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072/2000
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Sonderveranstaltung zum 10. Jahrestag der freien Volkskammerwahl

THIERSE: DEN STAAT VOM SOCKEL GEHOLT UND ZUR BÜRGERSACHE GEMACHT

Berlin: (hib/VOM-nl) Die freie Volkskammer des Jahres 1990 hat nach den Worten von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ein großes Kapitel in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus geschrieben.

Thierse und die damalige Präsidentin der Volksammer der DDR, Sabine Bergmann-Pohl, sowie weitere Redner erinnerten am Freitagvormittag in einer Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages an den 18. März 1990, den Tag der ersten freien Volkskammerwahl, der sich morgen zum zehnten Mal jährt.

An diesem Tag sei der Staat "in seiner Allmacht" vom Sockel geholt und zur Sache der Bürger gemacht worden.

Er habe einen "wichtigen Wendepunkt" zwischen der revolutionären und der parlamentarischen Phase der friedlichen Revolution in der DDR markiert.

Aus Bewegungen seien Parteien, aus einfachen Bürgern Parlamentarierinnen und Parlamentarier geworden. Thierse dankte ausdrücklich allen Männern und Frauen, die sich damals den Aufgaben eines parlamentarischen Mandats stellten, für ihren Mut, ihre zivile Gesinnung, ihren Einsatz und ihr Vorbild.

Mit der Wahl habe sich Ostdeutschland nicht nur für die parlamentarische Demokratie und für die deutsche Einheit entschieden.

Die Entscheidung habe auch an die Stelle einer diktatorisch-patriarchalischen Staatsführung einen Staat gesetzt, der Teil der Gesellschaft sei und der bei weitem nicht für alles verantwortlich sein dürfe, was in der Gesellschaft geschieht.

Die Bürgerinnen und Bürger bat der Präsident, ihre Kritik, ihren Mut und ihre Aufmerksamkeit nicht allein dafür zu verwenden, die Politik zu kontrollieren, sondern auch Intoleranz und Gewalt in der Gesellschaft abzuwehren.

Sabine Bergmann-Pohl betonte, die letzten sechs Monate und nicht die ersten 40 Jahre der Volkskammer sicherten ihr einen besonderen Platz in der deutschen Parlamentsgeschichte.

Die Bürger der DDR hätten sich die freie Abstimmung regelrecht erkämpft. Wahlfälschungen seien nicht mehr hingenommen worden.

Die Abgeordneten hätten damals in "politischer Lichtgeschwindigkeit" gearbeitet, um in 39 Plenartagungen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse zu verabschieden.

"Damit betrieben wir gleichzeitig in Rekordzeit unsere Selbstauflösung", sagte die heutige Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion.

Zeit zum Üben habe es nicht gegeben, und manches habe etwas "handgestrickt" gewirkt. Die Volkskammer habe aber ihren Auftrag erfüllt, an der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung mitzuwirken.

Unter großem Beifall dankte Bergmann-Pohl den Abgeordneten von damals, ihren Familien und Mitarbeitern, dem Deutschen Bundestag für die Unterstützung sowie den beiden Regierungen unter Helmut Kohl und Lothar de Maizière.

Sie stellte das Werden der Einheit in den Mittelpunkt, denn 40 Jahre Leben in zwei Staaten hätten es nicht vermocht, das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zu verdrängen.

Die nachfolgenden Redner versuchten in unterschiedlicher Weise, ein persönlich gefärbtes Bild der damaligen Zeit nachzuzeichnen und Arbeitsklima und Arbeitsbedingungen in der Volkskammer anschaulich darzustellen.

Dabei machten sie sich die von westlicher Seite geäußerte Bezeichnung als "Laienspieler" für die Volkskammer-Abgeordneten rückblickend im positiven Sinne zu eigen.

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt und damalige Volkskammer-Vizepräsident Reinhard Höppner (SPD) widersprach der Ansicht, den Ostdeutschen sei damals die westdeutsche Ordnung einfach übergestülpt worden.

Das Volks habe damals die Einheit so schnell wie möglich gewollt. In kleinen Zeiträumen seien riesige Reformen in Gang gesetzt worden.

Der ehemalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) erinnerte an den Runden Tisch, der der "demokratischen Selbstfindung" gedient und den Übergang zu parlamentarischen Verfahren geebnet habe.

Inzwischen gebe es zwischen Ost und West eine "Alltagssolidarität". "Der Weg, den wir gehen, ist richtig", sagte de Maizière.

Wolfgang Ullmann, damals Volkskammer-Vizepräsident für die Fraktion Bündnis 90/Grüne, betonte, die Anwesenheit der Bürgerbewegungen habe die Repräsentativität der Volkskammer gestärkt.

In demokratischer Einmütigkeit habe man eine "gewaltlose Front" gegen die in der Vergangenheit übermächtigen Feinde artikuliert.

Ullmann beklagte, dass es damals nicht zu einem Verfassungsprozess gekommen ist und plädierte dafür, wenigstens Volksabstimmungen auf Bundesebene einzuführen.

Ein weiterer Vizepräsident der Volkskammer, Jürgen Schmieder von den Liberalen, wies darauf hin, damals sei jeder Schritt der politischen Akteure in der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt worden.

"Der Alltag der Volkskammer war kein Tag Alltag", sagte Schmieder unter Hinweis auf die enorme Sacharbeit, die das Parlament zu bewältigen hatte.

Auch Gregor Gysi (PDS) erinnerte an das starke politische Interesse an der Volkskammerarbeit. So etwas habe es weder zuvor noch danach gegeben.

Viele Entscheidungen seien von der gesamten Volkskammer getragen worden. Professor Richard Schröder (SPD) sah Grund, "ein bisschen stolz" zu sein auf die Volkskammer.

Die Westdeutschen bat er, den Ostdeutschen ihren Stolz zu belassen. Hans Geisler, damals Abgeordneter des "Demokratischen Aufbruch", sagte, aus der "bevormundenden Sicherheit" sei für die Ostdeutschen eine "risikoreiche Selbstverantwortung" geworden.

Entlassen worden sei mit der Wahl am 18. März 1990 jedoch die DDR-Nomenklatur aus ihrer Amtsanmaßung.



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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/hib/2000/0007201
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