Pressemitteilung
Datum: 15.09.2003
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
15.09.2003
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: "Toleranz ist eine kulturelle und zivilgesellschaftliche Leistung"
Es gilt das gesprochene Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse übergibt
heute in der nordrhein-westfälischen Stadt Wülfrath eine
neu erbaute Moschee ihrer Bestimmung. Bei einem Festakt (Beginn: 15
Uhr) hält der Bundestagspräsident nachstehende
Rede:
"Die Muslime in Wülfrath haben für ihre Gottesdienste - endlich - einen würdigen Ort. Das ist in Deutschland noch keineswegs selbstverständlich. Allzu häufig müssen Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens in improvisierten Moscheen, in notdürftig hergerichteten Gewerberäumen oder in Privatwohnungen beten. Islamische Gotteshäuser finden sich versteckt in Garagen, Fabriketagen oder Ladenwohnungen. Eine Zeitung aus Berlin titelte kürzlich: "Berliner Moslems wollen heraus aus den Hinterhöfen". In Wülfrath sind die Muslime diesen Schritt schon erfolgreich gegangen! Ihnen dafür zu gratulieren, bin ich gern gekommen.
Nicht zuletzt ist diese Moschee mit ihrem weit sichtbaren Minarett unübersehbarer Beleg für die in Artikel 4 des Grundgesetzes verankerte Religionsfreiheit in Deutschland. Artikel 4 garantiert allen Gläubigen - nicht nur Christen - , dass sie ihren Glauben frei ausüben können. Das meint allerdings eine Freiheit auf Gegenseitigkeit: Religionsfreiheit verlangt auch etwas, nämlich die Religionen der anderen zu tolerieren und anzuerkennen. Religionsfreiheit setzt geradezu voraus, dass Kirche und Staat voneinander getrennt sind; ich kenne kein Beispiel dafür, dass es dort, wo es eine Staatsreligion gab oder gibt, Religionsfreiheit gewährleistet wäre. Konsequenterweise ist das Grundgesetz die maßgebliche Basis für das zivile Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft, weder die Bibel noch der Koran können an die Stelle der Verfassung treten. Soweit dies akzeptiert wird, freue ich mich über jede Moschee genauso wie über jede Synagoge und jede christliche Kirche.
Aber so einfach ist es ja nicht mit der Toleranz. Das haben Sie alle hier in Wülfrath gelernt. Wir sind zwar kein christlicher Staat, aber wir sind eine noch immer christlich geprägte Gesellschaft. Da erscheint es zunächst befremdlich, wenn sich andere Sitten und Gebräuche, andere religiöse Traditionen und Riten offen präsentieren. Folglich waren die Vorbehalte und Widerstände gegen den Plan, eine Moschee zu bauen, zuerst beträchtlich gewesen. Das ist auch ganz menschlich. Entscheidend aber ist, wie es nach diesen ersten Emotionen weitergeht. Führen sie dazu, dass sich die Angehörigen verschiedener Religionen bis hin zur Feindseligkeit voneinander abgrenzen, oder erinnern sie sich an das Angebot des Grundgesetzes? Toleranz ist nicht von selbst vorhanden, sie ist eine kulturelle, eine zivilgesellschaftliche Leistung. Und diese Leistung haben die Bürgerinnen und Bürger von Wülfrath erbracht.
Das ist auch und gerade der Offenheit und der Gastfreundschaft der islamischen Gemeinde zu verdanken. Nicht weniger als 6.000 Gäste sind - so wurde mir berichtet - während der Bauphase der Einladung des Vereins gefolgt, haben sich vom Baufortschritt überzeugt und haben sich dabei über den Islam informiert. Das alles ist nicht hoch genug einzuschätzen in einer Zeit, in der es auch in der islamischen Welt die ungute Tendenz gibt, sich auf vermeintlich "ursprüngliche" Werte zurückzuziehen und sich von der westlichen Welt abzuschotten. Und dies übrigens nicht erst seit dem Krieg im Irak.
Es ist Tatsache, dass die sogenannte Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite und Zuwanderer auf der anderen Seite unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche kulturelle Prägungen haben. Es kann also gar nicht sein, dass sich daraus keine Konflikte ergeben. Sie vermeiden zu wollen, sie zu verschweigen und unter den Teppich zu kehren, wäre grundfalsch. Eine kulturell vielfältige Gesellschaft bedeutet, diese Konflikte im Alltag wie auch grundsätzlich zur Sprache zu bringen. Der interkulturelle Dialog beschränkt sich nicht auf die gegenseitige Zusicherung guten Willens, sondern beinhaltet Arbeit an Konfliktlösungen auf friedliche Weise. Eine Art der Konfliktlösung besteht darin, diese Unterschiede auszuhalten, sie anzunehmen. Das ist aktive Toleranz im Unterschied zur Ignoranz.
Wenn islamische Mitbürger eine Moschee bauen wollen, dann bedeutet das ja auch: "Wir wollen hier bleiben, wir wollen in Deutschland dauerhaft leben, wir sind nicht mehr wegzudenkender Teil der deutschen Gesellschaft." Dank auch solcher Signale hat sich in der deutschen Gesellschaft einiges verändert. Ermutigend und vor einiger Zeit so nicht vorstellbar ist beispielsweise, dass alle gesellschaftlichen Kräfte, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und fast alle anderen Gruppen und Verbände im Interesse friedlicher und gelingender Integration das von der Bundesregierung vorgelegte Zuwanderungsgesetz befürworten.
Das Gesetz will insbesondere die Möglichkeiten der Integration von Einwanderern verbessern und auch die Anforderungen an Einwanderer verdeutlichen.
Integration ist auch so ein prinzipiell selbstverständliches, im Alltag durchaus schwieriges Unterfangen. Mit dem Bau der Moschee unterstreichen Sie hier in Wülfrath: Integration bedeutet nicht "Anpassung"; Integration bedeutet auch, die kulturelle Vielfalt als Bereicherung anzunehmen. Allerdings würden alle darauf gerichteten Anstrengungen scheitern müssen, wenn die deutsche Sprache nicht beherrscht wird oder wenn unsere Gesetze nicht respektiert werden. Integration stellt also hohe Anforderungen an die hier lebenden Menschen aus anderen Kulturkreisen. Die Selbstverständigung, der Weg zu aktiver Toleranz wäre nicht möglich, wenn die Beteiligten sich schon deshalb nicht verstehen, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Wenn das Ergebnis aber eine Gesellschaft ist, in der wir alle ohne Angst verschieden sein können, dann, so finde ich, haben sich alle Anstrengungen gelohnt.
Damit zurück zum positiven Beispiel: zu dieser Moschee. Weil die Muslime in Wülfrath es so wollen, wird sie ein Ort der Begegnung sein. Das ist ein gutes, ein hoffnungsvolles Zeichen. Ich wünsche mir in unserer Gesellschaft noch viel mehr davon. In diesem Sinne gratuliere ich noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern von Wülfrath zur Errichtung dieser Moschee und wünsche Ihnen ein friedliches, ein einander zugewandtes Zusammenleben in Ihrer gemeinsamen Stadt."
"Die Muslime in Wülfrath haben für ihre Gottesdienste - endlich - einen würdigen Ort. Das ist in Deutschland noch keineswegs selbstverständlich. Allzu häufig müssen Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens in improvisierten Moscheen, in notdürftig hergerichteten Gewerberäumen oder in Privatwohnungen beten. Islamische Gotteshäuser finden sich versteckt in Garagen, Fabriketagen oder Ladenwohnungen. Eine Zeitung aus Berlin titelte kürzlich: "Berliner Moslems wollen heraus aus den Hinterhöfen". In Wülfrath sind die Muslime diesen Schritt schon erfolgreich gegangen! Ihnen dafür zu gratulieren, bin ich gern gekommen.
Nicht zuletzt ist diese Moschee mit ihrem weit sichtbaren Minarett unübersehbarer Beleg für die in Artikel 4 des Grundgesetzes verankerte Religionsfreiheit in Deutschland. Artikel 4 garantiert allen Gläubigen - nicht nur Christen - , dass sie ihren Glauben frei ausüben können. Das meint allerdings eine Freiheit auf Gegenseitigkeit: Religionsfreiheit verlangt auch etwas, nämlich die Religionen der anderen zu tolerieren und anzuerkennen. Religionsfreiheit setzt geradezu voraus, dass Kirche und Staat voneinander getrennt sind; ich kenne kein Beispiel dafür, dass es dort, wo es eine Staatsreligion gab oder gibt, Religionsfreiheit gewährleistet wäre. Konsequenterweise ist das Grundgesetz die maßgebliche Basis für das zivile Zusammenleben in unserer pluralistischen Gesellschaft, weder die Bibel noch der Koran können an die Stelle der Verfassung treten. Soweit dies akzeptiert wird, freue ich mich über jede Moschee genauso wie über jede Synagoge und jede christliche Kirche.
Aber so einfach ist es ja nicht mit der Toleranz. Das haben Sie alle hier in Wülfrath gelernt. Wir sind zwar kein christlicher Staat, aber wir sind eine noch immer christlich geprägte Gesellschaft. Da erscheint es zunächst befremdlich, wenn sich andere Sitten und Gebräuche, andere religiöse Traditionen und Riten offen präsentieren. Folglich waren die Vorbehalte und Widerstände gegen den Plan, eine Moschee zu bauen, zuerst beträchtlich gewesen. Das ist auch ganz menschlich. Entscheidend aber ist, wie es nach diesen ersten Emotionen weitergeht. Führen sie dazu, dass sich die Angehörigen verschiedener Religionen bis hin zur Feindseligkeit voneinander abgrenzen, oder erinnern sie sich an das Angebot des Grundgesetzes? Toleranz ist nicht von selbst vorhanden, sie ist eine kulturelle, eine zivilgesellschaftliche Leistung. Und diese Leistung haben die Bürgerinnen und Bürger von Wülfrath erbracht.
Das ist auch und gerade der Offenheit und der Gastfreundschaft der islamischen Gemeinde zu verdanken. Nicht weniger als 6.000 Gäste sind - so wurde mir berichtet - während der Bauphase der Einladung des Vereins gefolgt, haben sich vom Baufortschritt überzeugt und haben sich dabei über den Islam informiert. Das alles ist nicht hoch genug einzuschätzen in einer Zeit, in der es auch in der islamischen Welt die ungute Tendenz gibt, sich auf vermeintlich "ursprüngliche" Werte zurückzuziehen und sich von der westlichen Welt abzuschotten. Und dies übrigens nicht erst seit dem Krieg im Irak.
Es ist Tatsache, dass die sogenannte Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite und Zuwanderer auf der anderen Seite unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Weltanschauungen, unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche kulturelle Prägungen haben. Es kann also gar nicht sein, dass sich daraus keine Konflikte ergeben. Sie vermeiden zu wollen, sie zu verschweigen und unter den Teppich zu kehren, wäre grundfalsch. Eine kulturell vielfältige Gesellschaft bedeutet, diese Konflikte im Alltag wie auch grundsätzlich zur Sprache zu bringen. Der interkulturelle Dialog beschränkt sich nicht auf die gegenseitige Zusicherung guten Willens, sondern beinhaltet Arbeit an Konfliktlösungen auf friedliche Weise. Eine Art der Konfliktlösung besteht darin, diese Unterschiede auszuhalten, sie anzunehmen. Das ist aktive Toleranz im Unterschied zur Ignoranz.
Wenn islamische Mitbürger eine Moschee bauen wollen, dann bedeutet das ja auch: "Wir wollen hier bleiben, wir wollen in Deutschland dauerhaft leben, wir sind nicht mehr wegzudenkender Teil der deutschen Gesellschaft." Dank auch solcher Signale hat sich in der deutschen Gesellschaft einiges verändert. Ermutigend und vor einiger Zeit so nicht vorstellbar ist beispielsweise, dass alle gesellschaftlichen Kräfte, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände und fast alle anderen Gruppen und Verbände im Interesse friedlicher und gelingender Integration das von der Bundesregierung vorgelegte Zuwanderungsgesetz befürworten.
Das Gesetz will insbesondere die Möglichkeiten der Integration von Einwanderern verbessern und auch die Anforderungen an Einwanderer verdeutlichen.
Integration ist auch so ein prinzipiell selbstverständliches, im Alltag durchaus schwieriges Unterfangen. Mit dem Bau der Moschee unterstreichen Sie hier in Wülfrath: Integration bedeutet nicht "Anpassung"; Integration bedeutet auch, die kulturelle Vielfalt als Bereicherung anzunehmen. Allerdings würden alle darauf gerichteten Anstrengungen scheitern müssen, wenn die deutsche Sprache nicht beherrscht wird oder wenn unsere Gesetze nicht respektiert werden. Integration stellt also hohe Anforderungen an die hier lebenden Menschen aus anderen Kulturkreisen. Die Selbstverständigung, der Weg zu aktiver Toleranz wäre nicht möglich, wenn die Beteiligten sich schon deshalb nicht verstehen, weil sie verschiedene Sprachen sprechen. Wenn das Ergebnis aber eine Gesellschaft ist, in der wir alle ohne Angst verschieden sein können, dann, so finde ich, haben sich alle Anstrengungen gelohnt.
Damit zurück zum positiven Beispiel: zu dieser Moschee. Weil die Muslime in Wülfrath es so wollen, wird sie ein Ort der Begegnung sein. Das ist ein gutes, ein hoffnungsvolles Zeichen. Ich wünsche mir in unserer Gesellschaft noch viel mehr davon. In diesem Sinne gratuliere ich noch einmal allen Bürgerinnen und Bürgern von Wülfrath zur Errichtung dieser Moschee und wünsche Ihnen ein friedliches, ein einander zugewandtes Zusammenleben in Ihrer gemeinsamen Stadt."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2003/pz_0309155