Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 22 / 30.05.2005
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Thomas Gesterkamp

Nomaden der Arbeit

Telearbeit setzt auf mobile Mitarbeiter und geteilte Schreibtische
Der Name klingt irgendwie altmodisch, dabei handelt es sich um eine durchaus innovative Arbeitsform: die Telearbeit. Die mobilen Angestellten arbeiten überall, ob zu Hause oder unterwegs. Im Büro müssen sie sich nur zu bestimmten Zeiten blicken lassen. Ohne Telefon und Laptop läuft da nichts - dafür sparen die Unternehmen Kosten für Büroflächen und betriebliche Infrastruktur.

Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne Laptop unterwegs zu sein", sagt Klaus Niester. Der 37-jährige Vertriebsingenieur hält sich nur selten an seinem offiziellen Arbeitsplatz auf. Meist ist er nicht im Betrieb, sondern "auf Achse" - oder er ist zu Hause. Jeden Morgen loggt sich Niester vom heimischen Schreibtisch aus kurz in den Firmenrechner ein, um die aktuellen Daten abzugleichen. Anschließend hat er einen Überblick über laufende Termine und neue Nachrichten, ohne einen einzigen Schritt vor die Tür gesetzt zu haben.

Klaus Niester ist "alternierender Telearbeiter": Er fährt nicht mehr zur Arbeit, stattdessen kommt die Arbeit zu ihm. "Mein Büro ist überall dort, wo ich mich gerade aufhalte." Per Handy und tragbarem Computer bleibt er stets erreichbar. Er wechselt ständig seinen Arbeitsort, pendelt zwischen Betrieb und Privatwohnung, sitzt im Zug, Auto oder Flugzeug, arbeitet phasenweise auch beim Kunden. "Wenn unser ganzes Team gleichzeitig im Büro antreten würde, würde der Raum aus allen Nähten platzen", schmunzelt der Mobilarbeiter. "Aber das kommt so gut wie nie vor."

Vorbild USA

Die Vertriebszentrale der Firma SAP in Walldorf bei Heidelberg ist verwaist. Nur sechs Angestellte sitzen hinter ihren Laptops. Für rund 60 Mitarbeiter des größten deutschen Softwareunternehmens ist das Großraumbüro zentrale Anlaufstelle. "Shared desk" - geteilter Schreibtisch - heißt das aus den Vereinigten Staaten übernommene Prinzip.

Pionier dieser Arbeitsform war in Deutschland der Computerriese IBM. Der US-Konzern bietet schon seit Anfang der neunziger Jahre "alternierende Telearbeit" auf freiwilliger Basis an. Über 4.000 Mitarbeiter und damit ein Fünftel der Belegschaft verbringen inzwischen mindestens die Hälfte ihrer Arbeitszeit außerhalb der Firma. Nicht mitgezählt wird dabei, wer nur gelegentlich elektronische Verbindung zum Unternehmen aufnimmt. Rund 2.000 Beschäftigte praktizieren mobile Telearbeit im Vertrieb, 1.700 gehören zum technischen Außendienst, 600 sind stationäre Arbeiter in der eigenen Wohnung. Alle drei Gruppen verfügen über Online-Zugänge zum Unternehmen; die Kosten für Rechner und Übermittlungskosten trägt der Arbeitgeber. Für IBM macht sich die Auslagerung trotzdem bezahlt: Der Konzern spart auf diese Weise Büroflächen und Kosten für die betriebliche Infrastruktur.

"Geteilter Schreibtisch" bedeutet keineswegs die beliebige Wahl des Arbeitsortes. Zu festgelegten Zeiten sind mobile Telewerker wie Klaus Niester verpflichtet, sich im Unternehmen blicken zu lassen. Denn hier, in Teamprozessen mit Kollegen, findet weiterhin der Kern der kreativen und strategischen Arbeit statt. Lediglich personenbezogene und klar umrissene Tätigkeiten können isoliert und damit auch anderswo erledigt werden. "Nur noch zu Hause arbeiten" sei ausdrücklich unerwünscht, betont Werner Zorn, Fachmann für Telearbeit bei IBM Deutschland: Zeitweilige Präsenz im Betrieb wird vielmehr erwartet. Wer dort arbeiten will, sucht sich einen freien PC mit Netzzugang - und räumt diesen, sobald er fertig ist. Persönliche Gegenstände und kleinteiliges Handwerkszeug, die einst den eigenen Schreibtisch schmückten, sind in Schließfächern verschwunden, die die umherziehenden Mitarbeiter bei Bedarf öffnen können. Das Büro als steriles Technikterminal für gelegentliche Besuche: Ob sich dieses Konzept je massenhaft durchsetzen wird, scheint zweifelhaft. Amerikanische Firmen haben sich vom "Desk Sharing" teilweise schon wieder verabschiedet.

Zwar experimentieren auch andere deutsche Unternehmen wie etwa Siemens mit Telearbeit. Doch nur wenige fordern die Belegschaft auf, ständig die Pulte zu tauschen. Die meisten Angestellten haben nämlich keine Lust, jeden Tag um ihr Territorium zu kämpfen. Sie brauchen offenbar ihr eigenes Revier, das sie weder dauernd aufräumen noch stets proper hinterlassen wollen. Die Familienfotos, die Postkarten aus dem Urlaub, die Urkunde vom Segeltörn und der selbst gemalte Kalender der Jüngsten gehören einfach nicht in den Wandschrank; sie schaffen Verbundenheit gerade durch ihren festen Platz.

Mit dieser Problematik hat sich auch das Stuttgarter Fraunhofer-Institut beschäftigt und sich hierfür eigens ein Experimentierfeld geschaffen. Für das Zukunftsprojekt "Office 21" wurden persönlich reservierte Arbeitsplätze gar nicht erst eingerichtet. Jeder Mitarbeiter schiebt auf einem fahrbaren Container seine Unterlagen, das mobile Telefon und einen per Funk vernetzten Rechner vor sich her. Für 35 Angestellte reichen auf diese Weise 18 Plätze, die jeden Tag neu verteilt werden. Die anderen Teammitglieder sind beruflich unterwegs, machen Urlaub oder arbeiten zu Hause. Die Propheten der Beraterzunft denken schon einen Schritt weiter: Im "Hotel"-Konzept melden sich die Tele-Nomaden online bei der virtuellen Rezeption ihres Arbeitgebers, buchen für ein paar Stunden einen Büroraum und verschwinden dann nach kurzer Sesshaftigkeit wieder.

Das nonterritoriale Büro, dessen Nutzer ständig wechseln, habe "absichtlich keinen individuellen Charakter" mehr, glaubt der amerikanische Soziologe Richard Sennett. Die uniforme Architektur des "flexiblen Kapitalismus" sei "in einer Weise standardisiert, bei der man von einer Stadt in die andere umziehen kann und sich gleichsam in ein und demselben Raum bewegt". Eine Umgebung, die sich in wenigen Minuten umgestalten lässt, lässt niemanden mehr Wurzeln schlagen: Die Menschen sollen sich gar nicht erst an einen festen Ort gewöhnen.

Über zwei Millionen Erwerbstätige in Deutschland haben nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums mittlerweile die Chance, einen Teil ihrer Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Doch das Ausmaß der Verbreitung von Telearbeit werde "weit überschätzt", kritisiert der Soziologe Frank Kleemann. Er hat sich in einem Forschungsprojekt an der Technischen Universität Chemnitz mit dem Thema beschäftigt. "Die vorliegenden Studien sollen vor allem große Zahlen produzieren." Kleemann glaubt, dass "dabei Leute mitgezählt werden, die gar keine echten Teleheimarbeiter sind, etwa Lehrer, die einen Teil ihrer Unterrichtsvorbereitungen zu Hause am PC machen".

Alternierende Telearbeit scheint auf den ersten Blick gerade für Eltern die ideale Lösung zu sein, um ohne Stress Beruf und Familie unter einen Hut zu kriegen. Wenn aber die Lebensbereiche nicht mehr strikt voneinander getrennt sind, kann das auch negative Folgen haben. "Handlungsreisende" wie Klaus Niester konnten sich einst nach getaner Arbeit zurücklehnen und dem Motto folgen "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß". Jetzt haben sie stets alles zu wissen, denn es erscheint ja auf ihrem Display - und schreit nach sofortiger Antwort. Noch ein Anruf, noch eine dringende Mail. Die vernetzte Kommunikation lässt die Grenzen zwischen Job und Freizeit verschwimmen.

"Twenty four - seven", so lautet auch das Motto des ständigen Bereitschaftsdienstes in Nordamerika: Stets bei der Arbeit, 24 Stunden täglich, sieben Tage die Woche. Sieht so die Arbeitswelt der Zukunft aus? Telearbeitsforscher Kleemann ist skeptisch. Für die große Mehrheit der Beschäftigten werde das ein unrealistisches Szenario bleiben. Doch in einigen Berufen ist es in der Tat schwierig geworden, zu unterscheiden: Wo fängt die Arbeit an, wo hört sie auf?

Forciert durch moderne Kommunikationstechnik kehrt für diese Erwerbstätigen die Heimarbeit zurück, die in der Vergangenheit Künstlern oder selbstständigen Handwerkern vorbehalten war. Es sei jedoch kein Schritt zurück in die Vergangenheit, betont Forscher Kleemann. "Das wird meist nicht wie in vorindustriellen Zeiten vermischt, sondern zeitlich und räumlich voneinander abgegrenzt." Der Chemnitzer Untersuchung zufolge schotten sich gerade hoch qualifzierte männliche Arbeitnehmer, die sich zu Hause ein zweites Büro leisten können, von privaten Ansprüchen, etwa der Familie, ab.

So sind sie zwar ungestört, aber auch weit entfernt vom "Flurfunk", von der in vielen Firmen wichtigen informellen Kommunikation. IBM hat in seiner Böblinger Zentrale deshalb zusätzlich zur Kantine dezentrale Teeküchen in unmittelbarer Nähe der geteilten Schreibtische eingerichtet. Kreativer Kontakt zwischen den einzelnen Telewerkern ist ausdrücklich erwünscht. SAP bietet sogar Fitnessräume und Duschen an: Gemeinschaftsgefühle sollen nun nicht mehr bei der Arbeit, sondern bei der Nutzung betrieblicher Freizeitangebote aufkommen. Die Unternehmen schaffen bewusst neue soziale Räume; sie inszenieren Kommunikation, weil diese ökonomisch nützlich ist.

Die extremen Anforderungen an Mobilität lassen das Bedürfnis nach einer beruflichen "Heimatbasis" umso mehr wachsen. Auch die elektronische Vernetzung kann den Fokus des gemeinsamen Arbeitsortes nicht vollständig ersetzen. Manche der Arbeitsnomaden sind fast dankbar, wenn ihnen das Unternehmen feste Pflichttermine vorschreibt. "Gerade weil ich dauernd unterwegs bin, brauche ich klare Rhythmen und eine Anlaufstelle im Betrieb", weiß Vertriebsmann Niester. Für ihn sind die festen Termine der Projektgruppen und andere regelmäßige Sitzungen mit den Kollegen eine "willkommene Abwechslung vom manchmal einsamen Alltag".


Thomas Gesterkamp arbeitet als freier Journalist in Köln.


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