Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Zur Druckversion .
Hans-Heinrich Nolte

Die Schlupflöcher schließen sich

Grenzen und Grenzziehung in Europa vom Wiener Kongress bis zur Gegenwart
Die Radikalisierung von Grenzen, die sich seit dem Mittelalter beobachten lässt, ist auch im 19. und 20. Jahrhundert weitergegangen. Der Zugriff des Staates, aber auch die politische und ökonomische Integration der Bürger wurden intensiviert, was mit innerer Schlüssigkeit zu einer Verschärfung der Grenzregimes führt, wie den hochtechnisierten Kontrollen an der Schengen-Grenze oder dem Zaun im Süden der USA. Diese Grenzen widersprechen zwar der seit mehreren Jahrhunderten zunehmenden Globalisierung von Warenproduktion, Information und Arbeitsmärkten, sind aber nach wie vor wirksam - auch wo durch Unionen die Außengrenzen verlegt wurden.

Der Friede von 1815 war der letzte umfassende Friede des alten europäischen Systems. Er wurde zwischen Dynastien geschlossen, die seit Jahrhunderten um ihren Platz in Europa fochten und in den frühmodernen Staaten zusammen mit hohem Adel und Bürokratie als politische Klasse ihrer Zeit gemeinsame Verhaltensregeln entwickelt hatten, auch wenn diese gerade durch den napoleonischen Imperialismus erschüttert worden waren. Der Friede ging vom Potenzial der Mächte aus und bestimmte Grenzen, die von vielen anerkannt werden konnten und auch anerkannt wurden. Der Friede bildete die Voraussetzung für ein allgemeines Wachstum von Wohlstand und Demokratie im Kern des Systems zwischen den USA und Europa, das erst mit dem Ersten Weltkrieg abbrach. Im Westen Europas sind die Grenzen von 1815 noch heute weithin erhalten - Elsass und Lothringen bei Frankreich und die südlichen Niederlande weder bei Frankreich noch beim Deutschen Bund. Im Osten dagegen sind diese Grenzen fast alle aufgehoben - zerbrochen von jenen Mächten, welche die neue Gewalt der Nationalbewegungen ausnutzten, um eine neue "nationale" Imperiumsgründung zu versuchen (Deutschland), um die drei osteuropäischen Imperien zu zerschlagen und kleine oder mittlere Nationalstaaten an ihre Stelle zu setzen, oder um eine mit "Klassengrenzen" begründete übernationale Föderation zu erzwingen (UdSSR).

Clausewitz hatte notiert, dass die Mächte das von Napoleon eingeführte Nationalitätsprinzip kaum würden ungenutzt lassen, da sie ihre Machtmittel damit vermehren konnten. Aber was war eine Nation? Im Westen Europas war das eine Koalition von Ständen, die durch Teilhabe an der Macht innerhalb des durch äußere Grenzen definierten Staats politisch integriert war. Die Grenzen waren international anerkannt; Nationen existieren nur in Systembeziehungen. Polen war eine Nation, aber eine vormoderne, weil nur ein Stand - der Adel - an der Macht teilhatte. Mit dem Kompromiss von Parlament und Königtum 1688 wurde England zur ersten modernen Nation - Adel, Staats-Kirche und Besitz-Bürger waren sich mit der Krone in Nationalstolz, Antikatholizismus und expansiver Außenpolitik einig. Die USA wurden 1776, Frankreich 1789 eine Nation, und die Machtergreifung der Besitzenden integrierte die Bürger sowohl des deutsch redenden Straßburgs wie des okzitanisch redenden Südens - nicht aber die französisch redenden in Genf, das als Kanton der Schweiz eine andere Form der Selbstbestimmung gefunden hatte. Die Nationen boten der Wirtschaft in der Periode der indus-

triellen Revolution einen großen Binnenmarkt, den die "Nachzügler" (zu denen am Anfang des 19. Jahrhunderts auch die USA gehörten) mit hohen Außenzöllen schützten.

Der 1815 gegründete Deutsche Bund bildete keine Nation, da die Bundesverfassung keine Integration der Bürger sicherte. Der Bund umfasste außerdem Teile des übernationalen Imperiums Österreich-Ungarn sowie des Königreichs Preußen, das mit den nicht zum Bund gehörenden Provinzen Posen und Preussen weit in das wieder aufgeteilte Polen hineinragte. Von Herder ausgehend schuf die deutsche Romantik einen Begriff von Volk, der die Gemeinsamkeit von Sprache und (oft nur vermuteter) Herkunft in den Vordergrund und die politische Mitbestimmung in den Hintergrund schob beziehungsweise zur "Einigkeit" mystifizierte. In diesem Sinn konnte die preußische Dynastie den deutschen Nationalismus nutzen, um die kleinen deutschen Dynasten zur Unterordnung zu veranlassen, Österreich aus Deutschland auszuschließen, Frankreich zu besiegen und Elsass-Lothringen zu annektieren. Mit der deutschen Form des Nationalstaats wurde auch die Durchlässigkeit der Grenze geändert - wie die absolutistischen Staaten vor ihnen nahmen die westlichen Nationen anderssprechende Zuwanderer auf, wenn sie fanden, dass das in ihrem Interesse lag. Sie gingen davon aus, dass diese sich im Alltag assimilieren würden und boten unter Umständen die Bürgerschaft (USA, Arbeitsmigrationen nach Holland und Frankreich). Staaten mit genetischem Volksbegriff konnten dagegen Zuwanderung auf Dauer nur von Menschen gleicher Sprache begrüßen.

Die Gründung der modernen deutschen Nation 1871 wurde ein großer Erfolg. Deutschland übernahm, geschützt durch Außenzölle, die Industrielle Revolution und entwickelte zwei neue Industriezweige (Elektroindustrie und Chemie). Das Land wurde nach wirtschaftlichen Kriterien umstrukturiert: Millionenstädte und Industriegebiete entstanden, andere Regionen wie Mecklenburg wurden zu inneren Peripherien. Waren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Deutsche zu Saisonarbeit oder Ansiedlung in die Niederlande gezogen, so zogen nun Polen und Ukrainer nach Deutschland, um in der Ernte oder im Bergbau einen Job zu finden. Ansiedeln durften sie sich aber nicht, wenn sie nicht schon vor der Migration zum Beispiel als Posener deutsche Staatsbürger waren - sie mussten stets zum Winter das Land verlassen. Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsvermehrung und expansive Außenpolitik - man erwarb Kolonien und baute eine Hochseeflotte, welche Großbritannien herausforderte - bildeten die Grundlage für ein neues deutsches Nationalgefühl, das im Reichstag eine, wenn auch in den Zuständigkeiten eingeschränkte und durch das Dreiklassenwahlrecht in vielen Bundesstaaten konditionierte Integration bewirkte, die sogar die kommunistische Periode in der DDR überdauerte.

Die deutsche Nationsgründung stärkte die Gefahren für die drei osteuropäischen Imperien Russland, Österreich und das Osmanische Reich, weil sie allen nach der Sprache definierten "Völkern" - und an erster Stelle selbstverständlich Polen und Ungarn, bei denen Traditionen vormoderner Adelsnationen fortwirkten - nahe legte, ebenfalls den Weg in den modernen Nationalstaat zu suchen. Nach den Niederlagen der drei Imperien zwischen 1911 und 1918 und dem Sturz der Dynastien wurde deshalb ein Gürtel von meist kleinen Nationalstaaten zwischen Estland und Albanien geschaffen: "Ostmitteleuropa" zwischen Deutschland und der UdSSR. Überwiegend waren die neuen Staaten ethnisch heterogen, hatten also selbst wieder große Minderheiten. In einigen Fällen wurden die Minderheiten "ausgetauscht", zum Beispiel zwischen Griechenland und der Türkei. Die neuen Nationalstaaten besaßen selten stabile Bürokratien und versuchten alle trotz kleiner Märkte eine nachholende Industrialisierung. Wo es Anfangserfolge gab, wurden sie durch die Weltwirtschaftskrise zunichte gemacht. Da die Bevölkerung des Raumes schnell wuchs, ohne dass die Arbeitsplätze zunahmen, stieg fast überall der nationalistische Druck auf Minderheiten wie Juden oder Aromunen, die jedoch in die Nachbarländer nicht aufgenommen wurden. Grenzen wurden undurchlässiger - nicht nur für Waren, sondern auch für Saisonarbeiter und Flüchtlinge.

Der Friede von Versailles 1918 wurde von Nationalisten ausgearbeitet, welche die (ja auch mühsam genug erarbeitete) politische Klugheit der Dynasten von 1815 nicht besaßen, die Verlierer an den Verhandlungen nicht beteiligten und ihnen nur einen fertigen Entwurf zur Unterschrift vorlegten. Während das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für kleine Staaten in Anspruch genommen wurde, galt es nicht für Deutschland: nicht nur Elsass-Lothringen, sondern auch der Korridor zur Ostsee kamen ohne Abstimmung an Frankreich beziehungsweise Polen, und den über drei Millionen geschlossen siedelnden Deutschen in der Tschechoslowakei wurde genauso die Mitgliedschaft in der neuen deutschen Republik untersagt wie Österreich, dessen Parlament dafür votierte (eine Abstimmung wurde von den Siegern verboten).

Es hätte die internationale Rechtsordnung gestärkt, wenn das nun demokratische Deutschland - auch Frauen besaßen jetzt das Wahlrecht - trotz dieser Doppelmoral seinen Weg im Rahmen des Systems gesucht hätte. Es gab durchaus Möglichkeiten zu einer gesicherten und einflussreichen Entwicklung wie auch mäßigen Korrekturen, wie Gustav Stresemann sie anstrebte. Deutschland entschied sich 1933 jedoch für eine nationalistische Diktatur, welche die Minderheiten radikal ausgrenzte und das Ziel von Korrekturen von Versailles nur vorschützte, um ein Imperium zu errichten, das tendenziell die Welt umfasste und also unbegrenzt war. Die Nationalsozialisten hielten Krieg für die normale Form des Zusammenlebens auf der Erde, und dementsprechend war die Front eigentlich die angemessenste Form der Grenze. An die Stelle eines festen Konzepts, bis wohin das Imperium denn reichen solle, setzte man scharfe innere Grenzen: zwischen "guten" und "schlechten" Deutschen; zwischen Deutschen, Romanen und Slawen, zwischen "Ariern" und Juden. Die inneren Ausgrenzungen wurden in einem vielfältigen Lagersystem realisiert: HJ-Lager für die Guten, Arbeitslager verschiedener Grade für Angehörige unterworfener Völker, Kriegsgefangenen-Lager, Konzentrations-Lager für politische Gegner wie Kommunisten oder Christen sowie Nationalisten (anderer Nationen), Vernichtungslager für Juden und Roma. Die Durchlässigkeit der inneren Grenzen nahm in dieser Reihenfolge ab, Ghetto und Vernichtungslager wurden auch wirtschaftlich isoliert, und schließlich gab es kein Entkommen mehr aus ihnen.

Kontrolle von Information scheiterte

Der Sieg der Alliierten befreite Europa und auch Deutschland von diesem Unrechtsregime. Allerdings war der Sieg nur möglich im Bündnis mit der UdSSR, die selbst nicht nur im Innern ebenfalls ein System von Zwangsarbeit und Lagern, sondern vor allem die schärfsten Außengrenzen geschaffen hat, die bisher realisiert wurden. Das folgte schlüssig aus dem Anspruch umfassender Planung - man kann keine freie Beweglichkeit von Personen über Grenzen hinweg zulassen, wenn man die Zahl der Ärzte, der Fabrikarbeiter etc. für die kommende Generation ausbilden will, und freier Warenverkehr über Grenzen hinweg ist systemfremd, wenn man die Gesamtmenge der Konsumwaren mit der Lohnsumme in Übereinstimmung bringen möchte. Zu den radikalen Außengrenzen - konkretisiert durch die Mauer quer durch Berlin, aber auch die langen Grenzkontrollen bei einer Einreise oder Ausreise - gehörte auch der Versuch, alle Informationen an den Grenzen zu kontrollieren.

Für Mitteleuropa bewirkte der Sieg der Alliierten auch umfangreiche ethnische Säuberungen, da die von Deutschland unterdrückten Nationalbewegungen nun homogene Staaten schaffen wollten und die deutschen Minderheiten vertrieben, so weit sie nicht vor der Roten Armee geflohen waren. An erster Stelle und mit grundsätzlicher Zustimmung der Alliierten wurden die Deutschen aus den Gebieten zwangsweise umgesiedelt, die Polen zum Ausgleich für die an die UdSSR verlorenen Ostgebiete erhielt; dem folgten aber die meisten anderen Staaten Ostmitteleuropas. Entsprechend wurden polnische und ukrainische Menschen über den Bug hinweg "ausgetauscht."

Ein entscheidender Schritt der deutschen Demokratisierung nach 1945 war die Anerkennung der neuen Grenzen. Sie bedeutete de facto (wenn auch nicht de jure) eine Übernahme des westlichen Nationenbegriffs: diejenigen bilden die Nation, welche an der Politik eines Staates in vom internationalen System anerkannten Grenzen teilhaben. Erst die Anerkennung des Verlustes der Gebiete östlich der Oder machte es einerseits unmöglich, das innere Gleichgewicht der Republik durch Forderungen nach Rückeroberung und entsprechende Rüstungen infrage zu stellen, und andererseits Polen und der Tschechoslowakei möglich, sich von dem Bündnis mit der UdSSR zu lösen.

Dieser Zusammenhang wurde relevant, als der Monopolsozialismus nach dem gescheiterten Reformversuch Gorbatschows zusammenbrach - vor allem wegen der immensen Rüstungslast, nicht zuletzt aber auch, weil der Versuch, Informationen an den Grenzen zu kontrollieren, gründlich misslang und an die Stelle des gewünschten Negativ-Bildes vom "sterbenden Kapitalismus" ein auch eher irreführendes Bild von Massenwohlstand in den Osten gelangte, sozusagen die Fernsehversion der westlichen Welt. Die Staaten östlich der Oder lösten sich von der Kooperation mit der UdSSR, die nur noch als Zwang gesehen wurde, und suchten den Weg in den Kapitalismus sowie schließlich in die Europäische Union. Die Emanzipation von der UdSSR und die Zurückdrängung auch des russischen Einflusses stellte Ostmitteleuropa als politisch selbständigen Raum wieder her, den Deutschland ab 1938 vernichtet hatte. Ökonomisch hat dieser Raum aber bisher seine halbperiphere Stellung nicht hinter sich lassen können.

Erneut änderte die deutsche Grenze im Osten ihre Funktion nach der Wiedervereinigung an Oder und Erzgebirge. War es bis zum Sturz des Sozialismus darum gegangen, Flüchtlinge aus dem befeindeten Osten möglichst schnell und freundlich aufzunehmen, so geht es nun darum, möglichst viele Arbeitssuchende aus dem Osten von Arbeitsmarkt oder Sozialansprüchen in Deutschland fernzuhalten. Auch die Eindämmung von Frauen- und Kinderhandel sowie Drogenverkauf und organisierter Eigentumskriminalität, die vorher durch die hochkontrollierten Systeme des Sozialismus weithin in den Ländern selbst unterbunden wurden, wurden nun zur Aufgabe der Grenzer. Die Mitgliedschaft Polens und Tschechiens in der EU wird die Bedeutung der deutschen Ostgrenze zurücktreten lassen; ansteigen wird allerdings die Bedeutung der neuen Außengrenze der EU zu den ostslawischen und orthodoxen Nationen.

Hans-Heinrich Nolte ist emeritierter Professor für Geschichte in Hannover und Herausgeber der "Zeitschrift für Weltgeschichte".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.