Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 35-36 / 23.08.2004
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Karl Jüsten

Die Umkehr zu Gerechtigkeit und Solidarität ist gefordert

Die Kirchen als Anwälte der UN-Millenniumsziele
Absichtserklärungen der UN zur Bekämpfung von Hunger und Armut in der Welt sind so alt wie die Vereinten Nationen selbst und schon manches Mal ergebnislos verhallt. Ist das bei den UN-Millenniumszielen, auf die sich 189 Nationen im Jahr 2000 geeinigt haben, nun anders?

Die Erreichung der UN-Millenniumsziele bis zum Jahr 2015 ist sehr ehrgeizig. Sie beinhalten weltweit geteilte und politisch verbindlich erklärte Entwicklungsziele, zeitliche Bindung und messbare, klar und verständlich formulierte sowie realistisch gesetzte und erreichbare Ziele. Die Kirchen haben diesen Schritt international wie national schon lange gefordert und die damit verbundenen Herausforderungen aufgegriffen.

Auch wenn schon manches erreicht scheint, noch ist Skepsis geboten. Denn die Kluft zwischen der Anzahl und dem Umfang der Ankündigungen politischer Vorhaben zugunsten von Entwicklung, Menschenrechten und Frieden einerseits und der tatsächlichen Ausgabenpolitik andererseits wächst. Wie einem geheimen Zwang folgend werden von der nationalen wie der internationalen Politik doch immer wieder andere Prioritäten verfolgt.

Dieses Verhalten stellt ein gewaltiges Glaubwürdigkeitsdefizit dar, das uns insbesondere die ärmsten Ländern mit einem gewissen Recht vorwerfen können. Von der Erreichung des "0,7-Prozent-Ziels" ist die Bundesrepublik Deutschland weit entfernt. Obwohl die Umsetzung der Millenniumserklärung geschätzt zusätzlich 50 Millionen US-Dollar erfordert, ist die öffentliche Entwicklungshilfe weltweit nicht weiter angestiegen. Gelder für die internationale Zusammenarbeit werden stattdessen ungeniert für andere Zwecke verwandt wie für Sicherheitsdienstleistungen oder den Klimaschutz. Man kann sich oft nicht des Eindrucks erwehren, dass die Entwicklungshilfe weiterhin als Kür für gute Zeiten und fette Jahre gilt. Sollte es nicht gelingen, diesen Trend umzukehren, so droht auch den UN-Millenniumszielen ein politisches und moralisches Fiasko.

Moralischer Offenbarungseid

Glaubt man der aktuellen politischen Agenda der internationalen Konferenzen, scheint die westliche Welt trotz dieses moralischen Offenbarungseids mehr und mehr zu begreifen, dass die Probleme, die sie selber hat, mit dem Hunger und der Armut in der Welt sehr viel zu tun haben. Es hat sich bei den reichen Ländern herumgesprochen, dass die Bekämpfung des Elends in der einen Welt im eigenen Interesse liegt.

Entwicklungspolitik ist nicht mehr nur etwas für Idealisten und Kirchenleute, sondern sollte längst ein Schwerpunkt der Außenpolitik und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sein. Folgt man den Worten unseres neuen Bundespräsidenten Köhler bei seiner Antrittsrede, muss sie Priorität deutscher Politik werden. Nach der Auffassung der Fachleute ist ein eigenständiges Entwicklungshilfeministerium mit einem angemessenen Haushalt ein wesentlicher Garant hierfür.

Wir brauchen darüber hinaus in Deutschland mehr Akteure mit Gewicht, die vorrangig dem Politikziel der Bekämpfung des Hungers und Armutshalbierung dienen wollen, die dieses nicht nur wegen des ökonomischen und sicherheitspolitischen Nutzens kurzfristig verfolgen sondern ihm aus ethischen Gründen langfristig Vorrang einräumen. Der Weltbankpräsident James Wolfensohn sagte beim letzten Weltbankforum in München: Wir brauchen Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft, Finanzwelt und Politik, die glaubwürdig Gerechtigkeit und Solidarität leben und praktizieren; er sprach sogar von einer Spiritualität gelebter Werte. Das aber ist ein Potential, das insbesondere die Kirchen einbringen können: Verkündete und gelebte Werte von Solidarität und Gerechtigkeit.

Die Würde des Menschen

Der kirchliche Ansatz für eine gelingende Entwicklungspolitik folgt nicht einem modischen Trend oder einer politischen Aktualität, sondern basiert auf dem christlichen Menschenbild. Als Ebenbild Gottes ist der Mensch mit gleicher Würde ausgestattet und hat die gleichen Rechte. Jeder Mensch ist nach seinen Möglichkeiten gehalten, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen und zu schützen, damit alle in Recht und Würde leben können.

Jeder soll an den Errungenschaften des menschlichen Geistes und den Schätzen des Lebens und der Erde teilhaben können. Solche Rahmenbedingungen sind die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben. "Entwicklung ist der neue Name für Frieden" so sagte schon Papst Paul VI. 1967. Die Förderung von Entwicklung ist der Schlüssel zu einer gerechten und friedlichen Welt. Die Solidarität mit den Marginalisierten, der Schutz der Schwachen, die Option für die Armen sind ihre tragenden Handlungsmaximen.

Die Kirchen können auf einen reichen Schatz an Erfahrung mit den Partnern im Süden, mit Ausgegrenzten und Benachteiligten verweisen. Sie wissen, auf welche Weise konkrete Hilfe zur Überwindung von Armut und politischer Einsatz zugunsten gerechter Verhältnisse wirken können. So hat sich zum Beispiel in der Entschuldungskampagne das gemeinsame Vorgehen der Kirchen im Süden und im Norden zugunsten einer nachhaltigen und konsequenten Entschuldung voll bewährt. Im Bemühen um mehr Gerechtigkeit im Welthandel klagen die Kirchen ein, dass die Länder des Südens auf gleicher Augenhöhe mit den Reichen verhandeln.

Strategische Allianzen

Die Ministerpräsidentenkonferenz der WTO in Cancún im vergangenen Jahr ist letztlich an deren Weigerung dazu gescheitert. Als ältester "Global Player" bemühen sich die Kirchen darum, der Globalisierung des Elends eine Globalisierung der Solidarität entgegenzusetzen. In der Analyse wie der Aktion suchen sie strategische Allianzen mit der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, mit den Medien und mit Nichtregierungsorganisationen, mit denen sie gleiche Ziele verbinden. Die Kirchen in Deutschland greifen nicht zuletzt mit ihren großen und kleinen Hilfswerken die Initiative der UN auf und konzentrieren ihre Projektarbeit in Abstimmung mit ihren Partnern im Süden und in Osteuropa auf die vorrangigen Ziele der Armutsbekämpfung.

Die Öffentlichkeitsarbeit und die Bildungsarbeit tragen mit dazu bei, für die Anliegen der Armutshalbierung in Deutschland selbst Lobby zu machen, denn wenn diese Ziele von der breiten Bevölkerung unterstützt werden, können sie sich einer höheren Beachtung in der Politik sicher sein.

Angesichts des Dilemmas zwischen den edlen Zielen der UN einerseits und der noch ausstehenden Realisierung sind zwei Anliegen für die Kirchen von besonderer Dringlichkeit: Die Verbesserung der finanziellen Ausstattung, indem die UN-Vereinbarung von 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes eines jeden Staates für die Entwicklungszusammenarbeit erfüllt wird, und die Verbesserung partizipativer Elemente, die die Zielgruppen als echte Partner Ernst nehmen.

Besonderes Augenmerk legen die Kirchen auf eine kohärente Politik, die nicht nur in der Entwicklungspolitik auf die Übereinstimmung mit den Entwicklungszielen achtet. So hat die Bundesregierung mit ihrem Kabinettsbeschluss vom 5. April 2001 erklärt, ein eigenes Aktionsprogramm zur Umsetzung der Millenniumsziele durchzuführen. Sie will dieses Aktionsprogramm 2015 in die deutsche Gesellschaft hineintragen und hat sich verpflichtet, in ihrer europäischen und internationalen Politik diese Anliegen voranzubringen.

Diese Kohärenz fehlte bei der WTO-Ministerpräsidentenkonferenz in Cancún. Es war dort ein nicht abgestimmtes und zum Teil widersprüchliches Vorgehen der verschiedenen Bundesressorts bezüglich der Entwicklungsziele zu beobachten. Das federführende Bundeswirtschaftministerium gab wirtschafts- und handelspolitischen Interessen den Vorrang und trat nicht vorrangig für das UN-Millenniumsziel einer globalen Partnerschaft ein, das den entwicklungspolitischen Zielsetzungen des Aktionsprogramm 2015 der Bundesregierung folgt und vom Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zurecht vertreten wurde. Im Herbst 2005 wird von den Regierungen eine erste Zwischenbilanz über den Fortschritt auf dem Weg zur Erreichung der Millenniumsziele gezogen. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass zu oft entwicklungspolitische Notwendigkeiten hinter marktwirtschaftlichen Überlegungen, sicherheitspolitischen Sorgen und außenpolitischen Interessen zurückstecken. Die Ziele werden wohl nicht planmäßig erreicht werden. Die Regierungen werden analysieren müssen, warum die Ziele in weite Ferne gerückt sind und dann berichtigende Maßnahmen ergreifen. Die Kirchen werden wach beobachten, ob und wie engagiert die Mächtigen und Reichen dieser Welt ihre selbst auferlegte Verpflichtung zur Armutsbekämpfung erfüllen, denn sie verstehen sich als Anwälte für die Schwachen dieser Welt.

Prälat Karl Jüsten ist Leiter des Katholischen Büros Berlin und zusammen mit Prälat Stephan Reimers Vorsitzender der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklung.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.