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Was ist gerecht? Diese Frage durchzieht derzeit die gesamte Reformdebatte. Da ist von Chancengerechtigkeit die Rede, von Generationengerechtigkeit oder Steuergerechtigkeit. Warum ist Gerechtigkeit zum zentralen politischen Begriff geworden? Wie definiert sich Gerechtigkeit heute? Darüber führte Blickpunkt Bundestag ein Streitgespräch mit dem SPD-Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Verteilungsgerechtigkeit seiner Fraktion Rolf Stöckel und dem CDU-Abgeordneten und Vorsitzenden der „Jungen Gruppe“ der CDU/CSU-Fraktion Günter Krings.
Blickpunkt Bundestag: Warum, Herr Stöckel, hat das Thema Gerechtigkeit heute eine solche Konjunktur?
Rolf Stöckel: Weil immer mehr Menschen subjektiv empfinden, dass etwas mit der Verteilungsgerechtigkeit in Staat und Gesellschaft nicht mehr richtig funktioniert.
Blickpunkt: Sehen Sie das auch so, Herr Krings? Gehört Gerechtigkeit nicht zu den dauerhaften Grundprinzipien der Politik?
Günter Krings: Gerechtigkeit ist ein Dauerbrenner. Schon Augustin wusste: Ein Staat ohne Gerechtigkeit ist wie eine Räuberbande. Ich denke, dass immer dann, wenn wir gesellschaftliche Umbrüche haben, wenn wir etwa den Sozialstaat umbauen müssen, das Thema Gerechtigkeit logischerweise stark in den Vordergrund rückt. Dabei darf man sich nicht auf das Thema Verteilungsgerechtigkeit beschränken. Ich finde es interessant und bezeichnend, dass die SPD-Fraktion zwar eine Arbeitsgruppe Verteilungsgerechtigkeit hat, nicht aber eine AG Leistungs- oder Chancengerechtigkeit.
Stöckel: Wir sollten uns nicht an Namen festhalten, zumal sich die AG eigentlich Verteilungsgerechtigkeit und soziale Integration nennt. Natürlich gehören Verteilungs-, Chancen- und Zugangsgerechtigkeit zusammen.
Blickpunkt: Wenn Wohlstand nicht oder nur noch kaum verteilt werden kann, ist es dann zwingend, dass sich Verteilungsgerechtigkeit zur Chancengerechtigkeit wandeln muss?
Krings: Oft hinkt das Begriffliche den gesellschaftlichen Veränderungen hinterher. Wir müssen aufpassen, dass wir Chancengerechtigkeit nicht nur als lästiges Anhängsel empfinden, sondern gleichwertig auch zur Leistungsgerechtigkeit sehen. Wichtiger, als dass im Ergebnis alles gleich verteilt wird, ist doch, dass die Chancen gerecht verteilt sind. Das ist durchaus ein anderer gesellschaftlicher Bewusstseinsstand, den gerade auch die junge Generation einfordert. Darauf muss die Politik reagieren.
Stöckel: Ohne Verteilungsgerechtigkeit gibt es keine Zugangsgerechtigkeit. Jemand, der durch Zufall in die Familie eines Bergmannes und seiner Frau, die nebenbei näht und putzt, geboren wird, wird ohne staatliche Umverteilung der Mittel von stärkeren auf schwächere Schultern und in öffentliche Infrastrukturen keine wirkliche Zugangs- und Chancengerechtigkeit erfahren.
Blickpunkt: Sind die Vermögens- und Erbschaftsteuer, die von Rot-Grün ja wieder ins Spiel gebracht werden, noch brauchbare Instrumente zum Umverteilen?
Stöckel: Ich finde, dass mit der Progression bei der Einkommensteuer durchaus schon eine beachtliche Verteilungsgerechtigkeit erreicht wird, immerhin werden 60 Prozent der Einkommensteuer von denen aufgebracht, die mehr als 65.000 Euro im Jahr verdienen. Dennoch scheint mir richtig, dass wir alle Einkommensarten, also auch die aus Kapitalvermögen und Immobilien, stärker in die Finanzierung öffentlicher Aufgaben einbeziehen sollten.
Krings: Ich finde, dass wir das Modell der Verteilungsgerechtigkeit schon überreizt haben. Wir haben heute eine Staatsquote von deutlich über 50 Prozent. Ein erheblicher Teil davon sind Sozialausgaben, die umverteilt werden. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht vor lauter Umverteilen, Transaktions- und Bürokratiekosten die eigentlichen Leistungen so sehr einschränken, dass nachher alle weniger haben.
Stöckel: Natürlich gibt es bestimmte Wirkungen im Sozialstaat, die einfach leistungsfeindlich sind. Dennoch: Die persönlichen Entwicklungschancen eines Menschen dürfen nicht von Herkunft und vom Geldbeutel seiner Eltern abhängen. Trotz sozialer Marktwirtschaft und gemeinsamer Politik der Volksparteien gibt es hier noch immer große Disparitäten. Die Pisa-Studie etwa sagt eindeutig, dass unser Schulsystem eines der sozial selektivsten ist. Auch in großen Städten gibt es Gettosituationen, die keine wirkliche Chancengleichheit bieten. Insofern haben wir immer noch einen Nachholbedarf.
Blickpunkt: Bezieht sich Chancengerechtigkeit überwiegend auf den Zugang zu Bildung und Ausbildung oder auch auf den lebenslangen Zugang zu Arbeit?
Krings: Der Staat sollte Rechte nur einräumen, wo er realistischerweise Ansprüche auch erfüllen kann. Der Staat kann aber das Recht auf Arbeit nicht einlösen, er kann nur möglichst gute Rahmenbedingungen dafür schaffen. Chancengleichheit bedeutet im Übrigen auch mehr als den bloßen Zugang zu bestimmten Grundbedingungen. Sie bedeutet zum Beispiel, dass wir nicht Zukunftschancen verfrühstücken, die wir morgen noch brauchen. Und dass wir nicht heute so viel Neuverschuldung machen, dass nachher die junge Generation zwar vielleicht noch eine Ausbildung machen kann, aber keinen Arbeitsplatz mehr findet.
Blickpunkt: Stichwort: Bildungsgerechtigkeit – ist es gerecht, dass das Studium der Studenten der Steuerzahler zahlt, den Hort- und Kindergartenplatz aber Eltern aus eigener Tasche zahlen müssen?
Stöckel: Nein, es ist nicht gerecht, wenn ein Hochschulstudium kostenlos ist, der Kindergarten aber bezahlt werden muss. Man muss darüber diskutieren können, wie man im Bildungswesen mit Beiträgen umgeht. Deshalb können nachgelagerte Studiengebühren durchaus gerecht sein. Warum soll der gut ausgebildete Akademiker später der Gemeinschaft nicht zurückgeben, was sie ihm gegeben hat?
Krings: Ich bin schon seit langem für Studiengebühren, die zumindest einen bestimmten Anteil der Studienkosten decken sollten. Ich halte das für gerecht. Es kann nicht sein, dass – überspitzt gesagt – heute der Facharbeiter das Studium des Arztsohnes bezahlt. Natürlich darf eine Studiengebühr nicht vom Studium abschrecken. In der Realität könnte sie sogar eine Stärkung bedeuten: Wenn Studenten für ihr Studium bezahlen, haben sie auch klarere Leistungsansprüche gegenüber ihren Professoren.
Blickpunkt: Stichwort: Generationengerechtigkeit. Hat sich die jetzt arbeitende Generation auf Kosten der Jungen eingerichtet?
Krings: Wenn Konsens darüber besteht, dass wir – etwa mit Blick auf den gewaltigen Schuldenberg – sozialstaatlich deutlich über unsere Verhältnisse leben, ist die Schlussfolgerung zwingend, dass die jetzige Generation auf Kosten der künftigen lebt. Dafür kann der Einzelne nichts. Aber deshalb ist es ja so eminent wichtig, dass der Sozialstaat nicht nur in fünf oder zehn Jahren funktioniert, sondern fit gemacht wird auch für das Jahr 2030. Das wird in der Tagespolitik zu wenig behandelt.
Stöckel: Ganz klar: Der Bismarck’sche Sozialstaat ist, so wie er sich entwickelt hat, nicht das nonplusultra. Viele Bedingungen haben sich verändert, und dennoch haben sich gewisse Benachteiligungen und Armutssituationen verfestigt.
Blickpunkt: Bei der Rente macht sich der Mangel späteren Beitragszahlern schmerzlich bemerkbar. Ist es gerecht, Ehepaare mit Kindern bei den Beiträgen zu entlasten, Kinderlose dagegen mit höheren Beiträgen zu belasten, manche sagen: zu bestrafen?
Krings: Kinder dürfen auf keinen Fall, wie es zurzeit bei einer Million Kindern in Sozialhilfe in Deutschland ist, zum Armutsrisiko werden. Deshalb müssen wir die Familien stärken. Die Frage bleibt aber, wie man dieses Ziel erreicht. Ich finde, dies sollte primär über das Steuersystem geschehen. Denn das Rentensystem darf nicht überfrachtet werden.
Stöckel: Auch ich habe Zweifel, ob Familienförderung über das Rentensystem erfolgen sollte. Klar aber ist, dass kinderlose Paare, die ja meistens auch über mehr Einkommen verfügen als Familien, ordentlich beitragen müssen zu den Kosten einer kinderfreundlichen Gesellschaft. Denn letztlich profitieren sie ja von den Kindern der anderen.
Text: Sönke Petersen
Fotos: Phalanx