Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 22 / 30.05.2005
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Thomas Gesterkamp

Vertrauen auf das schlechte Gewissen

Arbeitsverhältnisse ohne feste Zeitregelung
Am Arbeitsplatz von Walter Hartmann* regiert nicht die Stechuhr. Das Zeiterfassungssystem ist hier schon vor Jahren verschwunden - damals gegen den Willen des Betriebsrates. Von kurzen Kernzeiten abgesehen, können die EDV-Experten seither kommen und gehen, wann sie wollen. Chefs und Vorgesetzte tauchen kaum noch auf, seit sie die sogenannte "Vertrauensarbeitszeit" eingeführt haben. Keiner kümmert sich darum, ob die Computerfachleute hinter ihren Rechnern sitzen oder nicht - nur sie selbst.

Hartmann und seine Kollegen werden weder gegängelt noch bevormundet. Doch wenn jemand einen schlechten Tag hat, wenn er sich erschöpft fühlt oder endlich mal früher gehen will, bleibt Wichtiges liegen. Dann bekommt der Softwareentwickler ein schlechtes Gewissen. Genießt er nicht enorme Privilegien? Wer kann sich schon die Zeit einteilen, wie er möchte? Spät aufstehen, morgens einkaufen, lange Mittagspause? Alles kein Problem, nur das Projekt muss unbedingt bis Freitag abend fertig sein - perfekt ausgefeilt, versteht sich.

Die regelmäßige Dokumentation ihrer Anwesenheit gehört für die meisten Beschäftigten in deutschen Unternehmen nach wie vor zum Alltag. Führungskräfte waren schon immer eine Ausnahme von dieser Regel; jetzt haben auch Angestellte in mittleren Positionen verstärkt die Möglichkeit, die "Vertrauensarbeitszeit" zu nutzen. Das Wort klingt nach persönlichem Spielraum, in der Praxis aber entpuppt sich das Angebot als zwiespältig. Das Ende der Kontrolle hat seinen Preis. Mitarbeiter wie Walter Hartmann fühlen sich getrieben, obwohl sie keiner mehr antreibt. Sie haben ihre professionelle Leistungsorientierung tief verinnerlicht, sie tun alles scheinbar aus freien Stücken. Die neue Managementstrategie entfaltet ihr Regiment durch das Verpflichtungsgefühl im Kopf jedes Einzelnen. Von "indirekter Steuerung" spricht der Unternehmensberater und Philosoph Klaus Peters. Für ihn geht es darum, "die Menschen vor sich selbst zu schützen".

Irgendwas kommt immer dazwischen

Familienvater Hartmann hat schon viele angefangene Abende, manchmal auch Teile des Wochenendes im Unternehmen verbracht. Die Mitgliedschaft im Sportverein musste er kündigen, weil er die festen Trainingsstunden kaum wahrnehmen konnte. "Irgendwas Dringendes" komme immer dazwischen. "Die Terminvorstellungen unserer Kunden sind meist illusorisch", sagt er. Für Hobbys oder längere Auszeiten fehlt ihm einfach die Zeit. Kaum ist die eine Sache vom Tisch, wartet schon die nächste; oft muss er mehrere große Aufgaben "gleichzeitig stemmen". Als Folge reicht der "lange Arm der Arbeit" weit hinein in sein Privatleben. Der überquellende Schreibtisch spukt ihm noch im Kopf herum, wenn er mit der Familie (was selten genug vorkommt) zu Abend isst. Die Erzählungen seines Sohnes aus der Schule kommentiert er mürrisch und knapp, unkonzentriert liest er seiner Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Das Umschalten fällt ihm schwer. Seine Gedanken schweifen ab zu einem vergessenen Telefonat, zu jener Datei, die er vorhin nicht mehr vollständig bearbeiten konnte. Ob er sich vielleicht gleich noch mal eben in den Firmenrechner einloggen soll, der Computer zu Hause ist schließlich online?

Die Zweifel, ob er die hoch gesteckten Erwartungen seiner Vorgesetzten erfüllen kann, verfolgen ihn manchmal bis in den Schlaf. Da schreckt er um drei Uhr nachts auf und stellt fest, dass er berufliche Erlebnisse "abträumt". Seine Frau schildert beim Frühstück irritiert, wie er im Bett an einer imaginären Tastatur getippt hat. Von der Geschäftsführung bekam Hartmann einen edlen Stift mit eingebauter Taschenlampe geschenkt. Das praktische Utensil, so will es der Personalleiter, soll er sich auf den Nachttisch legen - damit sich "betriebliche" Einfälle auch zu ungewöhnlichen Zeiten gleich schriftlich festhalten lassen.

Arbeit und Privates sind aus dem Lot

Warum arbeiten Softwareexperten bis spät in die Nacht - obwohl sie dazu nicht vom Chef gezwungen werden? Warum gehen Angestellte am Wochenende in die Firma, um sich den Dingen zu widmen, die über das Alltagsgeschäft hinausgehen? Solche Fragen untersucht Nick Kratzer am Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung. Kratzer betrachtet solche Verhaltensweisen äußerst kritisch; er analysiert sie als das Ergebnis einer betrieblichen Methode, noch mehr aus den Mitarbeitern herauszuholen: "Die neuen Freiheiten der Selbstorganisation von Arbeit beschränken sich oft auf das Selbstmanagement von Überlastung." Für "Vertrauensarbeiter" wie Walter Hartmann ist das Gleichgewicht von Arbeit und Privatleben, die vielzitierte "Work-Life-Balance", längst aus dem Lot geraten. Weil er gedanklich fast ausschließlich um seine bezahlte Tätigkeit kreist, definiert sich alles andere als eine Art Rest. Die wachsenden betrieblichen Anforderungen kann er kaum mit seinen sonstigen Interessen in Einklang bringen. Der Beruf verlangt ein hohes Maß an Flexibilität, das auf familiäre Bindungen und Freundschaften geradezu zerstörerisch wirkt. Die atemlose Projektarbeit, wie sie in immer mehr Unternehmen üblich ist, lässt für Hobbies oder Verpflichtungen jenseits des Jobs kaum noch Raum. Trotz aller Selbstbestimmung ist der Dienst an der Firma eigentlich nie zu Ende. Die gut gemeinte Rhetorik von Arbeitsberatern oder Experten für Zeitmanagement verdeckt, dass Beruf und Privates in zentralen Punkten weiterhin unvereinbare Gegensätze sind. Wer sich etwa an der Versorgung von Kindern ernsthaft beteiligen will, muss am Arbeitsplatz Kompromisse machen, ist nicht mehr beliebig einsetzbar.

Eine beeindruckende Schilderung hat dazu die US-Autorin Arlie Hochschild vorgelegt. In ihrem Buch "Keine Zeit" beschreibt sie das größte Unternehmen in einer Kleinstadt im amerikanischen Mittleren Westen. Die Firma legt großen Wert auf die Selbstverantwortung der Beschäftigten, vermittelt berufliche Anerkennung und offeriert Freizeit - und Sportaktivitäten im Betrieb. Der Arbeitsplatz ist so für beide Geschlechter, Männer wie Frauen, zum attraktiveren Zuhause geworden. Den eigenen Nachwuchs haben die Mitarbeiter von morgens bis abends wegorganisiert, Kinder werden zur Verschiebemasse eines von Erwerbsarbeit dominierten Lebens. Sind diese Verhältnisse auf Deutschland übertragbar?

Michael Mostert von der Abteilung Tarifrecht und Humanisierung der IG Bergbau-Chemie-Energie glaubt das nicht. Er hält die Debatte um die Vertrauensarbeitszeit ohnehin für "ideologisch aufgeladen". In den von seiner Gewerkschaft vertretenen Branchen werde von diesem Instrument bisher "wenig Gebrauch gemacht". Bedeutsam sei dieses Arbeitszeitmodell nur "bei AT-Angestellten", also außertariflich bezahlten Mitarbeitern. "In der Produktion", also in den Montagehallen oder an den Fließbändern, aber auch in vielen Bürojobs könne von einer Abschaffung der Zeitkontrollen keine Rede sein. Immerhin existieren in einigen Unternehmen, etwa bei der Deutschen Shell oder im Chemiekonzern Novartis, inzwischen erste Betriebsvereinbarungen zur Vertrauensarbeitszeit. Rainer Trinczek, der dazu an der Technischen Universität München forscht, hält eine solche "betriebliche Regulierung" für sinnvoll. Die "individuelle Arbeitszeitfreiheit" müsse als Teil der Unternehmenskultur anerkannt sein - und sich in den Köpfen der betroffenen Mitarbeiter als "normative Orientierung" festsetzen.

Maßlose Erwartungen

"Maßlose Profiterwartungen, maßlose Zielvorgaben, maßlose Anforderungen": So beschreibt Wilfried Glißmann das Rädchen, in dem sich seine Kollegen drehen. Der Betriebsrat regte in der Düsseldorfer Niederlassung von IBM intensive Debatten über die "Arbeit ohne Ende" an - und stieß auf unerwartet große Resonanz. Zusammen mit der IG Metall startete er daraufhin die Initiative "Meine Zeit ist mein Leben", die weit über gewerkschaftliche Kreise hinaus Anklang fand. Die Aktivisten verteilten "Zeitkarten" im Unternehmen, auf denen Fragen wie diese beantwortet werden sollten: "Wie viele Stunden des heutigen Tages habe ich mit Arbeit verbracht? Wie viele Stunden hatte ich für mich selbst?" Nach und nach wurde den Mitarbeitern klar, dass die Ursache ihrer Erschöpfung keineswegs in ihrer persönlicher Unfähigkeit liegt. Sie brachten den nur scheinbar privaten "Terror der Seele" an die Öffentlichkeit - und versuchten, zusammen mit ihren Kollegen gegen überzogene Arbeitsanforderungen anzugehen.

Auch Walter Hartmann versucht, sein Leben zu ändern. Nach einigen Ehekrächen hat er sich vorgenommen, seinen Heim-PC nur noch in ganz dringenden Fällen für berufliche Zwecke zu nutzen. Sein Mobiltelefon bleibt abends und am Wochenende grundsätzlich stumm. "Ich habe gemerkt, dass ich zu Hause bisweilen nur noch körperlich anwesend war", berichtet er selbstkritisch. Jetzt will er klare Grenzen ziehen und sich von der tückischen Vertrauensarbeitszeit nicht weiter in die Enge treiben lassen: "Ich möchte einfach wieder mehr Raum für meine Familie und für persönliche Interessen haben."


* Name geändert


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.