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28.02.2000
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Rede des Bundestagsvizepräsidenten Rudolf Seiters "Der deutsche Bundestag im Reichstagsgebäude - Gedanken zur parlamentarischen Arbeit in Berlin im 21. Jahrhundert" am 28. Februar 2000 im Reichstagsgebäude

Anrede,

I.

zunächst möchte ich Sie im Namen des gesamten Präsidiums des Deutschen Bundestages sehr herzlich im Reichstagsgebäude willkommen heißen. Ich freue mich, dass es dem British Council in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität Berlin gelungen ist, diese Konferenz, die sich mit dem wichtigen und aktuellen Thema der parlamentarischen Kultur in unseren Ländern beschäftigt und die dem besseren Verständnis und der Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und Deutschland dient, zustandezubringen. Allen, die diese Veranstaltung ermöglicht haben, gilt mein Dank. Gern komme ich der Bitte nach, aus der Sicht des Deutschen Bundestages einige Gedanken zu den Rahmenbedingungen der Arbeit in Berlin beizutragen.

II.

Die augenfälligste Veränderung ist zunächst die neue architektonische Hülle dieses Hauses. Das Parlament ist in den umgebauten Wallot-Bau, das Reichstagsgebäude, gezogen, das vor mehr als 100 Jahren für das erste gesamtstaatliche deutsche Parlament errichtet worden ist. Der Umbau hat aus dem Reichstagsgebäude einen Ort gemacht, der Tradition und die Anforderungen moderner parlamentarischer Demokratie verbindet und der dem Selbstverständnis des vereinten Deutschlands entspricht. Die lichtdurchflutete Kuppel gibt dem Souverän, dem Volk, die Möglichkeit, seinen Repräsentanten gleichsam von oben über die Schulter zu schauen. Sie ist ein gelungenes Symbol für Transparenz und Bürgernähe.

Vor wenigen Wochen, beim Jahreswechsel, habe ich mit dem Präsidium des Deutschen Bundestages um Mitternacht in der Kuppel des Reichstages gestanden und auf ein fröhliches, feierndes, tanzendes Berlin geblickt - auf den Potsdamer Platz, den Alexanderplatz, das Brandenburger Tor, die Siegessäule, aber auch auf die Stelle, wenige Meter entfernt, wo vor 11 Jahren noch eine unmenschliche blutige Mauer unser Land teilte und Deutsche von Deutschen trennte. Die letzten 11 Jahre dieses Jahrhunderts umfassen eine faszinierende Epoche in der Nachkriegsgeschichte Europas: vor 11 Jahren der Kalte Krieg, eine furchterregende Sowjetunion, die Konfrontation der Blöcke, russische Truppen auf deutschem Boden, Millionen Deutsche in Unfreiheit und Diktatur. Und heute: Deutschland wiedervereinigt, die russischen Truppen abgezogen, der Ost-West-Konflikt überwunden, und unsere Nachbarn aus dem ehemaligen Warschauer Pakt klopfen an die Tür der Europäischen Union und der NATO. Was wir in diesen Jahren erlebt haben, ist eine glückhafte Entwicklung für unser Land und für unseren Kontinent.

An diesem Ort wird auch deutlich, dass Deutsche Einheit und Europäische Einigung zwei Seiten derselben Medaille sind. So hat ein englischer Architekt die Pläne für den Umbau des Reichstagsgebäudes entworfen, und die Europa-Fahne steht gleichberechtigt neben der deutschen.

III.

Damit stehen Arbeit und Selbstverständnis des Deutschen Bundestages in einer Kontinuität politischer und parlamentarischer Kultur, die sich in Bonn in 50 Jahren entwickelt, gefestigt und bewährt hat. Durch den Umzug nach Berlin hat es keine Neubestimmung des politischen Koordinatensystems der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Das gilt vor allem auch für die Außenpolitik: Deutschlands Einbindung in die europäische Staaten- und Wertegemeinschaft sowie die transatlantische Partnerschaft bleibt Kern deutscher Staatsraison. Die Bundesrepublik als funktionierende parlamentarische Demokratie ist auch heute verlässlicher Partner der europäischen Nachbarn, eingebettet in die Europäische Union, die NATO und andere internationale Organisationen. Es gibt keinen deutschen Aufbruch zu neuen Ufern und insofern auch keine neue Berliner Republik. Ich halte diese Etikettierung für nicht angebracht, weil sie Missverständnisse begünstigt.
Berlin, lange Zeit das Sinnbild der Teilung unseres Kontinents, entwickelt sich in der Gegenwart zu einem Symbol der deutschen und europäischen Einheit. Die Stadt, in der Mitte Europas gelegen, besitzt eine natürliche Brückenfunktion zwischen West-, Mittel- und Osteuropa, im Rahmen einer gesamteuropäischen Ordnung, die es voranzubringen gilt.

IV.

Der Bundestag hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem arbeits- und leistungsfähigen Parlament entwickelt, in dem die großen Debatten über die Zukunft unseres Landes geführt werden. Von der Westbindung Konrad Adenauers über die Ostverträge Willy Brandts und dem Vertrag zur Herstellung der Deutschen Einheit bis zum Beschluss über Berlin als Sitz von Parlament und Regierung sind alle großen Themen im Bundestag leidenschaftlich debattiert und entschieden worden. Im Bundestag sind stets die Argumente vor den Augen und Ohren der Öffentlichkeit ausgetauscht worden, in Berlin wird sich dies durch die höhere Medienpräsenz eher noch verstärken. Der Bundestag ist dadurch nicht nur institutionell das Zentrum unserer Demokratie, weil er zentrales Gesetzgebungsorgan ist und den Bundeskanzler sowie zusammen mit Vertretern der Länder den Bundespräsidenten und auch die Verfassungsrichter wählt. Er ist auch in der Wahrnehmung der politischen Öffentlichkeit die zentrale Instanz politischer Auseinandersetzung.
Allerdings ist der Deutsche Bundestag nicht nur ein Debatten-, sondern auch ein Arbeitsparlament, bei dem die Sacharbeit in den Ausschüssen stattfindet. Kaum ein Gesetz, das die Ausschüsse unverändert durchläuft. Der Bundestag prägt die Gesetze teilweise in erheblichen Umfang mit.
Kritik und das Ringen um die bessere Lösung sind dabei wesentliche Elemente des Gesetzgebungsprozesses, auch der Wert gewisser stabilisierender Elemente wird immer wieder deutlich. So verhindert die Fünf-Prozent-Hürde im Wahlgesetz eine Zersplitterung des Parteien- und Fraktionsspektrums. Das Prinzip der wehrhaften Demokratie hat die demokratischen Parteien immer wieder miteinander verbunden. Die Geschäftsordnung des Bundestages enthält klare Regeln der parlamentarischen Arbeit, an die sich alle Fraktionen halten.

V.

Eine Veränderung parlamentarischer Kultur war nach 1989/90 weder nötig noch erwünscht. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR wollten damals teilhaben und teilnehmen an der deutschen Demokratie, in der die Bürger der Bundesrepublik in Freiheit und Wohlstand seit 40 Jahren leben konnten. Auch die am 18. März 1990 zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer hat sich dementsprechend entschieden, und die gemeinsame Verfassungskommission von Bund und Ländern hat eine Umgestaltung oder Neuformulierung des Grundgesetzes nicht für erforderlich gehalten.
Daher vollzog sich die Deutsche Einheit nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes, nach dem Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Ost-Berlin dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beigetreten sind. Das hatte gute Gründe: Die Mehrheit der Volkskammer wollte kein langwieriges und streitiges Verfahren über eine neue Verfassung, sondern die schnelle Einheit. Der entscheidende Grund war, dass die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu einer stabilen freiheitlichen, rechtsstaatlichen, sozialen Demokratie mit einem bisher nie gekannten Maß an Wohlstand und sozialer Sicherheit nicht zuletzt den Werten, der Organisations- und Verfahrensregeln unserer Verfassung zu verdanken war. Der damalige Wunsch war nicht, dass sich die parlamentarische Arbeit änderte, sondern dass sie fortgesetzt werde wie bisher unter dem Grundgesetz.

VI.

Wir haben die staatliche Einheit Deutschlands vor 10 Jahre vollendet. Die Entscheidungen, die Deutschland und dabei auch der Deutsche Bundestag im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses getroffen hat, haben sich in der großen Linie, aber auch in den meisten Einzelheiten als richtig erwiesen. Die bisherige Politik des Aufbaus Ost trägt Früchte, auch wenn wir haben feststellen müssen, dass die vom SED-Staat hinterlassene Erblast schwerer war als zunächst angenommen und dass neue Probleme, wie der Wegfall der alten Märkte im Osten und die Herausforderung der Globalisierung, hinzutraten. Für die gigantische Aufgabe, zwei über Jahrzehnte gewachsene, so grundsätzlich unterschiedliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen innerhalb kürzester Zeit miteinander zu vereinen, gab es ja überhaupt kein Vorbild in der modernen Geschichte, und es gab auch keine Erfahrung. Vor diesem Hintergrund sind die Ergebnisse des Transformationsprozesses eindrucksvoll - als eine gemeinsame Leistung der Menschen in Ost und West. Als Aufgabe für uns Deutsche verbleibt jedoch die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands, vor allem die Vermittlung des Bewusstseins gemeinsamer Identität und Werte. Hier gibt es noch viel zu tun, und der Bundestag spielt hierbei eine wichtige Rolle. Er ist in diesen Jahren gewachsen - nicht nur an Mitgliedern, sondern auch an Vielfalt der Erfahrungen und Perspektiven - Erfahrungen zweier völlig unterschiedlicher Systeme. Ostdeutsche Abgeordnete, die ihre politische Laufbahn an den runden Tischen der DDR oder in der ersten frei gewählten Volkskammer begonnen haben, prägen heute die Arbeit und den Arbeitsstil des Deutschen Bundestages mit, auf der Grundlage der Werteordnung des Grundgesetzes und seiner parlamentarischen Kultur, deren besonderes Kennzeichen es ist, dass - anders als die Verfassung der DDR, die mit dem Führungsanspruch der SED begann - das Grundgesetz in seinem Artikel 1 proklamiert: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

In diesem Zusammenhang will ich erwähnen: Zur glückhaften Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 und 1949 und später dann nach der Wiedervereinigung unseres Landes gehört auch der bundesrepublikanische Föderalismus. Die Bundesländer mit ihrer Kulturhoheit haben in 50 Jahren Bundesrepublik Deutschland dafür gesorgt, dass in Deutschland kein Zentralismus entsteht. Die Landeshauptstädte hatten es leichter, ein Gegengewicht zu Bonn zu bilden als nun zu Berlin. Es gehört aber auch zur gewollten Kontinuität unserer parlamentarischen Demokratie, den Föderalismus zu erhalten und zu fördern. Das British Council als Mitveranstalter dieser Konferenz trägt der föderalen Ordnung Deutschland Rechnung. Mit Instituten nicht nur in Berlin, sondern auch in Leipzig, Köln, München und Hamburg schafft es Kontakt zwischen britischer Kultur und deutscher Öffentlichkeit.

VII.

Neben der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands gehört die konsequente Fortführung der europäischen Einigung zu den wichtigsten Zukunftsaufgaben, die sich dem Bundestag zum Beginn des neuen Jahrhunderts stellen. Die Chance, ganz Europa zu einem Kontinent der Sicherheit und des Friedens mit wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Stabilität zu entwickeln, müssen wir nutzen und den Einigungsprozess konsequent vorantreiben.

Die Erweiterung der Europäischen Union liegt dabei nicht nur im Interesse etwa der Polen, der Tschechen und der Ungarn, sie liegt auch im gesamteuropäischen und auch im deutschen Interesse. Denn die militärischen, die ideologischen und die politischen Grenzen haben in Europa weitgehend ihre Bedeutung verloren. Aber mitten durch Europa, direkt an Deutschland vorbei, verläuft nach wie vor eine Wohlstandsgrenze, die wir nur dadurch beseitigen können, daß die Staaten Mittel- und Osteuropas schrittweise an den in der Europäischen Union bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Standard herangeführt werden. Das Wohlstandsgefälle nicht zu überwinden, würde auf Dauer die in der Europäischen Union geschaffene politische, wirtschaftliche und soziale Stabilität gefährden - ganz abgesehen davon, dass es auch ein historisches Versagen westlicher Friedens- und Sicherheitspolitik wäre, wenn wir aus vordergründigen Interessen heraus unsere Nachbarn in der Situation eines Zwischeneuropa halten wollten, in der sie über zwei Jahrhunderte Objekte der Politik anderer waren.

Wir müssen uns auf die Erweiterung der Europäischen Union jedoch richtig vorbereiten und das heißt: Die Beitrittskandidaten müssen beitrittsfähig sein, sie müssen die notwendigen Fortschritte auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft gemacht haben. Die jetzigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sich aber auch erweiterungsfähig machen - insbesondere die notwendigen institutionellen Reformen durchführen. Eine Gemeinschaft von 18, 20 oder 25 Staaten kann nicht nach denselben Regeln funktionieren wie eine Europäische Gemeinschaft mit sechs Mitgliedern. Ich werbe in diesem Zusammenhang auch für eine klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der EU, den Mitgliedstaaten und den einzelnen Regionen und für eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Deswegen ist in den großen Bereichen der Politik - der Außenpolitik, der inneren Sicherheit - auch künftig die Prüfung von Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene notwendig. Aber umgekehrt braucht nicht alles in Europa entschieden zu werden, was auf der Ebene der Nationalstaaten und der Regionen und durch deren Parlamente viel besser und bürgernäher entschieden werden kann. Das bestehende Gemeinschaftsrecht muß auch unter diesem Gesichtspunkt neu überprüft und korrigiert werden.
Die vor uns liegenden europäischen Hausaufgaben dürfen dabei nicht allein den Regierungen der Mitgliedsstaaten überlassen bleiben. Die Parlamente, sowohl die nationalen Parlamente wie auch das Europäische Parlament, haben eine ganz wichtige Mitbestimmungs-, Kontroll- und Mittlerfunktion im Interesse der Bürger. Sie müssen an der Weiterentwicklung der Union entsprechend ihrem zentralen Gewicht und ihrer unmittelbaren demokratischen Legitimation beteiligt werden, sich aber auch selbst hieran beteiligen. Hier sehe ich eine ganz wichtige Aufgabe für die nächste Zukunft, um eine öffentliche Diskussion zu erreichen. Der Deutsche Bundestag muss die ihm im Zusammenhang mit dem Vertrag von Maastricht eingeräumten zusätzlichen Möglichkeiten nach Artikel 23a des Grundgesetzes intensiv nutzen. Auch die enge Zusammenarbeit und der Erfahrungsaustausch mit den nationalen Parlamenten der anderen Mitgliedstaaten sowie mit dem Europäischen Parlament muss vertieft und erweitert werden.

VIII.

Die dritte wichtige Aufgabe für den Deutschen Bundestag in den kommenden Jahren sehe ich darin, den großen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Veränderungen Rechnung zu tragen und die gesetzlichen Rahmenbedingungen für Arbeit, Gesundheit, Versorgung im Alter und wirtschaftlichen Wohlstand so anzupassen, dass das innere Gleichgewicht unseres Landes gewahrt bleibt. Die Globalisierung und die demographische Entwicklung stellen Deutschland, wie auch die übrigen Staaten der Europäischen Union, vor große Herausforderungen.

Um hier zu sachgerechten Lösungen zu gelangen, brauchen die Parlamente eigene Informationen notwendiger denn je. Dem Informationsbedarf über Globalisierungstendenzen hat der Deutsche Bundestag so z. B. Rechnung getragen durch den Beschluss, eine Enquete-Kommission zum Thema "Globalisierung der Weltwirtschaft - Herausforderungen und Antworten" einzurichten. Diese Enquete-Kommission wird sich am 13. März konstituieren. Sie soll durchleuchten, wie sich die Welt der Wirtschaft wandelt und was die Wirtschafts- und Sozialpolitik tun kann und tun muss. Darüber hinaus geht es aber auch um die Auswirkungen der Globalisierung auf die Politik selbst. Denn selbstverständlich verändert Wirtschaft auch die Rahmenbedingungen für Politik.

Den globalen Veränderungen stehen innergesellschaftliche gegenüber. Nicht nur, dass sich traditionelle Bindungen auflösen. Die Struktur unserer Gesellschaft ändert sich durch den demographischen Wandel grundsätzlich, mit Auswirkungen auf fast allen Lebensbereiche, auch hierzu hat der deutsche Bundestag die Einrichtung einer Enquete-Kommission beschlossen.

In einer parlamentarischen Demokratie gehört es darüber hinaus zu den Aufgabe des Parlaments, die eigene Handlungsfähigkeit zu erhalten und auszubauen. Die entsprechende Ausstattung mit personellen und sachlichen Ressourcen, vor allem die Einbindung und Nutzung moderner Kommunikations- und Medientechnologie, ist ein Anliegen, dem der Deutsche Bundestag besondere Aufmerksamkeit widmet und bei dem in den letzten Jahren bereits wichtige Fortschritte erzielt worden sind.

IX.

Elementare Voraussetzung für erfolgreiche parlamentarische Arbeit in einer Zeit des Wandels ist jedoch die Rückkopplung mit den Bürgerinnen und Bürgern und deren Vertrauen in die parlamentarische Demokratie. Parlamentarische Demokratie lebt von ihrer Verwurzelung in der Bevölkerung, von Wahlbeteiligung, uneigennützigem Engagement und politischer Öffentlichkeit. Es ist eine vordringliche Aufgabe der Politik und jedes einzelnen Abgeordneten, in hier die richtigen Signale zu setzen und sich seiner Verantwortung für das Gemeinwohl stets bewusst zu sein.
Denn es sind nicht nur die großen politischen Entscheidungen, vor denen wir stehen, sondern es geht auch um das Verhältnis des einzelnen zum Staat. Was ist Aufgabe des einzelnen und was kann er vom Staat erwarten? Hier geht es um politische Kultur und um das Selbstverständnis einer Gesellschaft. Die Grundprinzipien hat Altbundespräsident Karl Carstens in seiner Abschiedsrede im Deutschen Bundestag skizziert: "Wer frei ist, trägt Verantwortung. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten. Und wer Ansprüche stellt, vor allem Ansprüche an den Staat, muss auch bereit sein, Leistungen zu erbringen." Diese Prinzipien können und sollen ein Leitfaden für unsere staatliche Ordnung und staatsbürgerliches Handeln sein.

Wenn ich von Rechten und Pflichten, Verlässlichkeit, Engagement und Vertrauen als Voraussetzung für das Funktionieren unserer demokratischen und parlamentarischen Kultur spreche, so stellt dies selbstverständlich nicht nur an den einzelnen Bürger, sondern auch an seine gewählten politischen Repräsentanten hohe Anforderungen. Die gegenwärtigen politischen Skandale in Deutschland, die zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in Berlin, Hannover und Düsseldorf geführt haben, zeigen dies sehr deutlich. Sie zeigen aber auch, dass die politischen und rechtlichen Kontrollmechanismen funktionieren und die parlamentarischen Institutionen ihre Aufgaben erfüllen. Wir müssen jedoch darauf achten, dass bei der Aufklärung von Rechtsverstößen nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und das notwendige Vertrauen der Bürger in unsere parlamentarische Demokratie und Arbeitsweise durch unzulässige Verallgemeinerungen nicht im Grundsätzlichem und mit langfristigen negativen Folgen beeinträchtigt wird.

XI.

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort sagen zum Thema Parlamentsreform. Lebendigkeit, Transparenz und Bürgernähe sollen die Arbeit eines demokratischen Parlaments prägen. Die Geschäftsordnung bedarf unter diesen Gesichtspunkten einer ständigen Überprüfung. Für mich kommt es dabei weniger auf perfekte rechtliche Regelungen an als vielmehr auf die Schaffung von Freiräumen für eine flexible Handhabung. Der Bundestag wird - wie schon erwähnt - häufig charakterisiert als Arbeitsparlament, dessen Arbeit sich weniger im Plenum als in den Ausschüssen vollzieht. Dies ist sicher richtig und entspricht den Traditionen des deutschen Parlamentarismus - Gleichwohl halte ich viel davon, auch die Arbeit der Ausschüsse für den Bürger transparent zu machen und die Debatten im Plenum aktuell, lebendig und abwechslungsreich zu gestalten. Hier sind wir durch punktuelle Veränderungen der Geschäftsordnung in den letzten Jahren auf einem guten Weg.

Auch die bereits beschlossene Verringerung der Zahl der Abgeordneten von 669 auf 599 ab der nächsten Legislaturperiode ist eine Maßnahme, um die Arbeitsfähigkeit des Bundestages zu stärken.

Die ständige Überprüfung und Verbesserung der eigenen Arbeit und Arbeitsfähigkeit ist eine Daueraufgabe, der sich der Bundestag auch in Zukunft zu stellen hat.

XII.

Begonnen habe ich mit einem Hinweis auf die Wurzeln und Traditionen unserer parlamentarischen Arbeit und die Kontinuität der politischen Kultur des Grundgesetzes.
Zu verdanken haben wir die Spielregeln parlamentarischer Arbeit nicht zuletzt der "Mutter der Parlamente", dem britischen Unterhaus. Anlässe wie dieser sind gute Gelegenheiten, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede unserer parlamentarischen Systeme zu reflektieren. Gerade Deutschland und Großbritannien pflegen hier enge Kontakte. Dieser Kongress ist hierfür ein hervorragenden Beispiel.

Gemeinsam sehen wir uns erheblichen Veränderungen gegenüber, auf die wir Antworten finden müssen. Es wäre auch verwunderlich, wenn in einem so lebendigen System wie einer parlamentarischen Demokratie kein Veränderungsbedarf bestünde. Die Grundwerte und die Grundkoordinaten gilt es jedoch auch unter veränderten Umständen zu bewahren und zu pflegen. Das Ende des kalten Krieges, der demographische Wandel, die technologische Entwicklung haben daran nichts wesentliches geändert, aber sie haben die Sensibilität und den Reformdruck erhöht.

Wenn ich für die parlamentarische Arbeit des Bundestages zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Standortbestimmung vornehmen soll, bin ich der Auffassung, dass wir auf der Grundlage unserer bewährten Verfassung und der in fünf Jahrzehnten gewachsenen politischen Kultur alle Chancen haben, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern und weiterhin einen guten Beitrag zu leisten für ein Zusammenleben der Menschen in ganz Europa in Frieden, Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit.

In diesem Sinne wünsche ich der Konferenz einen erfolgreichen Verlauf sowie Ihnen allen einen schönen Aufenthalt in Berlin.

Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2000/pz_000228
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