Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 10 / 01.03.2004
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Trutz von Trotha

Die Hälfte aller Afrikaner ist jünger als 18 Jahre

Der Zusammenhang von Demographie, Männlichkeit und Gewalt
Im Jahr 1651, lange vor Samuel Huntington (Clash of Civilizations), schrieb Thomas Hobbes in seinem Leviathan: "Bedürftige und verwegene Männer, die mit ihrer gegenwärtigen Lage nicht zufrieden sind, sind sehr geneigt, Kriege fortzuführen und Unruhe und Aufruhr zu erregen und zu nähren; denn es gibt keine Hoffnung, ein schlechtstehendes Spiel zu beenden, als ein neues Mischen der Karten herbeizuführen."

Afrika ist der Kontinent mit dem höchsten Bevöl-kerungswachstum. Während die Wachstumsrate der Weltbevölkerung auf unter 1,4 Prozent gesunken ist, liegt sie in Afrika trotz aller Heimsuchungen durch Kriege, Hunger und AIDS bei 2,4 Pro-zent, in West- und im mittleren Afrika zwischen 2,5 und 2,7 Prozent. Seinen gegenwärtigen Anteil von 13 Prozent der Weltbevölkerung wird Afrika auf voraussichtlich 20 Prozent (2025) steigern und es wird von heute 785 Millionen auf 1,3 Milliarden Menschen anwachsen. Das subsaharische Afrika hat hier den größten Anteil. Ist es heute Heimstatt für 525 Millionen, wird es dies 2025 voraussichtlich für 1,05 Milliarden Menschen sein. Afrika verdankt dieses Wachstum einerseits der zwar deutlich gesunkenen, aber mit 5,06 im Schnitt der Jahre 1995 - 2000 vergleichsweise hohen Fertilitätsrate der Frauen. Andererseits ist das Wachstum Ergebnis einer Altersstruktur, die - als Folge der hohen Fertilität, gesunkener Kinder- und Müttersterblichkeit - das bekannte Bild einer Pyramide mit breiter Basis hat und Afrika zu einem Kontinent der Kinder und Jugendlichen macht. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Afrika liegt bei 17,5 Jahren (Deutschland: 41). Damit ist die Hälfte der Bewohner Afrikas, das sind rund 400 Millionen Menschen, jünger als 17,5 Jahre.

Jugendlichkeit ist zweifelsohne ein Trumpf Afrikas. Sie gehört zur Vitalität und Dynamik, zum sozialen, politischen und kulturellen Erfindungsreichtum des Kontinents. Aber sie trägt auch dazu bei, dass der Berg an Problemen, den es mit allen Entwicklungsländern teilt, noch größer ist. Dazu gehört ein Problem von kaum zu überschätzender Bedeutung: das der Gewalt, das auf den Zusammenhang von Demographie, Männlichkeit und Gewalt verweist.

Afrika beherbergte 1998 circa 90 Millionen männli-cher Jugendlicher zwischen zehn und 19 Jahren. Bis 2025 wird ihre Zahl auf etwa 150 Millionen steigen. Darüber hinaus sind die 20- bis 30-Jährigen mit zu bedenken, deren Zahl von 123 Millionen sich bis 2025 verdoppeln wird. Die Zukunft dieser jungen Männer ist nicht allzu vielversprechend. Es ist ein Leben in fast unregierbar gewordenen Elendsvierteln der Megastädte, der Wurzellosigkeit von städtischer und ländlicher Armut, ohne rechtes Auskommen. Schon heute ist das einst dicht gewebte Netz der erweiterten Familie brü-chig geworden. In manchen afrikanischen Ländern leben 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen - Mädchen eher als Jungen - nicht im Haushalt der Eltern. AIDS, eine Seuche der Verwaisung, trägt dazu bei, dass die Zahl der Straßenkinder zunimmt. Sie sind oft unterernährt, in schlechtem Gesundheitszustand, drogenabhängig und Objekt polizeilicher Willkür und der Rekrutierungsanstrengungen der Kriegsherren.

Im subsaharischen Afrika leben heute 60 Millionen im Alter zwischen 10 und 24 Jahren in extremer Armut gemäß Definition der UN. Die Arbeitsverhältnisse, die die Jugendlichen jenseits der Landwirtschaft eingehen, sind oft gesundheitsschädlich und ausbeuterisch. Kinderarbeit ist an der Tagesordnung und hat im subsaharischen Afrika gegenwärtig 48 Millionen der zehn- bis 14-Jährigen erfasst. Vor allem schneidet Erwerbstätigkeit von schulischen Ausbildungswegen ab.

In den Elendsvierteln der Städte gehören Kriminalität und Gewalt zum Aufwachsen. In der Welt der afrikanischen "Gewaltmärkte" verschärfen sich diese Erfahrungen. Es ist eine Welt, in der Gewalt sowohl ökonomisch und sozial zweckrational als auch Selbstzweck ist. Die Gewaltmärkte, die von Somalia über Liberia bis Algerien reichen, sind ein Lebensraum, der gleichsam die Funktion eines "Leistungszentrums" erfüllt. Aus Tausenden werden dort diejenigen ausgewählt, die für ein Leben im Zeichen der Gewalt geeignet sind, vom Straßenräuber bis zum Selbstmordattentäter. In den vergangenen Jahren haben sie zu einem rapiden Anstieg der Zahl der "Kindersoldaten" geführt. Mit Zwang rekrutierte 1998 die kongolesische Armee Kinder schon ab 13. Für die Frage nach der Gewalt und den Ursachen der Mehrzahl der politischen, ethnischen oder religiösen Gewaltkonflikte in Afrika und auf dem Globus ist die Demographie der männlichen Altersgruppen zwischen 15 und 30 Jahren einer der wichtigsten Untersuchungswege.

Das Problem von Demographie und Gewalt wird als "children bulge" oder "youth bulge" diskutiert. Es ist in Deutschland insbesondere dem Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn zu danken, dass diese Diskussion angestoßen wurde (Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen. Zürich 2003). Unter children bulge versteht man einen Anteil von mindestens 30 Prozent Kindern bis 14 Jahren, unter youth bulge von 20 Prozent Jugendlicher und junger Erwachsener zwischen 15 und 30 Jahren. Für den Zusammenhang zwischen Demographie und Gewalt ist der Jugend-bulge die entscheidende Größe - der Kinder-bulge gibt nur einen Hinweis darauf, wie groß der Jugend-bulge sein wird. So werden in den kommenden Jahrzehnten Millionen Jungen in die Altersgruppen der Jugend-bulges kommen; 1998 waren 118 Millionen afrikanische Jungen noch keine zehn Jahre alt; 2025 werden es 168 Millionen sein.

Sieht man sich die Nationen mit Jugend-bulges an, hat die überwiegende Mehrheit eine beträchtliche Zahl von Opfern durch gewaltsame Konflikte. Nach den Daten Heinsohns sind es 72 von 76 Ländern. Kinder- und Jugend-bulges gehen mit Konflikten einher. Die Elfenbeinküste, die zu einem der blutigsten Orte geworden ist und deren Bevölkerung zur Hälfte unter 18 Jahren ist, hat ihre Bevölkerung zwischen 1962 und 2002 von 3,5 auf zwölf Millionen fast vervierfacht. Unter den 28 größten Jugend-bulge-Nationen liegt der Anteil der islamischen bei 50 Prozent.

Die Welt der Gewalt ist die der jüngeren Männer. Die Führer gewalttätiger Bewegungen wie Arkan oder Ussamah bin Laden mögen die 40 überschritten haben, die Mehrheit der Kämpfer hat das dritte Lebensjahrzehnt noch vor sich. Die Welt der Gewalt, des Krieges und des Terrorismus ist eine, wie sie immer wieder am Beispiel der so genannten "Kristallisationspunkte" von "Jugendbanden" amerikanischer Großstädte thematisiert worden ist: "Härte" als physische Belastung, Maskulinität und Mut angesichts von Bedrohung, "Erregung" als Ausbruch aus Alltagsroutine, Nichtstun und Langeweile und natürlich das Verlangen nach Autonomie. Die "verwegenen Männer, die mit ihrer Lage nicht zufrieden sind", werden zu Kristallisationsfiguren, die die relative Wurzellosigkeit des jugendlichen Alters, von ländlicher und städtischer Armut, von Landflucht und Arbeitsmigration, von Flucht vor Dürren oder politischer Verfolgung, von Vertreibung und Exil in gewalttätige politische und soziale Aktionen übersetzen. Sie treffen auf Gewalt in der Welt der jugendlichen Banden und in städtischen Elendsvierteln, in der alltäglichen Willkür staatlicher "Sicherheitsorgane", selbst bei der Flucht ihrer Eltern vor politischer Gewalt, bei Vertreibung oder in der Rolle des jungen Soldaten, die ihnen die eine oder andere Armee des Migrations- und Exillandes - etwa die "Islamische Legion" von Muammar al Gaddafi - anträgt. Die 2. Tuareg-Rebellion zwischen 1990 und 1996 war eine solche Revolte junger Männer, die von Arbeitsmigration und Exil in Algerien und Libyen nach Mali und Niger zurückgekehrt waren.

Hobbes betonte scharfsinnig, dass Gewalt eine Sache jüngerer Männer ist, die keinen Platz in der Gesellschaft haben und ihn sich erst im buchstäblichen Sinne erkämpfen. Beispielhaft sind die jugendlichen Ritter des 12. Jahrhunderts. Das Beispiel der Ritterjugend verdeutlicht, dass die Dynamik von Jugend-bulges nicht aus absoluter Armut hervorgeht. Der Sprengsatz des Jugend-bulge ergibt sich aus der Relation zwischen der Menge der Positionen der ausscheidenden Väter und der Menge an Positionen, die nachrückende Söhne einfordern - seit Kain und Abel sind Eifersucht und tödliche Feindschaft der Stoff, aus dem Mythen und Weltliteratur gemacht werden. Heinsohn: "Ein jüngerer Bruder, der als Knecht des Erbsohnes durchaus satt werden kann, sucht nicht nach Brot, sondern nach einer Position, die Ansehen, Einfluss und Würde und nicht so sehr Essensmengen verbürgen soll. Und umgekehrt, aus der Sicht der Erwachsenengesellschaft betrachtet: Wo zwei oder mehr Söhne in den Familien vorhanden sind, gibt es auch eine wachsende Bereitschaft, die jungen Männer risikoreich einzusetzen - nicht nur, um ihnen ein Auskommen zu ermöglichen, sondern auch um den sozialen Frieden zu erhalten. Eine Nation mit youth bulge entwickelt ein ganz anderes Temperament als eine nach absoluten Größen viel bevölkerungsreichere Nation ohne interne Probleme mit überzähligen Söhnen oder gar bereits mit einem Sohnesmangel. Wiederholt sich ein youth bulge über zwei oder mehrere Generationen, kumulieren sich seine Effekte. Die quantitativ beeindruckendsten Beispiele liefern die islamisch geprägten Länder, die in nur fünf Generationen (1900 - 2000) von 150 auf 1200 Millionen Menschen zugenommen haben."

Diese Theorie besagt, dass soziale Rebellionen, Revolutionen und andere Formen gewaltsamer sozialer Konflikte nicht eine Sache der absoluten, sondern der relativen Armut, das heißt einer wahrgenommenen sozialen Benachteiligung sind. Diese relative Armut nimmt beständig zu. Heinsohn bemerkt dazu: "Je erfolgreicher nun der Kampf gegen den Hunger verläuft, desto kampfeslustiger werden die nach Positionen strebenden jungen Männer. Die ubiquitäre Hoffnung auf Weltfrieden durch Sättigung auch noch der 750 Millionen absolut Armen gilt den Strategen als liebenswerteste und zugleich naivste der Illusionen. Kaum zwei Tode stehen so fern voneinander wie Hungertod und Heldentod." Nicht weniger wichtig ist, dass in Afrika ebenfalls die internationalen Wanderungsbewegungen, vor allem von Menschen mit Hochschulausbildung, die überkommenen räumlichen Grenzen der relativen sozialen Deprivation gesprengt haben. Hinzu kommt die Globalisierung der Kommunikation. Sie hat der sozialen eine kommunikative relative Deprivation hinzugefügt. Leid und relative Deprivation schließen ein, dass der legitimatorische Opferanspruch auf Gewalt unerschöpflich ist. Sie hat immer einen Rechtfertigungsgrund: in der Erfahrung, "Opfer" zu sein - und deshalb müssen die Weltreligionen wieder und wieder für die Rechtfertigung der Gewalt herhalten. Die Gewalt der Opfer ist geschultert als Antwort auf ein Unrecht, das andere zu verantworten haben. Die Jugend-bulges in Afrika und anderswo sind die Bugwellen, die sich in gewalttätigen Opferansprüchen brechen.

Professor Trutz von Trotha lehrt Soziologie an der Universität Siegen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.