Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 31-32 / 26.07.2004
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Anke Strüver

Ohne Grenzen wäre alles endlos

Schrankenloses Europa? Was Schengen nicht beseitigen kann
Seit dem Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages über die Europäische Union 1993 und der Reduzierung der EU-Binnengrenzen auf ihre administrative Funktion finden Rhetoriken der Entgrenzung zunehmend Verbreitung. Tatsächlich haben die Grenzen durch ihre Durchlässigkeit einige ihrer vermeintlich wesentlichen Charakteristika verloren, wie die Regulierung und Kontrolle der Bewegungen von Menschen, Gütern und Dienstleistungen. Gleichwohl sind diese Grenzen nicht wirkungslos geworden - denn sie haben ihre kognitiven, soziokulturellen und identitätsstiftenden Bedeutungen behalten und bleiben als Abgrenzungen im Alltagsleben bestehen.

Im Zuge von Globalisierung, Europäisierung und dem Bedeutungswandel von Nationalstaaten wird das Verschwinden von Grenzen postuliert. Durch die Öffnung der Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wurden - formal gesehen - aus Außengrenzen, die die Territorien einzelner Nationalstaaten und deren Souveränität voneinander trennen, Binnengrenzen, deren Funktion meist als auf die politisch-administrative Gliederung reduziert beschrieben wird. Im Rahmen der europäischen Vereinigung wird daher oft von Entgrenzung sowie von einem Bedeutungsverlust der Grenzen gesprochen. Entgrenzung verweist dabei auf die "offenen Grenzen" zwischen den EU-Mitgliedsstaaten, auf ihre Defunktionalisierung durch die Abschaffung von Zoll- und Passkontrollen und die damit einhergehende "Bewegungsfreiheit" für EU-Bürger.

Dieses Europa der Union, der propagierten grenzüberschreitenden Kooperation und Interaktion, des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, findet sich in Slogans wie dem der "grenzenlosen Freiheit" und dem "Europa ohne Grenzen" wieder. In ihrem Verschwinden gelten die EU-Binnengrenzen als Garant für Grenzenlosigkeit oder zumindest Durchlässigkeit und "Barrierefreiheit" sowie für die damit verbundenen Erwartungen von fortschreitender Integration und Kohäsion. Dabei wird allerdings oft vernachlässigt, dass Grenzen in den Köpfen der Menschen als imaginäre Grenzen weiter bestehen bleiben.

Inwiefern Grenzen im Kopf auch nach einer Grenzöffnung dominant bleiben oder gar an Bedeutung gewinnen, hat sich beispielsweise nach der deutschen Wiedervereinigung gezeigt. Die "Mauer in den Köpfen" - die vielfach erst nach dem Mauerfall errichtet wurde - passt zwar nicht zur Rhetorik des Zusammenwachsens dessen, was zusammen gehört, bestimmt(e) aber in hohem Maße die unterbewussten mentalen Ordnungsstrukturen und das (geteilte) Zugehörigkeitsgefühl. Auf den gleichen Prinzipien basieren die imaginären Grenzen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und den darin lebenden Menschen. Grenzen sind in vielen Fällen immer noch mehr als nur "in den Köpfen": Das Beispiel der ehemaligen innerdeutschen Grenze hat verdeutlicht, dass Grenzen bisweilen nur für einige Menschen beziehungsweise in eine Richtung verhältnismäßig "offen" und durchlässig sein können. Auch jetzt sind die EU-Binnengrenzen lange nicht für alle Menschen offen, sondern nur für EU-Bürger. Das Europa ohne Grenzen ist in Verbindung mit dem Schengener Abkommen und der europäischen Asylpolitik für viele auch eine "Festung Europa", deren Außengrenzen intensiv kontrolliert werden.

Die Öffnung von Grenzen innerhalb der EU hat zudem immer auch die Schließung von Grenzen mit sich gebracht. Die deutsch-polnische Grenze zum Beispiel hat in den vergangenen 15 Jahren mehrmals tief greifende Änderungen erfahren: Mit dem Mauerfall 1989 und dem Ende des Kalten Krieges wurde diese bis dahin verhältnismäßig "offene" Grenze geschlossen und zu einer EU-Außengrenze. Im Rahmen der Verhandlungen um die EU-Osterweiterung und dem Beitritt Polens hat sich diese "geschlossene Grenze" während der vergangenen Jahre durch Polen hindurch bewegt und befindet sich nun an der bislang "offenen" polnischen Ostgrenze. Der Wegfall der deutsch-polnischen Grenzkontrollen hat also eine Umbewertung und Verschärfung der polnisch-ukrainischen und polnisch-weißrussischen nach sich gezogen.

Insgesamt erscheint die Rede vom Verschwinden der Grenzen in vielerlei Hinsicht zweifelhaft. Denn neben der wechselseitigen Bedingtheit von Grenzöffnung und -schließung tragen Grenzen auch grundsätzlich die Ambivalenz von Eingrenzung einerseits und Ab- beziehungsweise Ausgrenzung andererseits in sich: Eingrenzung rekurriert auf das Eigene, auf "Wir Hier", auf Zugehörigkeitsgefühl, Vertraut- und Geborgenheit. Abgrenzung hingegen verweist auf das Fremde von "drüben", auf das Andere. Diese Ambivalenz von Grenzen ist ein wichtiger, wenn auch selten bewusster Ordnungsrahmen, der als konstitutives Element von Identität fungiert.

Es gibt keine "natürlichen" Grenzen - das bedarf bei der Frage nach nationalen Grenzen zunächst keiner weiteren Erklärung, denn auch die "natürlichen geographischen Grenzen" wie zum Beispiel der Ural oder die Oder sind in einer solchen Betrachtung Konstruktionen gesellschaftlicher Ordnung. Schon Georg Simmel hat im Rahmen seiner "Soziologie" vor 100 Jahren festgestellt, dass eine Grenze nicht eine räumliche Tatsache mit sozialer Wirkung ist, sondern ein soziales Phänomen, das sich räumlich formt.

Nicht nur räumliche Grenzen, auch die sozialen zwischen nationalen Identitäten und anderen Identitätskategorien sind "nur" konstruiert. Dabei ist es jedoch wichtig anzuerkennen, dass Identitäten Grenzen als konstitutives Element brauchen. Grenzen, räumliche wie soziale, funktionieren immer als Abgrenzungen, als Differenzierungen im Sinne einer Unterscheidung. Zugleich haben sie den Effekt der Homogenisierung dessen, was jeweils "dahinter" liegt: Sowohl das Ausgegrenzte, als auch das Eingegrenzte werden als in sich homogene Gruppen konzipiert, die sich über die Unterscheidung konstituieren. Ein solches Prinzip der "Identität durch Differenz" versteht den Identifikationsprozess allgemein als Abgrenzungsprozess, der zur Konstruktion vom Wir, dem Eigenen und Ihr, dem Anderen, dem Fremden, führt. Allerdings wird oft vergessen, dass Abgrenzungen nicht per se die Form von Ausgrenzungen annehmen müssen. Grenzen sind weder grundsätzlich böse oder schlecht, noch überflüssig oder ausschließlich lästiges Übel. Vielmehr stellen sie eine Notwendigkeit menschlicher Existenz dar. Sie werden gebraucht, um sich definieren und agieren zu können, und letztlich auch, um sie wieder in Frage zu stellen, neu zu definieren und zu überschreiten.

Grenzziehungen bedingen Grenzübertretungen, denn, wie Michel Foucault es formulierte, eine Grenze, die nicht überschritten wird, ist nicht existent. Sie wird erst durch die Erfahrung des Anderen "real" und wahrnehmbar. Dieses Andere ist dabei nicht immer das unberechenbare Fremde, das Angst einflößt. Es kann auch das Exotische, das spannende Andere sein, das Anziehungskraft ausübt. Warum wäre es sonst so aufregend, im benachbarten Ausland einzukaufen? Oder warum würde die griechische Republik (Süd-)Zypern sonst um Touristen mit dem Slogan "Nikosia - letzte geteilte Hauptstadt der Welt" werben? Grenzen bieten neben dem Gefühl von Ordnung, Schutz und Sicherheit gleichzeitig auch Faszination.

Kehrt man zurück zum Begriff der Grenze als Abgrenzung politischer Territorien, so ist auch mit Blick auf die Staaten der EU deutlich, dass Nationen weder natürliche noch homogene Einheiten darstellen - und gleiches gilt für Identitäten. Versteht man Nationen als Narrationen, als "vorgestellte nationale Gemeinschaften" (Benedict Anderson), dann existieren nationale Räume und Grenzen vor allem in Ideen, Bildern und Imaginationen im Kopf - und weniger auf Landkarten.

Solche Grenzen im Kopf oder imaginäre Grenzen sind neben Identitäts-Abgrenzungen auch in den Alltagsspuren des nationalen Zugehörigkeitsgefühls zu finden. Gemeint sind damit die subtilen Botschaften des "Alltäglich-Nationalen", die jede Briefmarke, jede Tagesschau-Wetterkarte, aber auch jedes Autokennzeichen in sich trägt und deren Gebrauch Teil des unreflektierten Alltagslebens ausmacht. Auch Geldstücken wird eine Botschafterfunktion als nationales "Zeichen" der Alltagsroutine zugesprochen, und man könnte meinen, dass Europa sich durch den Euro inter- beziehungsweise entnationalisiert hätte. Doch kaum gab es den Euro als Alltagszahlungsmittel (und nicht nur als hypothetische 1.95583 Mark), konzentrierten sich die Menschen auf die Rückseiten der Münzen, auf die jeweils national gestalteten Zeich(nung)en.

Innerhalb der EU wird versucht, die Grenzen sowie die formalen Unterschiede zwischen den Mitgliedern abzubauen. Dabei können zwar einzelne Grenzen verschwimmen oder überwunden werden, nicht aber das Motiv der Grenze, stellt es doch ein zu elementares Moment der individuellen wie kollektiven Identifikation dar. Grenzenlosigkeit ist somit weder denk- noch lebbar. Wir brauchen Grenzziehungen zur Orientierung - und zwar weniger auf der Landkarte, denn im Kopf. Unterstützt wird diese These vom Eurobarometer 2002, nach dem sich circa 90 Prozent der EU-Bürger ausschließlich oder vorwiegend national definieren und identifizieren. Dem politischen Idealbild der europäischen Grenzenlosigkeit und der daraus resultierenden Strategie der Grenzüberwindung steht aus konzeptioneller Sicht die Beobachtung entgegen, dass das Phänomen der Grenzbildung generell nicht zu überkommen ist. Dies ist jedoch keineswegs problematisch, da sich, wie bereits angedeutet, Grenzen und Identitäten wechselseitig bedingen - sie sind somit notwendig für die Konstitution des Selbst. Schließlich sind Grenzen auch Berührungspunkte: Sie laden zur Überschreitung und zur Kontaktaufnahme ein.

Die Geografin Anke Strüver arbeitet an der Universität Münster.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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