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Reden 2003
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Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, zur Verleihung des "Erich-Kästner-Preises" an Richard von Weizsäcker am 07.09.2003 in Dresden

Der heutige Preisträger hat schon so viele Preise und Ehrungen erhalten, dass schon alles Lobende über ihn und sein Wirken gesagt sein sollte, sein müßte. Da bleibt wenig Platz für eine originelle Laudatio meinerseits.

Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich zur heutigen Auszeichnung. Für mein Verständnis ist sie verdient. Aber dabei kann ich es nun schlecht bewenden lassen. Das würde weder dem Geehrten noch den Stiftern des Preises gerecht werden.

Der Erich-Kästner-Preis ist gewissermaßen ein "Doppeltes Lottchen". Es gibt ihn gleich zweifach. Den einen verleiht die Erich-Kästner-Gesellschaft für herausragende Satiriker. Das ist ein Feld, auf dem Richard von Weizsäcker öffentlich bislang nicht in Erscheinung getreten ist - wenngleich ich hier verraten darf: Humor hat er!

Der andere Erich-Kästner-Preis, der, um den es heute geht, wird verliehen für Verdienste um Völkerverständigung, Toleranz, Humanität - in Erinnerung an den radikalen, streitlustigen Humanisten Erich Kästner. Vergeben wird der Preis vom Dresdener Presseclub, der Journalistenvereinigung in der Heimatstadt Erich Kästners, wo sozusagen alles anfing. Kästner hat hier in seinen jungen Jahren sächsische Zeitungen mit Texten beliefert. Er war also auch ein früherer Kollege der heutigen Dresdner Journalisten.

Der spätere "Gebrauchslyriker", Autor, Satiriker, Kabarettist, Drehbuchschreiber, Geschichten für Kinder-Erzähler hat uns ernste und heitere Zeilen hinterlassen, die von einer friedlichen und aufgeklärten Welt träumen, die das politisch Wünschbare entschlossen der realen Machtpolitik entgegenhalten und in denen die Menschen mit ihren Schwächen und gerade deswegen geliebt werden.

Richard von Weizsäcker hat etwas ganz anderes gemacht: er hat in seiner politischen Laufbahn oft genug und entschlossen versucht, das politisch Wünschbare in realpolitische Schritte zu übersetzen. Kein Wunder, dass so ein Mann einer der politischsten Bundespräsidenten geworden ist, die wir je das Glück hatten, haben zu dürfen!

Ich will einiges in Erinnerung rufen: Früh schon hat Richard von Weizsäcker darauf hingewiesen, dass uns das krasse Wohlstandsgefälle zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden global Sorgen machen muss. Als deutscher Weltbürger hat er sich für eine neue Art weltweiter Interessenpolitik stark gemacht, eine Politik, die den eigentlichen Sinn des Wortes Interesse erkennen lässt: nämlich nicht nur als Verfolgen egoistischer Ziele, sondern auch als Zuwendung, Teilnahme, Aufmerksamkeit - weltumspannendes Denken und Handeln. Das schließt nicht aus, die Beseitigung von Armut und die Mehrung von Chancengleichheit auch aus vernünftigem Eigeninteresse anzustreben. Wenn wir dies heute auf vielen Feldern - politisch wie wirtschaftlich - in unserem Denken und Handeln stärker einbeziehen, ist das auch Ihr Verdienst. Wo wir aber wieder kleinlicher und egoistischer werden, bleiben Ihre frühen Wegweisungen aktuell und gültig.

Ein zweites Stichwort: Der Umgang mit unserer Geschichte. Richard von Weizsäcker hat davor gewarnt, den bequemen Weg des Verdrängens und Vergessens einzuschlagen. Es gelte immer, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Diese zentrale Botschaft aus ihrer Rede zum 8. Mai 1945 bleibt in Erinnerung. Selten hat eine Rede die Menschen so bewegt, übrigens nicht nur in der Bundesrepublik. Auch in der DDR wurden Ihre Worte sehr genau wahrgenommen und gefühlt: Da spricht jemand in unserem Sinne, in unserem Namen.

Der Maxime, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, ist Richard von Weizsäcker selbst mit Konsequenz gefolgt, so bei seinen Staatsbesuchen in Israel, in Holland, in der Sowjetunion, in der Tschechoslowakei und - vielleicht am schwierigsten - in Polen. Fünfzig Jahre nach dem deutschen Überfall auf Polen - am 1. September 1989 - fand Richard von Weizsäcker beeindruckend klare Worte zur schwierigen Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen. Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen begleitet Sie Ihr ganzes Leben. Als gerade 18jähriger mussten Sie als Infanterist in Polen einmarschieren und hat alle Entsetzlichkeiten des Krieges miterlebt. Auch deshalb lag und liegt Ihnen die Versöhnung zwischen den Menschen beider Länder besonders am Herzen. Gegen alle Dauerkritik aus der eigenen Partei war Richard von Weizsäcker engagierter Befürworter der sozialliberalen Entspannungspolitik. Oder sollte ich sogar sagen: Wegbereiter? Denn bereits Mitte der 60er Jahre ist er - als Mitautor der Ostdenkschrift der EKD - einen wichtigen Schritt zu einer neuen Ostpolitik gedanklich vorausgegangen. Ja, die Anfänge reichen noch weiter zurück - denn auch am "Tübinger Memorandum" von 1961 war Richard von Weizsäcker beteiligt. Eine Denkschrift, in der schon damals die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze thematisiert wurde.

Im kommenden Jahr - der Beginn Ihrer ersten Amtszeit wird dann genau 20 Jahre zurückliegen - werden Polen und andere Nachbarn im Osten Vollmitglieder der EU sein. Wer solches vor 20 Jahren vorausgesagt hätte, hätte als Phantast gegolten. Mit Ihren auf Ausgleich und Aussöhnung setzenden Gesprächen und Besuchen haben Sie, lieber Herr von Weizsäcker, geholfen, den Weg zu einem einigen Europa zu ebnen, zu einem Europa der Partner und Freunde.

So, wie Richard von Weizsäcker sich Verdienste um die internationale Zusammenarbeit und die Europäische Einheit erworben hat, so hat er sich auch um die innere Einheit Deutschlands gekümmert. Solange das Brandenburger Tor geschlossen sei, sei die deutsche Frage offen - haben Sie auf dem Evangelischen Kirchentag 1985 klargestellt. Wo und wann immer möglich, pflegten Sie intensive Kontakte in die DDR - nicht zuletzt aufgrund Ihres kirchlichen Engagements. Mit Beharrlichkeit haben Sie am dünnen Gesprächsfaden zur DDR gewoben, um jeden noch so kleinen Fortschritt gerungen. Genau vor 20 Jahren (September 1983) besuchte Richard von Weizsäcker als Regierender Bürgermeister den Ostteil Berlins, trotzte Erich Honecker kleine Erfolge im Reise- und Besuchswesen ab. Und in seiner Eigenschaft als Ratsmitglied der EKD hielt er eine Rede in der Wittenberger Stadtkirche. Das waren symbolhafte Handlungen, die uns DDR-Bürgern damals Mut und Hoffnung machten.

1990 wurde Richard von Weizsäcker gewissermaßen "über Nacht" Präsident aller Deutschen. Viele von uns erinnern sich noch genau an Ihre Worte beim Staatsakt in Berlin und an den Satz "Sich vereinen, heißt teilen lernen", womit Sie ausdrücklich dem Westen besondere Verantwortung für die Entwicklung im Osten zugesprochen haben. Als Richard von Weizsäcker sich 1992 für einen neuen, zweiten Lastenausgleich stark machte, weil schließlich der Osten den größeren Teil der Kriegslasten zu schultern hatte, wurde ihm das von der damaligen Bundesregierung durchaus übel genommen. Heute stellt sich die Frage, ob der zweite Lastenausgleich nicht der bessere, der politisch ehrlichere Weg gewesen wäre. Es war eben falsch, am Anfang so zu tun, als ob wir die Lasten der Vereinigung "nebenbei" aufbringen könnten. Es sind gewiss beachtliche Transferleistungen geflossen, das steht völlig außer Frage. Gleichzeitig hat der Osten eine eigene außerordentliche Aufbauleistung erbracht, auf die die Menschen mit Recht stolz sein dürfen und hoffentlich auch sind. Allerdings ist der Osten noch nicht am Ziel, er hat noch nicht den Punkt einer selbsttragenden Entwicklung erreicht. Das muss man all denen deutlich sagen, die jetzt laut darüber nachdenken, die Hilfen für den Osten in Frage zu stellen.

Es hat nicht viele Persönlichkeiten gegeben, die die Menschen in Ostdeutschland sofort als einen "der ihren" angesehen haben. Bei Ihnen, sehr geehrter Herr von Weizsäcker, ist das so gewesen und ist es wohl noch immer! Denn Sie haben über geistige Einheit und Identität nicht nur gesprochen, sondern viel dafür getan. Anders als für die Menschen im Westen, die die Einheit - nach echter Anfangsbegeisterung - eher sachlich-nüchtern erlebten, war die Vereinigung für die Menschen im Osten eine tiefgreifende Zäsur, ein existenzieller Prozess radikaler Umstellung, der nach wie vor enorme Anforderungen an sie stellt - auch emotional. Dass Sie die besondere Gefühls- und Problemlage im Osten genau kennen, wissen die Menschen. Und dass Sie immer wieder mit Ihrer Kompetenz, Ihrem Rat zur Verfügung stehen - ich denke an Ihre Aufgabe als Vorsitzender der Kommission Fluthilfe - rechnen sie Ihnen hoch an.

Überhaupt ist Richard von Weizsäcker nach dem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt ein allseits gefragter Ratgeber geworden, gerade auch auf internationaler Ebene. Ich erinnere an seine Vorschläge zur EU-Reform, die er auf Bitten von Romano Prodi gemeinsam mit Jean-Luc Dehaene und anderen erarbeitet hat. Oder an den Ko-Vorsitz der internationalen Arbeitsgruppe, die Empfehlungen zur Reform der UNO erarbeitet hat. Auch hierin zeigt sich: Verständigung herzustellen, zwischen den Menschen, zwischen den Völkern, auf europäischer Ebene wie weltweit, bleibt sein Generalthema.

Sehr geehrter Herr von Weizsäcker,

Sie sind Freund offener, klarer Worte. Auch was Parteien angeht, scheuen Sie keinen Streit. Man kann sogar sagen: Sie haben ihn provoziert. Mit Ihrer Kritik an den Parteien haben Sie zielsicher den Finger auf eine Wunde gelegt.

Dabei ist mir aufgefallen, dass Sie die Probleme messerscharf analysieren, aber dass auch Sie bei der Frage nach Lösungen keinen Königsweg nennen können. Wie auch? Den kann es nicht geben. Denn bei allem Kritikwürdigem, was es über Parteien zu sagen gibt, am Artikel 21 des Grundgesetzes kommen wir nicht vorbei und auf die Frage "was anstatt" habe ich noch von niemanden eine überzeugende Alternative genannt bekommen.

Weniger Parteieneinfluss würde noch lange nicht mehr Demokratie bedeuten, wie manche meinen. Denn wer sollte die Organisation politischer Mehrheiten übernehmen? Parteien sind zu hoher Transparenz verpflichtet. Sie unterliegen hohen Ansprüchen an interne demokratische Entscheidungsprozesse, strengen Regeln der Finanzierung ihrer Arbeit und sind damit offener als jeder Verein, jede Nicht-Regierungs-Organisation oder jeder "Bürgerkonvent". Die Verstöße von Parteien gegen diese Regeln, die sich in den letzten Jahren gehäuft und das Vertrauen in Parteien beschädigt haben, sind Belege für die Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Regeln und deren Aufklärung Zeichen für die Selbstreinigungskraft unserer Demokratie.

Und da hier Medienexperten sitzen: Auch wenn es um die Medien geht, frage ich mich, ob es wirklich besser ist, wenn der Besitzer eines privatwirtschaftlich organisierten Senders allein darüber entscheiden kann, was gesendet wird und was nicht. Ist nicht die viel beklagte "Parteibuchwirtschaft" in den Sendern - wenn sie's denn nicht übertreiben - auch eine gewisse Garantie für den Pluralismus der Programme? Darüber lohnt es sich nachzudenken.

Genauso über die sogenannten Seiteneinsteiger in die Politik. So einen selbsternannten Politikfachmann wie Ronald Schill haben die Wählerinnen und Wähler in Hamburg - mit Vorschusslorbereen überhäuft - in die Bürgerschaft und in ein hohes Regierungsamt gehievt und der Katzenjammer ist jetzt groß. Immerhin ein Gutes hat die Sache vielleicht: Die als ach so langweilig und bieder gescholtenen Parteien mit ihrer ausdauernden, gleichwohl unglamourösen Arbeit stehen auf einmal doch in einem etwas anderen Licht da. Auch weil sie bisher verhindert haben, dass bei ihnen hitzköpfige Politikhasardeure in höchste Ämter gelangen. Dafür sorgt schon die parteiinterne Personalauslese.

Nichts gegen Kritik an Parteien und an Parteipolitikern - schon gar nicht, wenn Sie auf dem Niveau eines Richard von Weizsäcker stattfindet. Tatsächlich brauchen wir Kritik - um der Demokratie willen. Neue Perspektiven für die Demokratie entstehen dadurch, dass wir die tatsächlichen Veränderungen wahrnehmen und angemessene Lösungen dafür finden. Das setzt voraus, dass wir wieder lernen, über den Tag, besser noch: über die Wahlperiode hinaus zu denken! Aber es setzt auch voraus, dass wir keine Erlösung versprechen.

Demokratie überzeugend praktizieren heißt, die notwendigen Veränderungen aussprechen, diskutieren, mehrheitsfähig machen und Schritt für Schritt verwirklichen. Das sind alles mühselige Vorgänge. Aber so ist Demokratie nun einmal. Mit Befriedigung von Erlösungsbedürfnissen hat das alles wenig zu tun, manchmal sogar mit deren bitterer Enttäuschung. Doch ist das allemal besser als jene schlimme Vermischung von säkularisierter Religion und politischer Heilslehre, wie sie für beide Diktaturen des 20. Jahrhunderts charakteristisch war. Die Ablehnung religiös verbrämter politischer Heils-Versprechungen bleibt aktuell!

Meine Damen und Herren!

Es gibt etwas, was Erich Kästner, die Mitglieder des Dresdner Presseclubs und Richard von Weizsäcker verbindet: Es ist das Bewusstsein um die Macht des Wortes - aber auch das Bewusstsein um die Begrenztheit dieser Macht.

Der Bundespräsident hat - qua Verfassung - ohnehin kaum ein anderes Machtmittel zur Verfügung als das Wort, die öffentliche Rede. Richard von Weizsäcker hat es darin zur Meisterschaft gebracht. Und er hat es verstanden, sich dabei stets seine geistige Unabhängigkeit zu bewahren. Das hat Kästnersches Format: Unerschrockene Wahrheitsliebe, den Mut, Unbequemes auszusprechen. Selbst dann, wenn es der eigenen Partei nicht passt. Das Engagement für die Sache ist Richard von Weizsäcker schon immer wichtiger gewesen als Parteigrenzen. Und - einmal frei von den Begrenzungen, die das Amt des Bundespräsidenten eben auch mit sich bringt - formulieren Sie noch deutlicher, noch entschiedener.

Wenn Sie Partei genommen haben, lieber Herr von Weizsäcker, dann für das Grundsätzliche. Diese Haltung durchzieht auch Ihre Reden, die durch Tiefgang und klare Analyse bestechen. Ihre Rede zum 8. Mai, die ich schon nannte, ist und bleibt ein immer wieder überzeugender Beleg. Sie wirkte nach innen und außen - und sie wirkt bis heute nach. Weil diese Rede mehr war als eine Rede. Sie wird in Erinnerung bleiben als eine der großen politischen Gesten, ja Taten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Vergleichbar mit Willy Brandts Kniefall am Denkmal für das Warschauer Ghetto.

Diesem Willy Brandt zu Ehren haben Sie im Januar 1989 ein großes Geburtstagsessen gegeben - und Sie haben ihn dabei in Ihrer Rede in einer souveränen, überparteilichen Weise gewürdigt. In dieser Rede haben Sie zu Willy Brandt gesagt: "Ihnen ist in der Politik etwas ganz Seltenes gelungen: In Ihrer Person haben Sie die Spannung zwischen Macht und Moral aufgehoben."

Sehr geehrter, lieber Herr von Weizsäcker, wenn ich diesen Satz höre, denke ich: Trifft er nicht längst auf Sie selbst zu?

Weit über Ihre Amtszeit hinaus sind Sie in Deutschland politische und moralische Instanz. Wir haben allen Anlass, Ihnen zu danken für Ihr Wirken - und ich persönlich für die Chance, Ihnen immer mal wieder begegnen und dabei von Ihnen lernen zu können. Wünschen wir uns, dass uns Ihr kluger Rat und Ihre kompetente Kritik noch auf viele Jahre begleiten möge. Herzlichen Glückwunsch zum Erich-Kästner-Preis.
Quelle: http://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2003/022
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