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Barbara Potthast
Als Kindermädchen in die Ferne
Familienstrukturen und die Rolle der
Frau
Im neuen Jahr wird erstmals eine Frau auf dem afrikanischen
Kontinent an die Spitze eines Staates treten - und zwar
ausgerechnet in einem Staat, der für ehemalige amerikanische
Sklaven gegründet wurde. Die im November gewählte Ellen
Johnson-Sirleaf tritt in diesen Tagen ihr Amt als
Staatspräsidentin von Liberia an. Im karibischen Raum, der
stark von dem ehemaligen Sklavereisystem und damit von den
Nachkommen zwangsverschleppter Afrikaner geprägt ist, nahmen
bereits zwei Jahrzehnte zuvor zwei Frauen mit afrikanischen Wurzeln
diese Hürde. Eugenia Charles wurde 1983 Premierministerin der
ehemals britischen Insel Dominica. In Haiti ernannte man 1990 die
ehemalige Verfassungsrichterin Ertha Pascal-Trouillot zur
Übergangspräsidentin.
Warum gelingt diesen Frauen in der Karibik, was in Afrika
offenbar erst allmählich möglich wird? Wie verträgt
sich dieser Erfolg der Frauen in öffentlichen Ämtern mit
einem nicht von der Hand zu weisenden karibischen Machismo und
Männlichkeitsvorstellungen, wie sie zum Beispiel in der
Reggae-Kultur sichtbar werden? Und wie verhält sich dies zu
dem starken afrikanischen Erbe, das nicht nur die Musik, sondern
auch die Religion und die Mentalität der Gesellschaften in der
Karibik stark geprägt hat? In Afrika nehmen Frauen in Familie,
Religion und Gesellschaft zwar oft eine zentrale Stellung ein, aber
zur politischen Macht erhalten sie nur schwer Zugang. Inwieweit
haben die gänzlich anderen sozio-politischen Bedingungen und
der jahrhundertlange Kontakt zwischen den Kulturen in der Karibik
die Geschlechterrollen und die Familienverhältnisse
verändert?
Die Familienverhältnisse in der Karibik unterscheiden sich
schon auf den ersten Blick deutlich von denjenigen in Afrika und
Europa. Mehr als die Hälfte aller Kinder werden nichtehelich
geboren und etwa ein Drittel aller Haushalte wird von einer Frau
geleitet. Oft sorgen sie allein für den Lebensunterhalt ihrer
mehrköpfigen Familien. Frühe sexuelle Beziehungen sind
für beide Geschlechter akzeptiert, auch wenn Frauen nicht die
gleichen Freiheiten genießen wie Männer. Andererseits
herrscht in diesen Gesellschaften - ähnlich wie in
Lateinamerika - eine starke Verehrung der Mutter vor, gerade auch
seitens der Männer. Biografische Darstellungen von
erfolgreichen karibischen Männern verweisen oft auf die
Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen, in denen die allein
erziehende Mutter unter großen Opfern die Kinder erzog und
ihnen eine möglichst gute Ausbildung zukommen ließ,
wofür ihnen nicht nur Dank, sondern auch Bewunderung gezollt
wird.
Als Erklärung für die geschilderten
Familienverhältnisse haben Forscher immer wieder den Einfluss
der Sklavenhaltergesellschaft angeführt, der die Gründung
von Familien beziehungsweise deren Erhalt unmöglich gemacht
habe. Zwar waren nicht in allen Sklavenhaltergesellschaften Ehen
zwischen Sklaven verboten, doch bestand immer die Gefahr, dass die
Familie auseinander gerissen wurde. Dies gilt auch für die
Mutter-Kind-Familie, da deren Bindung nur für das
Kleinkindalter respektiert wurde. Die Sklavenfamilie habe somit, so
die Argumentation, wenn überhaupt, praktisch nur aus einer
Mutter-Kind-Familie bestanden, und diese Strukturen hätten
sich auch nach Abschaffung der Sklaverei erhalten. Allerdings
finden sich ähnliche Familienstrukturen auch in vielen
lateinamerikanischen Unterschichtmilieus, sodass die Sklaverei
nicht der einzige Faktor sein kann.
Gemeinsam ist beiden Gruppen aber eine schwierige
wirtschaftliche Situation, die sich durch prekäre
Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne auszeichnet.
Tatsächlich lässt sich feststellen, dass viele Frauen der
Unterschicht wenig Wert auf eine formelle Ehe legen. Sie ziehen es
vor, in einer formlosen Gemeinschaft oder allein zu leben und
begründen dies zumeist damit, dass viele Männer ihren
kargen Lohn häufig für Alkohol und Vergnügungen
ausgeben. Für das Familienbudget müssten sie also ohnehin
sorgen. Gleichzeitig engt die Ehe und der damit verbundene
Dominanzanspruch des Mannes sowie die Tatsache, dass diese nur
schwer wieder gelöst werden kann, die Frauen stark ein. Sie
bringt somit den Frauen mehr Nach- als Vorteile. Hinzu kommt eine
lange Tradition nichtehelicher Beziehungen und
Familienverhältnisse unterschiedlicher Art in den
Kolonialgesellschaften.
In Gesellschaften, in denen wegen Rassenschranken und
-vorurteilen eine Ehe mit einer Person einer anderen Hautfarbe und
Schicht nicht möglich war, wie in den kolonialen Systemen,
waren nichteheliche Gemeinschaften eine wichtige Alternative zur
bürgerlich-christlichen Familie. In allen
Kolonialgesellschaften kam es zunehmend zu sexuellen Beziehungen
und Partnerschaften über die ethnischen Grenzen hinweg, und
für die farbigen Frauen der Unterschicht stellte sich in
vielen Fällen ein Konkubinat mit einem - zumeist wohlhabenden
- weißen Mann vorteilhafter dar als eine Ehe mit einem
Farbigen, der im Allgemeinen sozial niedriger gestellt und
ärmer war. Zu den ökonomischen Aspekten kommen Fragen des
Prestiges hinzu. Rassensenvorurteile verbunden mit der
Wertschätzung möglichst heller Haut sind in den
karibischen Gesellschaften bis heute nicht überwunden.
Doch viele Frauen hatten die Möglichkeit einer Wahl
zwischen Ehe und Konkubinat oder einem unabhängigen Leben als
allein erziehende Mutter gar nicht, und zwar aus rein
demografischen Gründen. Die Sklavenhaltergesellschaften der
Karibik waren zunächst männliche Gesellschaften.
Doch nachdem die Karibik Jahrhunderte lang eine Region gewesen
war, in die Personen aus verschiedenen Kontinenten einwanderten,
entwickelte sie sich seit etwa Mitte des 20. Jahrhunderts zu einer
Auswandererregion, denn Migration war eine Lösung für die
schwierigen sozio-ökonomischen und politischen Probleme. Vor
allem die USA und Kanada zogen Migranten aus allen karibischen
Ländern an, wobei Puerto Rico als ein den USA assoziierter
Staat eine besondere Rolle zukommt.
Zunächst waren es vor allem junge Männer, die nach New
York, oder Montreal auswanderten, und viele ließen Freundin
und Kinder in der Heimat zurück. Viele Frauen fanden aufgrund
der veränderten demografischen Strukturen keinen dauerhaften
Partner. Dass solche Strukturen nicht dazu angetan sind, die
Verantwortung der Männer für ihre Partnerinnen und ihre
nicht-ehelichen Kinder zu stärken, muss nicht eigens betont
werden. Andererseits messen die meisten karibischen Gesellschaften
aber der sexuellen Zurückhaltung der Frauen wenig Bedeutung
bei, sodass diese Frauen zumindest nicht stigmatisiert wurden. Die
wirtschaftlichen und zumeist auch die politischen Rahmenbedingungen
haben sich für diese Frauen in den letzten Jahren kaum
verbessert, mancherorts sogar verschlechtert, sodass inzwischen
nicht Männer, sondern überwiegend auch Frauen die Inseln
verlassen. Migrationsströme prägen die Gesellschaften der
Karibik seit mehr als 500 Jahren, sei es die Zwangsmigration der
Afrikaner in die Karibik aufgrund des Sklavenhandels, sei es die
freiwillige Migration in die USA, nach Kanada, aber zunehmend auch
nach Europa.
Dominanzansprüche
Aufgrund von Migrationsprozessen und sozio-ökonomischen
Strukturen entwickelte sich somit über Jahrhunderte hinweg
eine Rollenverteilung, die den Frauen zwar eine hohe
Wertschätzung verschaffte, vor allem in ihrer Funktion als
Mutter, ihnen aber gleichzeitig die Last der ökonomischen und
emotionalen Stabilität der Familie aufbürdete. Manche
Forscher wollen darin auch eine Marginalisierung der Männer
erkennen und interpretieren deren Dominanzansprüche und
Verantwortungslosigkeit als eine Reaktion darauf. Ökonomisch
selbstständige Frauen, die von den Männern zwar
Unterstützung erhoffen, sie aber nicht bekommen, entwickeln
zumeist auch soziale Eigenständigkeit und
Durchsetzungsvermögen.
Hinzu kommt, dass einige karibische Staaten über ein
relativ gutes öffentliches Bildungssystem für beide
Geschlechter verfügen und Bildung insgesamt eine hohe
Wertschätzung genießt. Dies hat dazu geführt, dass
auch Nachkommen ehemaliger Sklaven durch Bildung aufsteigen
konnten. Wie die eingangs genannten Beispiele zeigen, verfügen
inzwischen auch viele Frauen über eine solide Ausbildung. Doch
diese wie auch weniger gebildete Frauen der unteren Schichten
finden in denjenigen Ländern, in denen sich nicht, wie in
Puerto Rico, eine für den US-amerikanischen Markt
produzierende Industrie etablieren konnte, zunehmend schlechtere
Beschäftigungsmöglichkeiten. Auch die boomende
Tourismusindustrie auf Kuba oder in der Dominikanischen Republik
schafft nicht genügend Arbeitsplätze, sodass inzwischen
immer mehr Frauen den Weg wählen, für einige Jahre oder
dauerhaft ihr Geld im Ausland zu verdienen. Nicht selten lassen sie
dabei ihre Kinder in der Heimat zurück, wo sich die Mutter
oder andere Familienangehörige um diese kümmern und von
den im Ausland verdienten Geldern mit leben.
Die weltweit angestiegenen Migrations- und Warenströme
haben auch die Lebensentwürfe karibischer Frauen
verändert. Unter den weniger entwickelten Weltregionen
zeichnen sich Südamerika und die Karibik durch einen besonders
hohen Anteil an weiblichen Migranten aus. Im Jahr 2000 kamen in den
USA auf 100 Migrantinnen aus dem karibischen Raum nur etwas mehr
als 80 männliche Migranten.
Doch auch Europa, vor allem Spanien, gilt zunehmend als
attraktive Einwanderungsregion für Migrantinnen aus der
Karibik, zumal es hier für diejenigen aus der spanischen
Karibik keine sprachlichen und weniger kulturelle Probleme gibt. So
kamen dort im Jahr 2001 auf 100 Migrantinnen aus der
Dominikanischen Republik nur 43 Männer aus dem Inselstaat.
Die meisten dieser Frauen arbeiten als Dienst- oder
Kindermädchen und in der Altenpflege und tragen durch
regelmäßige Geldüberweisungen nicht unerheblich zum
Überleben ihrer Familien sowie zur Stärkung der
Devisenreserven ihres Landes bei. Viele von ihnen holen später
ihre Familien, seien es nur die Kinder oder aber auch die
Männer, nach. Zunehmend sind also die Frauen die Speerspitze
des Migrantennetzwerkes, und nicht mehr, wie bisher, die
Männer. Welche Auswirkungen diese neue Entwicklung auf das
Verhältnis der Geschlechter und die Familienstrukturen haben
wird, bleibt abzuwarten.
Die Autorin ist Professorin für iberische und
lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu
Köln.
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