
legendären Bob Marley hören. Die Musik integrierte
verschiedene Stile und Kulturen, integrierte schwarz, weiß und
indianisch. Die Musik der Karibik ist nicht nur Balsam für den
Körper - Tanzen bedeutet das sinnliche Erleben von Rhythmus
und Klangfarben - Musik wird auch als Seelenkost verabreicht. Die
Kompositionen der Rastafaris auf Jamaika liefern den hörbaren
Beweis dafür.
Afrika lässt grüßen! Auch quer durch die
kubanische Musik zieht sich afrikanischer Kult. Wenn die Santa
Barbara, die heilige Barbara besungen wird, so war auch die
afrikanische Kriegsgottheit Changó gemeint. Babaluá
Ayé war und ist für die Barmherzigkeit zuständig.
Offiziell heißt Babaluá Ayé der Heilige Lazarus, dem
auch einige Liedchen gewidmet sind.
Einen solchen, als Stab aus Ebenholz geschnitzt, trug Ibrahim
Ferrer, der Sänger des Buena Vista Social Clubs, stets bei
sich. "Den hat mir meine Mutter gegeben, als sie starb", verriet er
mir einmal in einem Interview. "Seit ich zwölf war und
mutterseelenallein für mich sorgen musste, hat er mich
beschützt!" Und Glück hat er ihm gebracht, wenn auch kein
besonders langes Leben.
Leider weilen die prominentesten Mitglieder von Buena Vista
nicht mehr unter uns, aber zumindest haben sie ein weltbekanntes
musikalisches Erbe hinterlassen. "Chan Chan" - den
weltberühmten Titelsong der millionenfach in aller Welt
verkauften CD "Buena Vista Social Club" hat Francisco Repilado, wie
der im Alter von 95 vor zwei Jahren verstorbene Compay Segundo mit
bürgerlichem Namen hieß, erträumt. "Eines Morgens
wachte ich mit diesen vier Akkorden im Kopf auf - ich hörte
sie ganz klar! Dann erinnerte ich mich an meine Kindheit und die
Geschichte von Juanica und Chan Chan."
Den Seinen gibt's der Herr im Schlaf? Schön wär's!
Auch die Combo des Buena Vista Social Clubs gelangte erst spät
zu großer Berühmtheit und relativem Reichtum. Vor seinem
sagenhaften Comeback verdingte sich der Bolerosänger Ibrahim
Ferrer als Schuhputzer. Seine Dienste und die Musik von Compay und
anderen klassischen Soneros, die zu Batistas Zeiten die Besucher
der Nachtclubs von Havanna beglückte, waren nach der
Revolution nicht mehr so sehr gefragt.
Ibrahim Ferrer und das Buena-Vista-Projekt von Juan de Marcos
und Ry Cooder machten traditionelle und kubanische Musik
überhaupt zu einem Exportschlager der wirtschaftlich
notleidenden Zuckerrohrinsel. Viele kubanische Künstler
versuchen seitdem mit mehr oder minder gutem Resultat auf der
sensationellen Erfolgswelle der Musiker des Buena Vista Social
Clubs zu reiten. Doch der Markt in den USA und Europa scheint
freilich mittlerweile gesättigt. Erfolge verbuchen jetzt eher
die jungen Künstler: DJ Eddie One oder Daddy Yankee
beispielsweise. "Gasolina" - Benzin auf Deutsch - des Puerto
Ricaner Rappers Yankee ist auch hierzulande längst ein Hit und
Reggaeton in den Clubs Europas und der USA sehr angesagt.
Yankee und die anderen Latino-Rapper widmen sich anderen
Alltäglichkeiten als die Opas vom Buena Vista Social Club dies
taten. Sie singen von Gewalt, Hunger und Drogen in den Barrios, den
Armenvierteln von San Juan de Puerto Rico. Es ist der befreiende
Aufschrei der sozial Ausgegrenzten - und das ist die Mehrzahl in
der Karibik, denn weiße Bilderbuchstrände bieten wenig
Grund zur Freude, wenn der Magen knurrt! Yankee und seine Kollegen
orientieren sich dabei an ihren amerikanischen Vorbildern aus den
Ghettos der Großstädte.
Wie seinerzeit Jazz, Rhythm and Blues und die Rockmusik Pate
standen und Einfluss auf die tropischen Klänge der Karibik
nahmen, so prägt heutzutage der moderne Hip-Hop das Klang- und
Rhythmusgemälde in diesem Teil der Welt. Die monotonen Beats
werden untermalt mit karibischen Klangfarben, in denen sich
akustisch das Lebensgefühl der Region widerspiegelt. Reggaeton
heißt der neueste Sound, der traditionell Karibisches mit
neuartigem Rap und Hip-Hop kombiniert.
Reggaeton ist natürlich nicht gleich Reggaeton: Was
zählt ist lokale Identität. So verschmilzt Hip-Hop auf
anderen Inseln mit den dort typischen Rhythmen: In der
Dominikanischen Republik etwa zu Merenrap, einer Hip-Hop-Version
des traditionellen dominikanischen Merengue, um nur eine Variante
zu nennen.
In Zeiten der Globalisierung kennt Musik dabei noch weniger
Grenzen als dies auch früher schon der Fall war. Vor allem ist
sie in dieser Tropenregion allgegenwärtig: Ob im
papageienfarbenen, offenen Bus, im Friseursalon, auf der
Straße, am Strand oder im Café: Überall schallen dem
Passanten meist miteinander konkurrierende rhythmische Klangmuster
entgegen. Mit Musik verdient sich der Straßenjunge ein paar
Pesos oder Dollar extra, beglückt das Trio die Pärchen
beim Abendessen im Restaurant und wird das Tanzbein geschwungen:
Das Alter spielt dabei keine Rolle: Von eins bis hunderteins,
Hauptsache der Hüftschwung stimmt!
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