Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
Zur Druckversion .
Reinhard Mawick

"Sie tun einem nichts, die Katholiken"

Die Trennung in Katholizismus und Protestantismus hat Europa geprägt - wie tief ist der Graben heute noch?
"Einmal in der Woche fahre ich nach Quakenbrück. Dann reicht es mir, dann muss ich mal wieder raus aus diesem katholischen Muff. Quakenbrück ist evangelisch, da kann ich richtig durchatmen", erzählt Frau M. Frau M. lebt in einer Kleinstadt im oldenburgischen Münsterland (Niedersachsen) und ist evangelisch. Die Protestanten sind in dieser zu über 90 Prozent katholischen Region um die Städte Vechta, Cloppenburg und Damme eine kleine Minderheit. Prozessionen und anderes katholisches Brauchtum prägen dort den Alltag. In diesem kleinstädtisch-ländlichen Milieu, so meint Frau M., falle man als Protestantin wirklich auf. "Sie tun einem nichts, die Katholiken, aber diese milde Herablassung ist schon schwer zu ertragen."

Ist Frau M. überempfindlich oder hat das Konfessionelle, der Gegensatz zwischen den aus der Reformation im 16. Jahrhundert hervorgegangenen protestantischen Konfessionen und dem römischen Katholizismus, im 21. Jahrhunderts wirklich noch so eine starke Bedeutung?

Generell ist der Einfluss der christlichen Konfessionalität in Deutschland sicher nicht mehr so groß, wie er noch vor einigen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten war. Kriege führt man deswegen schon lange nicht mehr. Dennoch ist Deutschland, das bevölkerungsreichste Land Europas, für das Nebeneinander von Protestanten und Katholiken das wichtigste Beispiel, denn in keinem anderen Land Europas sind beide Konfessionen so gleichstark vertreten.

Deutschland war in der Vergangenheit der Hauptschauplatz der Glaubenskriege. Aber es hat seine Bikonfessionalität in Etappen bewältigt: Im Augsburger Religionsfrieden (1555) werden beide Konfessionen anerkannt. Es galt der Grundsatz: Wer das Land regierte, bestimmte die Konfession (lateinisch: cuius regio, eius religio). Der Westfälische Frieden 1648 beendete endgültig das Zeitalter der Religionskriege in Europa. Es herrschten klare Verhältnisse: Die Andersgläubigen müssen auswandern, wenn sie an einer Konfession festhalten wollen, die der des Landesherren widerspricht.

Doch im 18. Jahrhundert verwässert langsam die konfessionelle Geschlossenheit der deutschen Territorien: Friedrich II. von Preußen bestimmte für sein immer größer werdendes Land den Grundsatz: "Die Religionen müssen alle tolerieret werden (...), denn hier muss ein jeder nach Seiner Faßon selig werden". Er rief unabhängig von der Konfession Menschen in das große, dünnbesiedelte Preußen. Dennoch blieb Deutschland im Großen und Ganzen ein Flickenteppich konfessionell geschlossener Territorien. Man lebte meist friedlich nebeneinander, aber auch nebeneinander her. Es verfestigten sich die Meinungen über die jeweils andere Konfession, und Eheschließungen zwischen Katholiken und Protestanten sind jahrhundertelang extrem selten beziehungsweise gar nicht möglich. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die konfessionelle Homogenität Deutschlands gehörig durcheinander gewirbelt: Flüchtlinge aus den Ostgebieten, meist evangelischer Konfession, siedeln sich in bisher absolut homogenen katholischen Territorien an.

Trotz des protestantischen Zuzugs der vergangenen Jahrzehnte ist Südoldenburg bis heute eine katholische Vorzeigeregion in Deutschland. Nach der Meinung von Frau M. ist sie noch heute so "schwarz" (gleich katholisch), dass man "tagsüber mit Licht fahren" müsse. Ein sicheres Indiz dafür: Die CDU erreicht bei den Wahlen in der Region an die 70 Prozent und teilweise darüber. Das liegt auch sicher an der konfessionellen Prägung, die sich in Südoldenburg in sehr deutlicher Form erhalten hat.

Katholiken sind in Deutschland in vielen Dingen immer noch konservativer als Protestanten. Doch der Gegensatz ist seit 1945 im Abnehmen begriffen, auch gibt es in beiden Konfessionen sowohl sehr progressive als auch sehr konservative Richtungen. Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde immer wieder der Leitsatz geäußert, Deutschland würde "sozialdemokratischer und protestantischer werden". Aber schon damals war nicht wirklich klar, was sich hinter der These verbirgt.

Es ist also heute kaum möglich, gesamtgesellschaftlich einen Gegensatz oder eine Frontlinie zwischen den Konfessionen in Deutschland zu ziehen, denn die Bedeutung der Konfession nimmt mit der zunehmenden Säkularisierung und vor allem der zunehmenden Erosion kirchlicher Bindungen beziehungsweise bewusster Emanzipation vom kirchlichem Einfluss ab. Treffend schreibt der äthiopische Aristokrat Asfa-Wossen Asserate in seinem Buch "Manieren": "Die seit meiner Ankunft in Deutschland mir häufig vorgetragene Anekdote (so häufig, dass ich inzwischen an ihrer Wahrscheinlichkeit zweifle), am katholischen Fronleichnamstag hätten die protestantischen Bauern Mist gefahren, um die Prozession zu stören, am Reformationstag hingegen hätten die Katholiken ein heftiges Teppichklopfen angefangen, beschreibt schon geradezu legendär gewordene Verhältnisse."

Dem ist nichts hinzuzufügen. Vielmehr scheinen heute andere transzendente Kennzeichen für die Volksmeinung wichtiger zu sein als die Konfession. So beschreibt das Massenblatt "BILD" im Sommer 2004 in einer Serie Schlagerstars wie folgt: "Stefanie Hertel (Löwe, evangelisch)" und "Stefan Mross (Schütze, katholisch)". Das Sternzeichen scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland fast bedeutender zu sein als die Religionszugehörigkeit. Die Frage, ob jemand gläubig ist, hat wieder mehr Bedeutung, doch die traditionellen konfessionellen Verästelungen der Religiosität sind dabei immer weniger von Interesse.

Anders als in Deutschland und vielleicht noch in den Niederlanden und der Schweiz sind die meisten übrigen Länder Mittel- und Westeuropas klarer von einer Konfession geprägt. Die skandinavischen Länder haben beziehungsweise hatten bis vor kurzem eine lutherische Staatskirche, waren also klar protestantisch geprägt. Sicher sind Züge des spezifischen skandinavischen Luthertums in die Volksmentalität eingeflossen, aber mangels Masse gab und gibt es kein direktes Aufeinandertreffen von Katholiken und Protestanten.

Die Länder der iberischen Halbinsel (Spanien, Portugal), Polen und natürlich Italien sind absolut katholisch geprägt. Was Italien betrifft, so hat man Katholizismus pur. Der berühmte Filmemacher Federico Fellini - er ist besonderer Kirchennähe unverdächtig - sagte einmal: "Ich weiß, dass ich der Gefangene von zweitausend Jahren Katholizismus bin. Alle Italiener sind es." Die engen Verbindungen zwischen Italien und dem Katholizismus lassen sich schon an der Sprache festmachen. Das Wort "christlich" hört man in Italien kaum, es ist im Italienischen fast vollständig von dem Wort "katholisch" ersetzt. Mit Abstrichen gilt diese klare katholische Homogenität auch für Spanien und Portugal. Mangels Masse gibt es keine Konflikte mit Protestanten. Etwas anders sind die Verhältnisse in Frankreich: Seit der Revolution 1789 pflegt der Staat ein distanziertes Verhältnis zur katholischen Kirche und auch zu den verschwindend geringen protestantischen Minderheiten. Seit 1905 ist der französische Staat streng laizistisch und hat deshalb ein völlig anderes Selbstbewusstsein gegenüber dem katholischen Klerus entwickelt als in den anderen traditionell katholischen Ländern.

In Großbritannien ist das Verhältnis zwischen der protestantischen anglikanischen und der katholischen Kirche insofern von Bedeutung, da letztere in der jüngeren Vergangenheit als Auffangbecken für jenen konservativen Teil der anglikanischen Geistlichkeit diente, die gewisse liberale Veränderungen, wie zum Beispiel die Frauenordination, nicht anerkennen wollten. Irland hingegen ist ein sehr katholisch geprägtes Land, in dem traditionelle katholische Moralvorstellungen immer noch vorherrschend sind: Zum Beispiel ist der Schwangerschaftsabbruch illegal und Ehescheidung schwierig.

Das politisch zu Großbritannien gehörende Nordirland wird immer als erstes erwähnt, wenn von einem Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken die Rede ist. Dafür taugt es aber überhaupt nicht. In Nordirland ist über Jahrhunderte hinweg eine verworrene Lage entstanden. Ein Drittel der Bevölkerung ist protestantisch und hängt in einem teilweise übersteigerten Nationalismus an der britischen Krone. Die zwei Drittel Katholiken fühlen sich hingegen eher dem irischen Mutterland zugehörig und streben mit ihren Interessenvertretern eine Annäherung beziehungsweise Vereinigung mit Irland an. Die Konfession gehört untrennbar zur nationalen Identität und ist eigentlich von ihr nicht abzulösen. Von einem religiösen Gegensatz zu sprechen, verkennt den im Kern nationalen Charakter des Konfliktes.

Institutionalisierte Doppelmoral

Die sehr zugespitzten nordirischen Zustände gelten in abgemilderter Form sicherlich für alle westeuropäischen Länder. In Jahrtausenden beziehungsweise Jahrhunderten haben das Christentum und die jeweils spezifisch nationale Ausprägung des Christentums ihre Spuren im Charakter einer Nation hinterlassen. Es ist aber schwierig, die unterschiedlichen Nationalcharaktere eindeutig mit einer konfessionellen Ausprägung in Verbindung zu bringen. Es bleibt ein uneindeutiges Amalgam.

Religiöse und damit auch spezifisch konfessionelle Identitätsmerkmale gelten jedoch besonders im Bereich der (Sexual-)Moral und Sozialethik. Hier kann man sicher feststellen, dass die protestantisch geprägten Nationen Nord- und Mitteleuropas eine liberalere Grundeinstellung haben und nicht so wie die homogen katholisch geprägten Länder des Mittelmeerraumes eine quasi institutionalisierte Doppelmoral aufgebaut haben. Ein gewichtiges Beispiel dafür: Italien hat europaweit die niedrigste Geburtenrate, obwohl die dort omnipräsente katholische Kirche strikt gegen jede künstliche Geburtenkontrolle ist. Die allgegenwärtige Kirche erzeugt unter der gesellschaftlichen Oberflächen einen rigorosen Antiklerikalismus, der so in protestantischen Ländern nicht festzustellen ist. Ein Kennzeichen findet sich zum Beispiel auf Speisekarten in Italien: Dort, so weiß der langjährige britische Italienkorrespondent Tobias Jones in seinem 2004 erschienenen Bilanzbuch ("Italien - das dunkle Herz des Südens"), gibt es in der Region Emilia Romagna eine Pastaform, die strozza-preti (Priesterwürger) genannt wird.

Was die Allergie gegen eine Konfession und ihre Vertreter angeht, so hat es Deutschland besser. Dort muss man meist nicht sehr weit fahren, um in eine Region zu kommen, in der mehrheitlich die andere Konfession vorherrscht. Frau M. jedenfalls braucht nach Quakenbrück nur 20 Minuten und kann dann tief durchatmen.

Der evangelische Pastor Reinhard Mawick ist Redakteur bei "Chrismon".


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.