Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12-13 / 15.03.2004
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Wolfram Wette

Später will es keiner gewesen sein

Dokumente über den Vernichtungskrieg im Osten

Der Vernichtungskrieg im Osten 1941-1944 fand statt. Seine konkrete Gestalt lässt sich durch die offiziellen Wehrmachtsakten nur unzureichend erschließen. Glücklicherweise verfügen wir aber über andere Zeugnisse. Mit Hilfe eines wahren Quellenschatzes, nämlich von aussagekräftigen - und wohl auch verallgemeinerungsfähigen - Tagebüchern und Feldpostbriefen von neun Wehrmachtsoldaten, die den Ostkrieg miterlebten, zeichnet Hannes Heer ein bedrückendes Bild vom Krieg in Russland.

Auf der Spur dieser primären Erlebnisdokumente begeben wir uns hinein in das Inferno des Vernichtungskrieges, in dem die militärische Auseinandersetzung, die Verbrechen an Juden, Kriegsgefangenen und russischen Zivilisten eine unentwirrbare Fusion eingegangen waren. Besagte Landserberichte machen einmal mehr deutlich, wie in dieser "Hölle" überkommene Moralvorstellungen zusammenbrachen und gleichsam eine "neue Welt" der Vernichtung entstand.

Erahnbar wird, wie die Schockerlebnisse des Krieges, die tägliche Angst vor den Soldaten der Roten Armee, der Ereignisdruck, der Schrecken und die Verzweiflung der deutschen Soldaten in eine Energie des Hasses transformiert wurden. Am Ende dieser Verheerungen der Seelen standen Gewöhnung, Abstumpfung und eine auf das eigene Überleben reduzierte Moral.

Heer erklärt die solchermaßen entstandene "Mordbereitschaft" allerdings nicht nur als eine Reaktion auf das sich radikalisierende Kriegsgeschehen, sondern ebenso mit der vorherigen Sozialisation der Soldaten im NS-Staat sowie mit den Einflüssen der rassistischen Befehlsgebung und der deutschen Kriegspropaganda.

Schon beim Begehen der Verbrechen musste den Tätern klar sein, dass diese Art der Kriegsführung sich vor der zivilisierten Weltöffentlichkeit nicht würde sehen lassen können, ja nicht einmal vor der eigenen Bevölkerung. Das Bemühen, die Spuren der Verbrechen zu verwischen und damit die Täter verschwinden zu lassen, ist so alt wie die Tat selbst. Wo die Wehrmacht selbst als Chronist auftrat, sprach sie sich frei und verwies auf die SS. Die ehemaligen Mannschaftssoldaten verstummten nach 1945.

Hannes Heer analysiert die Kriegsberichte eines Mannes, der die Fähigkeit gehabt hätte, die Wirklichkeit des Krieges im Osten sprachlich angemessen zu erfassen, nämlich des reaktivierten Hauptmanns Ernst Jünger. Für das Privileg, 1942/43 eine Reise an die Kaukasusfront unternehmen zu dürfen, revanchierte sich der Schriftsteller in der Weise, dass er über "dämonische Gewalt" orakelte und davon absah, Konkretes über Mordstätten und Täter zu berichten. Während die Schriftsteller Heinrich Böll und Erich Maria Remarque nach dem Kriege zunächst keine Verlage für ihre wehrmachtkritischen Darstellungen fanden, reüssierten Autoren wie Peter Bamm und Ernst Jünger, bei denen Verbrechen der Wehrmacht nicht vorkamen.

Die Strategien des Vergessens sollten nicht wirkungslos bleiben. Sie beeinflussten auch die nachfolgenden Generationen, erst Mitte der 90er-jahre wurde das jahrzehntelange Schweigen aufgebrochen. Inzwischen ist allerdings bereits wieder eine rückläufige Tendenz zu beobachten. Heer sieht bei seinem polnischen Kontrahenten Bogdan Musial Bestrebungen, in Anknüpfung an die Thesen von Ernst Nolte eine Mitschuld der Juden an ihrer Ermordung zu behaupten.

Auf eine stärkere Betonung der deutschen Opferrolle - bei gleichzeitiger Relativierung der deutschen Täterschaft in Krieg und Holocaust - zielen teilweise auch die Diskussionen über das Leiden der Vertriebenen sowie über den Bombenkrieg gegen deutsche Städte ab. Klarer als andere Beobachter hat Heer erkannt, worum es dem Autor Jörg Friedrich in diesem Zusammenhang geht: Indem er die Kriegführung der Briten und Amerikaner mit entliehenen Begriffen wie Massenvernichtung, Massaker und Einsatzgruppe charakterisiert, redet er einer Gleichsetzung von Holocaust und Bombenkrieg das Wort.

Hannes Heer, der als Leiter der Ausstellung über den Vernichtungskrieg der Wehrmacht 1941-1944 eine historisch-politische Aufklärungsarbeit von bleibender Bedeutung geleistet hat, setzt sich verständlicher Weise noch einmal mit dem publizistischen Trommelfeuer auseinander, das sich gegen sie richtete. Nach seiner Ansicht ist das ruhigere Fahrwasser, in welchem die zweite Wehrmachtausstellung fährt, mit einem teilweisen Verschwinden der Täter erkauft worden. Die Dokumentation der Mordtaten auch der vielen "kleinen Männer" in SS-, Polizei- und Wehrmachtsuniform durch eindringliche und als provozierend wahrgenommene Landserfotos sei zurückgefahren worden zu Lasten der Wehrmachtgeneralität, an deren maßgeblicher Verantwortung allerdings auch die neue Ausstellung keinen Zweifel lässt.

Hannes Heer

Vom Verschwinden der Täter.

Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei.

Aufbau-Verlag, Berlin 2004;

395 S., 22,90 Euro

Professor Wolfram Wette lehrt Neuere Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau


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