Deutscher Bundestag
English    | Français   
 |  Sitemap  |  Kontakt  |  Fragen/FAQ  |  Druckversion
 
Startseite > AKTUELL > Themen der Woche - Rückblick > 2005 >
14.06.2005
Archiv 2005
[ zurück ]   [ Übersicht ]   [ weiter ]

Ist der Verfassungsvertrag noch zu retten?

Fahnen der EU-Mitgliedsländer vor dem Eingang des EU-Ratsgebäudes
Fahnen der EU-Mitgliedsländer vor dem Eingang des EU-Ratsgebäudes
© dpa

Einleitung

Frankreich und die Niederlande haben sich mit einem klaren Nein in Volksabstimmungen gegen den Vertrag über eine Verfassung für Europa (Verfassungsvertrag) ausgesprochen. Die Konsequenzen für Europa sind bislang noch nicht abzusehen. Fest steht lediglich, dass der Verfassungsvertrag nur in Kraft treten kann, wenn er von sämtlichen 25 Mitgliedstaaten nach den jeweils dafür vorgesehenen nationalen Verfahren ratifiziert wird. Bislang haben 10 Staaten, darunter Deutschland, das Vertragswerk ratifiziert. Die Staats- und Regierungschefs wollen auf dem Europäischen Rat am 16./17. Juni 2005 in Brüssel über das weitere Vorgehen beraten. Verschiedene Szenarien sind dabei denkbar.

Der Ratifizierungsprozess wird fortgeführt

Der luxemburgische Ratspräsident Juncker, EU-Kommissionspräsident Barroso und Parlamentspräsident Borrell fordern die Fortsetzung des Ratifizierungsverfahrens in sämtlichen EU-Staaten. Ähnlich haben sich auch mehrere Staats- und Regierungschefs geäußert. Erst Ende 2006, nach Abschluss des Verfahrens, könne man entscheiden, wie weiter verfahren werden solle. Diese Position stützt sich auf eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs der EU, die dem Ende Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Verfassungsvertrag beigefügt ist. Diese Erklärung sieht vor, dass, falls zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages - also Ende Oktober 2006 - mindestens 20 von 25 EU-Mitgliedstaaten (vier Fünftel) ratifiziert haben und in einem oder mehreren Mitgliedstaaten "Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten sind", sich der Europäische Rat erneut mit dem Stand des Ratifizierungsprozesses befasst (sog. Rendez-vous-Klausel).

Diese Position berücksichtigt allerdings nicht den möglichen Fall, dass Ende 2006 weniger als 20 Mitgliedstaaten den Verfassungsvertrag ratifiziert haben werden.

Die Ratifizierung wird ausgesetzt

Als erster Mitgliedstaat hat das Vereinigte Königreich angekündigt, sein Ratifizierungsverfahren vorläufig auszusetzen. Polen und Tschechien erwägen ebenfalls eine solche "Denkpause". Umstritten ist, ob die Mitgliedstaaten zur Fortführung des Ratifizierungsverfahrens verpflichtet sind. Aus der bereits erwähnten "Rendez-vous-Klausel" lässt sich keine rechtliche Verpflichtung herleiten, den Verfassungsvertrag bis Oktober 2006 dem innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren unterworfen haben zu müssen. Solche Erklärungen begründen nach überwiegender Auffassung lediglich eine politische Bindung.

Eine Pflicht zur Ratifizierung könnte aus Artikel 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WVK) erwachsen. Dieser verpflichtet Staaten, die einen völkerrechtlichen Vertrag - ein solcher ist der Verfassungsvertrag - unter dem Vorbehalt der Ratifikation unterzeichnet haben, "sich aller Handlungen zu enthalten, die Ziel und Zweck eines Vertrags vereiteln würden".
Artikel 18 WVRK ließe sich allerdings auch politisch dahin gehend auslegen, dass ein Festhalten an dem Ratifizierungsprozess ohne Berücksichtigung der aktuellen Stimmungslage in Europa den Verfassungsvertrag erst recht vereiteln würde.

"Opting-out-Klauseln" oder interpretierende Erklärungen

Theoretisch denkbar wären interpretierende Zusatzerklärungen oder "Opting-out-Klauseln" zum Verfassungsvertrag, die Vorbehalten Rechnung trügen, damit die Bürger in einer zweiten Abstimmung doch noch zustimmen. Ein solcher zweiter Anlauf wäre keine Premiere. So stimmten die Iren dem Vertrag von Nizza 2001 erst in der zweiten Runde zu, nachdem der Europäische Rat klar gestellt hatte, dass Irlands Neutralität nicht in Frage gestellt werde. Auch die Dänen stimmten 1992 in einem Referendum zum Vertrag von Maastricht zunächst mehrheitlich gegen den Vertrag. Mit der Herausnahme bestimmter Bereiche (Euro und Verteidigungsfragen) konnte die Zustimmung in einer zweiten Abstimmung gesichert werden. Ein solches Vorgehen erscheint bei dem sorgfältig austarierten Kompromiss des Verfassungsvertrags bislang nicht denkbar und ist auch nicht in Aussicht gestellt worden.

Die "Nizza-Plus-Lösung" oder der "Plan B"

Ein solcher Ansatz bestünde darin, einzelne in der Verfassung vorgesehene Reformen herauszulösen, soweit für diese keine Änderung des Vertrages von Nizza und damit kein Ratifizierungsprozess nötig wäre. Es könnte erwogen werden, eine Abstimmung nach dem Modell der doppelten Mehrheit, die Idee eines europäischen Außenministers oder eines Europäischen Auswärtigen Dienstes zumindest ansatzweise durch Beschlüsse des Rates, interinstitutionelle Vereinbarungen oder Zusatzprotokolle umzusetzen. Der Vertrag von Nizza sieht zudem die Möglichkeit einer "verstärkten Zusammenarbeit" vor: Mindestens acht EUMitgliedstaaten könnten so gemeinsam als eine Art politische Avantgarde ein Projekt vorantreiben, etwa bei der Sozial- und Steuerpolitik. Das Vorziehen einzelner Politikfelder wird bislang jedoch nicht ernsthaft diskutiert, bedeutete es wohl das Ende des Gesamtprojektes Verfassungsvertrag.

Zweiteilung des Verfassungsvertrages

Der Verfassungsvertrag ist in vier Teile gegliedert: Teil I beinhaltet grundlegende Verfassungsbestimmungen, d.h. er definiert die Ziele, Zuständigkeiten, Entscheidungsverfahren und Organe der Union. Teil II integriert die Charta der Grundrechte, welche vom Europäischen Rat in Nizza 2000 verkündet wurde. In Teil III werden Politikbereiche und Arbeitsweise der Union präzisiert. Der letzte Teil enthält die allgemeinen und die Schlussbestimmungen.

Eine bislang wenig erörterte Möglichkeit könnte darin bestehen, den Verfassungsvertrag in einen gekürzten Verfassungstext und einen operativen Ausführungsvertrag aufzuteilen. Dieser bereits im Verfassungskonvent aufgeworfene Vorschlag könnte Vorbehalte gegen Teil III des Verfassungsvertrages auffangen. Kritisiert wurden hauptsächlich dessen "Sperrigkeit", aber auch die verfassungsrechtliche Präjudizierung umstrittener Politikbereiche wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik. Der Verfassungsteil müsste dann erneut zur Abstimmung gestellt und europaweit ratifiziert werden.

Quellen:
  • Vertrag über eine Verfassung für Europa in der am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten und am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union (Reihe C Nr. 310) veröffentlichten Fassung.
  • Vertrag über die Europäische Union (EUV) vom 7. Februar 1992 in der Fassung vom 16. April 2003 - Vertrag von Nizza (BGBl. 2002 II S.1666).
  • Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927).
Verfasser: ORR Jan Muck Schlichting, Fachbereich XII
Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2005/w_dienst2/
Seitenanfang [TOP]
Druckversion Druckversion
ZUM THEMA