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"Botschaft für heute" Beitrag des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Wolfgang Thierse, MdB, anläßlich der Gedenkveranstaltung zu Beginn des 28. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Stuttgart am 16. Juni 1999

Es gilt das gesprochene Wort

"Wir gedenken in dieser Stunde der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Stuttgart. Ausgebeutet von einem verbrecherischen Regime. Ihrer Rechte und ihrer Würde beraubt. Mit ihnen gedenken wir auch aller anderen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Die Täter waren Deutsche.

Daran gilt es zu erinnern. Auch wenn sich vermehrt Stimmen erheben, die meinen, es sei genug des Erinnerns, genug der Selbsterniedrigung. Nein. Es ist nicht genug. Wir sind es den Opfern schuldig. Und kann es erniedrigend sein, Schuld zu bekennen? Kann es erniedrigend sein, wenn wir Deutschen die Last unserer Geschichte auf uns nehmen, um Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen? Scham ist ein Moment, ein Teil unserer menschlichen Würde!

Aber es geht nicht um ein stereotypes "mea culpa". Es geht um ein entschiedenes "nie wieder". Nur wer um das Ausmaß begangener Verbrechen und die grundsätzliche Gefahr ihrer Wiederholbarkeit weiß, kann widerstehen.

Deshalb ist es unverzichtbar, den Tendenzen zur Verdrängung des dunkelsten Kapitels unserer Vergangenheit entgegenzutreten. Deshalb ist es unverzichtbar, die Erinnerung an Inhumanität, Ausgrenzung und Verfolgung, die Erinnerung an Leid, Schmerz, Angst, Hoffnungslosigkeit und Tod nicht der Vergessenheit anheim fallen zu lassen.

Doch genügt nicht Erinnern allein. Es ist unsere Pflicht vor der Geschichte, die Erinnerung an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, deren Erinnern nicht aus eigenem Erleben kommen kann. Diese Aufgabe geht uns alle an. Dabei kommt es ganz entscheidend darauf an, das Entsetzliche nicht bloß als theoretisches Wissen zu vermitteln, sondern es auch für die Nachgeborenen mit dem Herzen erfahrbar und begreifbar zu machen. Unser Ziel muß sein, dem Vergangenen in unserem Innern Raum zu schaffen, so daß es darin wirken und das Handeln beeinflussen kann. Denn das Handeln erst ist der Nachweis dafür, daß die Saat des Erinnerns aufgegangen ist.

Ich nenne dafür ein Beispiel, ein sehr sprödes Beispiel: Seit Monaten wird über einen Entschädigungsfond der deutschen Wirtschaft verhandelt. Über 50 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft geht es um materielle Entschädigung für Zwangsarbeiter in deutschen Unternehmen, geht es um moralische Anerkennung des Leidens der ausgebeuteten Juden, Polen, Russen und vieler anderer. Es ist allerhöchste Zeit dafür, es ist beschämend, ja skandalös spät, denn so viele der Opfer leben ja nicht mehr. Also sollte nicht Kleinlichkeit regieren, sondern die Bereitschaft, aus der Erinnerung aus eigener Schuld die Konsequenzen zu ziehen. Folgenloses Erinnern ist billig. Folgenreiches Gedenken kann schmerzlich, im wörtlichen Sinne teuer sein. Unterstützen wir alle, auch die deutsche Wirtschaft, bei solch' folgenreichem Tun!

Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes, dessen 50jähriges Bestehen wir vor knapp einem Monat feiern konnte, haben die Lehren aus Unfreiheit, Inhumanität und Diktatur gezogen. Deutschland ist heute eine freiheitliche Demokratie. Es hat die historische Aussöhnung mit Israel erreicht. Es lebt in Frieden und Freundschaft mit all seinen Nachbarn, fest verankert im zusammenwachsenden Europa und im atlantischen Bündnis. Auf friedlichem Wege hat es seine Wiedervereinigung erlangt und mit dazu beigetragen, das System des menschenverachtenden Kommunismus zum Scheitern zu bringen.

Achtung der Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit sind die tragenden Säulen unserer Grundordnung. Sie gilt es für die Zukunft zu bewahren. Denn Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich. Es ist daher unerläßlich, bereits ersten Ansätzen der Verletzung von Menschenrechten mit allen dem Rechtsstaat zur Verfügung stehenden Mitteln zu wehren.

Aus der historischen Erfahrung von Unterdrückung und Gewalt speist sich unser fester Wille, nie wieder zuzulassen, daß Menschen aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt, in ihren Menschen- und Grundrechten verletzt werden. Nicht hier. Und nicht anderswo. Im Inland der Umgang mit Ausländern, die Bereitschaft zur solidarischen Aufnahme von Flüchtlingen, die Fähigkeit zum toleranten Umgang mit Fremden und mit Fremdem - daran sind wir zu messen.

Wir dürfen nicht wegsehen, sondern müssen handeln. Und es genügt nicht, Menschenrechte nur zu fordern. Die schmerzliche Erfahrung der letzten Monate hat uns gelehrt, daß wir auch bereit sein müssen, sie aktiv zu verteidigen. Für ein friedliches Europa. Für eine friedliche Welt. Wie wir das tun, darüber werden wir streiten; daß wir es tun, das sollte unstrittig sein.

Lassen Sie uns gemeinsam für den Frieden beten."

Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/1999/020
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