Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 25 / 14.06.2004
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Ulrike Grropp

Auf der Suche nach dem digitalen Schöpfungsakt - ein bisschen wie der liebe Gott

Avatare und der Glaube an bessere Menschen

Ray Kurzweil war auf dem Höhepunkt des Internet-Booms ein Medienstar. "Im Jahre 2020, spätestens jedoch 2040", so wurde der Amerikaner nicht müde zu behaupten, "sind Mensch und intelligenter Computer nicht mehr voneinander unterscheidbar". Das menschliche Gehirn werde man bis dahin an einen Chip anschließen können, die Inhalte quasi als Sicherung abspeichern und Neues "aufspielen". Robotikgurus wie Hans Moravec stellten Utopien aus dem Grenzbereich von Wissenschaft und sciencefiction als Fakten hin: Virtuelle, menschenähnliche Gestalten würden schon bald autonom, Wunderwesen aus Silizium und Metall demnächst gleichberechtigt mit Fußballstars aus Fleisch und Blut "in der Championsleague kicken".

Solche Verheißungen waren der Stoff, aus dem die (Börsen-)Träume der späten 90er-Jahre gewoben wurden. "Auf einmal wollte alle Welt Avatare und andere virtual characters haben, fast jeder Preis wurde bezahlt. Vor allem in der Werbebranche fuhr man auf diese Ästhetik ab", erinnert sich Olaf Schirm von der Kölner Firma No DNA. Das inspirierte Macher zu geistigen Höhenflügen, gelegentlichen Abstürzen und manchmal auch zu atemberaubenden Szenarien. Etwa derjenigen von "virtuellen Führungskräften", die von einem zentralen Server aus, egal ob in Rom, Tokio oder Toronto, Verkaufsmitarbeiter und Servicekräfte in der jeweiligen Landessprache schulen, motivieren und gegebenenfalls auch maßregeln könnten. "Der Einsatz von Menschen, von menschlicher Arbeitskraft, wird auf das Nötigste reduziert", gab der Avatarentwickler Rafael Martinez im Sommer 1999 zu Protokoll, während er in München für Siemens an einem künstlichen Chef namens "Netman" arbeitete. "Es entstehen Figuren, die gleichzeitig überall sind und alles sehen können - ein bisschen wie der liebe Gott".

Um von einem real existierenden Menschen einen digitalen "Abguss" herzustellen, haben Filmproduktionsfirmen und spezialisierte Agenturen seit Mitte der 90er-Jahre eine Multimediaausstattung. Deren Herzstück ist ein Datenanzug. Wie ein Taucher in seine Neoprenhaut wird der "echte" Mensch in diese mit Sensoren versehene Hülle hineingesteckt. Bewegung, Atem und vor allem auch die Mimik können mithilfe ausgeklügelter Technologien aufgezeichnet werden. Die so generierten Daten werden dann am Computer bearbeitet, verfremdet, idealisiert. Und so wird aus einem kleinen Hüpfer des Modells im Studio ein lebensecht wirkender Sprung auf einen Baum, ein Häuserdach oder gar auf den Mond. Wirklich beeindruckend wird das Ganze dadurch, dass die virtuellen Schauspieler nach ihrer Verwandlung wieder in die realen oder ebenfalls computeranimierten Filmszenerien eingebaut werden. Für die (Action-)Filmindustrie eröffneten dies Ende der 90er-Jahre ungeahnte illusionistische Möglichkeiten.

Zur Frage, wohin der Einsatz von Avataren führen und wie sich das Menschsein angesichts dieser Techniken in Zukunft noch definieren lassen würde, fanden die Protagonisten der Szene erst im neuen Jahrtausend. Da hatten sie auf einmal Zeit zum Grübeln. Mit dem Kollaps des Neuen Marktes, spätestens jedoch nach dem 11. September brachen auch die Investitionen in und die Geschäfte mit den virtuellen Charakteren ein. Und auch die Bereitschaft, für Avatar-Welten monatliche Zugangsgebühren von mindestens 25 Euro zu bezahlen, ließ in der beginnenden Rezession nach, zumal sich mit ständig steigender Rechnerleistung und verbesserten Programmen jeder Computerfreak sein virtuelles Alter Ego basteln konnte. Das eigentliche Ende des Hypes um Avatare hatte vermutlich jedoch vor allem inhaltliche und ästhetische Gründe. Nachdem die Techniker vorgeführt hatten, was sie konnten, ließ das Interesse des anfangs staunenden und begeisterten Publikums schnell nach. Und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und Anwendungsmöglichkeiten kam mit dem Tempo der technischen Entwicklung nicht mit. Die Suche nach längerfristig marktfähigen Anwendungen für virtuelle Charaktere und Avatare stellte sich als überaus schwierig heraus.

Zwar hatte, parallel oder schon vor den Entwicklungen im kommerziellen Bereich, eine lebhafte (Drittmittel-) Forschung an Universitäten und Instituten begonnen, teilweise gefördert von der EU und in internationalen Kooperationsprojekten. Dort suchten Forscher wie der Hamburger Linguistikprofessor und Sprachwissenschaftler Rolf Schulmeister nach sinnvollen Einsatzmöglichkeiten für künstliche Wesen aus dem Rechner. In seinem Institut für Gebärdensprache an der Universität Hamburg war frühzeitig eine gute Idee entstanden: Man wollte die technischen Möglichkeiten von Spracherkennungsprogrammen mit der gestischen und mimischen Ausdrucksfähigkeit von Avataren zusammenspannen, um Gehörlosen zu helfen. Fernziel der Forscher: die Entwicklung komplexer Methoden der rechnergestützten Linguistik, um gesprochene Sprache und schriftliche Texte in eine maschinenlesbare und verständliche Form zu verwandeln. Sie träumen davon, Gehörlose eines Tages mit einem tragbaren Computer ausstatten zu können, der für sie in und aus der Gebärdensprache dolmetscht.

Als erstes Ergebnis entstand die virtuelle Gebärdendolmetscherin "Tessa". Im Testversuch in fünf britischen Postfilialen, darunter das zentrale Londoner Amt in der Nähe von Trafalgar Square, hinterließ der Avatar, der auf PC und Bildschirm vor und hinter dem Postschalter lief, bei den Nutzern "einen guten Eindruck". Nach Auskunft von Judy Tryggvason von der University of East Anglia in Norwich ergab die Evaluierung, dass die Gehörlosen es "extrem nützlich fanden, dass sie die Rückfragen der Schalterbeamten verstehen konnten". Sie hätten nur bedauert, dass "Tessa" ihre Antworten an die Postbeamten noch nicht aus der Gebärdensprache in gesprochenes Englisch zurückübersetzen konnte. Der geplante reguläre Betrieb des Systems in britischen Postämtern scheiterte dann allerdings an einer Finanzkrise der britischen Post.

Der deutsche Projektpartner, Gebärdensprachexperte Rolf Schulmeister, beklagt, dass viele Forschungsansätze zwar bis zur Anwendungsreife geführt, dann aber fallen gelassen würden. "Die Technologieentwicklung geht in rasantem Tempo weiter, aber die Drittmittel brechen ein", berichtet der Avatar-Experte, "und die Universitäten sind nicht bereit und in der Lage, weiter Personal und Geld bereit zu stellen". Mit Ende der öffentlichen Förderungen stünden viele für teures Geld entwickelte Technologien ohne Markt da: zu teuer für die Anwender, für Unternehmen nicht profitabel genug. "Es ist typisch für die gegenwärtige Lage", sagt Schulmeister, "dass wir ein aufwendiges computergestütztes Lernsystem entwickeln, bei dem Avatare die Rolle von Lehrern für Gebärdensprache übernehmen, doch anschließend stellt sich heraus, dass der Markt zur Zeit noch nicht genug hergibt". Nun droht dem Projekt das endgültige Aus. Es ehrt die Erfinder, dass sie ihre Technologie einer niederländischen Gehörloseninitiative angeboten haben, die damit im Internet eine Wettervorhersage für Gehörlose betreiben kann.

Auch bei Olaf Schirm hat sich Ernüchterung breitgemacht, obwohl er seine Firma No DNA über die Krise retten konnte. "Wo hochbezahlte Computerdesigner und ihre Auftraggeber vor einigen Jahren noch wochenlang über die Gestaltung eines Ohrläppchens oder über die Oberweite eines virtuellen Stars debattierten, ist die Phantasielosigkeit des Sparens eingekehrt", sagt Schirm. Gefragt seien Avatare zurzeit vor allem von Firmen, die ihrem Online-Angebot eine persönliche Note geben wollen, ohne Personal einzustellen. Gebaut würden vor allem konventionelle Figuren, Buchhalterinnen im Business-Dress, angepasst und bloß nicht zu sexy. Es sind Figuren wie aus dem Legokasten.

Wer einen Blick auf die gestalterisch überaus bescheidenen OnlineFiguren ("bots") wirft, die beispielsweise auf den Seiten der Bundesagentur für Arbeit eingesetzt werden, und diese mit den hyperrealistischen Avataren vergleicht, die durch Online-Spiele-Welten reisen, wird Olaf Schirm recht geben. "Dort erkennt man die Härchen auf der Haut oder eine Träne im Auge", schwärmt Schirm, "wir können immer mehr. Doch aufgrund der Marktsituation wenden wir zurzeit nur einen Bruchteil unserer Fähigkeiten an." Angesichts einer Meldung aus Japan kann man dies als Hoffnung auf bessere Zeiten - oder auch als Drohung an die Spezies Mensch verstehen. Aus dem Inselreich kam vor einiger Zeit die bislang nicht zu verifizierende Kunde vom versuchsweisen Einsatz von Avataren und Roboter-Streicheltieren bei der Betreuung dementer Senioren. Diese ließen sich - angeblich - durch virtuelle Zuwendung genauso gut unterhalten und beruhigen wie durch reale Altenpfleger.

Ulrike Gropp ist freie Journalistin in Leipzig.


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