Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 35-36 / 23.08.2004
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Thomas Röhr

AIDS - Ein Notruf aus Afrika

Vier Millionen Menschen brauchen dringend Behandlung
"Afrika stirbt!" - an AIDS. Eine krasse Warnung aus dem Südosten Afrikas. Der Text auf dem Aufklärungsplakat in Malawi geht weiter: "Schützt Euch vor HIV!" Derzeit leben zwei von drei HIV-Infizierten, die es weltweit gibt, in Afrika. 25 Millionen Afrikaner südlich der Sahara sind HIV-positiv, so die Schätzung der Vereinten Nationen.

Vier Millionen von ihnen brauchen dringend eine Behandlung. Nur jeder 40. bekommt sie jedoch", sagt Kattrin Lempp (34). Die Sprecherin der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" wird nicht müde, auf die katastrophale Situation hinzuweisen - den medizinischen Notruf für Afrika zu starten: "Die Uhr tickt. Präventionsangebote kommen für die Infizierten zu spät. Jetzt brauchen die Menschen unsere Hilfe - ganz akut."

Hilfe - das bedeutet Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten. Die Patienten bekommen eine Dreifachtherapie, den so genannten "AIDS-Cocktail". Dieser wird längst als Kombinationspräparat generisch hergestellt - mit Nachahmerprodukten, die die gleichen Wirkstoffe wie die weitaus teureren Markenarzneimittel haben. Zwei Tabletten pro Tag reichen für die Standardbehandlung. Kosten pro Monat: rund 20 Euro pro Patient. Rund 70 Cent am Tag - das ist der Preis für den Kampf gegen AIDS und HIV - das Virus, das die unheilbare Immunschwächekrankheit auslöst. Die Kombinationspräparate helfen den allermeisten HIV-Infizierten. Menschen, bei denen sich Resistenzen eingestellt haben, benötigen jedoch Reservemedikamente. "Diese kosten rund fünfzehn Mal so viel wie die Standardtherapie", sagt Kattrin Lempp.

Insgesamt werden die Kosten für die Behandlung von HIV und AIDS steigen. Grund hierfür ist die Durchsetzung von Pharma-Patenten in armen Ländern. Genau dafür hatte die französische Regierung die US-Politik auf der 15. Internationalen AIDS-Konferenz in diesem Sommer in Bangkok angegriffen. Extrem stark werde das weltweite Angebot preisgünstiger Medikamente künftig mehr und mehr durch das TRIPS-Abkommen eingeschränkt, so der Vorwurf von "Ärzte ohne Grenzen". Dies bewirke, dass der Patentschutz für Pharmaka künftig auch in Ländern wie Indien greifen werde.

Steigende Medikamentenpreise

Indien ist das Land, in dem derzeit ein Großteil der weltweit produzierten Nachahmer-Medikamente gegen HIV und AIDS hergestellt wird - noch jedenfalls. Ärmere Staaten ohne eigene Pharma-Industrie - wie Malawi - sind auf diese Zulieferung dringend angewiesen. Steigende Medikamentenpreise werden für sie nach Einschätzung von "Ärzte ohne Grenzen" die medizinische Versorgung im Bereich der HIV- und AIDS-Therapie extrem erschweren. Die Hilfsorganisation wirft der amerikanischen Regierung vor, über ihr Anti-AIDS-Programm bislang ausschließlich patentierte AIDS-Medikamente aus US-Produktion und nicht die wesentlich billigeren Nachahmerprodukte zu finanzieren. Washington betreibe "ganz klar eine Subventionspolitik für die US-Pharma-Industrie", so Kattrin Lempp.

"Die Chance, kostengünstige Medikamente zu bekommen, ist das A und O. Generika für alle HIV-positiven Menschen - nur so kann im großen Stil behandelt werden", sagt die Sprecherin der deutschen Sektion von "Ärzte ohne Grenzen" und verweist auf den vor drei Jahren gegründeten "Globalen Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria". Dieser müsse dringend aufgestockt werden - auch von Deutschland. Insbesondere deutlich mehr öffentliche Gelder seien hierzu notwendig.

Der eindringliche Ruf nach mehr Geld deckt sich mit dem, was die jüngste Welt-AIDS-Konferenz gefordert hat. "Die Geschichte wird ein hartes Urteil über uns fällen, wenn wir AIDS nicht mit allen verfügbaren Energien und Ressourcen bekämpfen", sagte Nelson Mandela auf der Welt-AIDS-Konferenz. Für den Friedensnobelpreisträger und früheren Präsidenten Südafrikas ist "der Kampf gegen AIDS eine der größten Herausforderungen" des 21. Jahrhunderts. Er rief die reichen Länder zu höheren Spenden für den Globalen AIDS-Fonds auf.

Am Beispiel Afrikas machte der Chef des AIDS-Programms der Vereinten Nationen (UNAIDS), Peter Piot, deutlich, wie festgefahren die Situation der Entwicklungsländer ist: Demnach zahlt Afrika jedes Jahr gut 12 Milliarden Euro für seine Schulden. Das seien "mehr als vier Mal so viel wie für Bildung und Gesundheit - den Grundsteinen der Antwort auf AIDS". Piot appellierte an alle Geberstaaten, "ihren Teil beizutragen". Und in diesem Zusammenhang wurde auf der Welt-AIDS-Konferenz in Bangkok auch immer wieder Deutschland genannt.

Bislang hat die Bundesrepublik 77 Millionen Euro an den Globalen AIDS-Fonds gezahlt. Die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" forderte die Bundesregierung jetzt jedoch auf, sich deutlich stärker zu engagieren. "Wir stehen einer weltweiten Katastrophe gegenüber. Was Deutschland dagegen tut, ist viel zu wenig. Wir können und müssen mehr bieten als nur ein Feigenblatt", sagt "Ärzte ohne Grenzen"-Sprecherin Lempp. Die Hilfsorganisation fordert die Bundesregierung auf, ihren Beitrag für die beiden kommenden Jahre auf mindestens 500 Millionen Euro zu erhöhen. Ab 2007 sei eine deutsche Beteiligung von mindestens 700 Millionen Euro pro Jahr notwendig.

Der Ruf nach Geld. Damit soll das verhindert werden, was heute Alltag in Afrika ist: "Es gibt Regionen, da merkt man, dass eine ganze Generation fehlt. Ausgelöscht von AIDS..." Das gehe unter die Haut, sagt Yvonne Schönemann (36). Sie arbeitet im Projekt "AIDS-Bekämpfung in Entwicklungsländern" der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Fünf Jahre war Yvonne Schönemann vor Ort - vorwiegend in Südafrika.

Sie berichtet von Familien, die von HIV betroffen sind: "Fällt ein Familienmitglied durch eine AIDS-Erkrankung aus, bedeutet dies Einkommensverluste." Dazu komme die medizinische Versorgung. Sie reiße ein Loch in die Haushaltskasse. Häufig werde dann am Schulgeld gespart. Doch mangelnde Bildung der Kinder verschlechtere deren berufliche Chancen. Und fehlendes Wissen über HIV und AIDS erhöhe die Infektionsgefahr. - Ein Teufelskreis... Trotzdem ist er typisch für Afrika. "Immer mehr Kinder stehen alleine da: Waisenkinder sind ein großes Problem", berichtet Yvonne Schönemann.

Hinzu komme dass AIDS in einigen Regionen Afrikas immer noch ein Tabu sei: "Menschen mit HIV und AIDS tragen ein Stigma. Die Gesellschaft grenzt sie aus. Leiden, Angst und Depressionen sind die Folge. Wer infiziert ist, fliegt häufig aus dem Job", sagt Yvonne Schönemann. Für Unternehmen bedeute die AIDS-Erkrankung ihrer Mitarbeiter Arbeitsausfälle durch Krankheit. "Hinzu kommen steigende Ausgaben für die Krankenversicherung und die Neuausbildung von Ersatzkräften", hebt Yvonne Schönemann hervor.

Der Automobilhersteller DaimlerChrysler Südafrika habe deshalb gemeinsam mit der GTZ eine AIDS-Prävention am Arbeitsplatz gestartet. Dabei geht es nach Angaben der Entwicklungshilfeorganisation um vier Kernpunkte: um Aufklärungsarbeit, Präventionsmaßnahmen und um medizinische Versorgung sowie um den Aufbau von betriebsinternen Kranken- und Rentenversicherungssystemen. Im Mittelpunkt der Unternehmensstrategie standen folgende Fragen: Wie geht man mit AIDS am Arbeitsplatz um? Wie informiert man die Mitarbeiterinnen und deren Familien über AIDS? Und wie kann man eine Infektion verhindern?

Das HI-Virus hat enorme Auswirkungen auf die Produktion - gerade auch in der Landwirtschaft. "Stark betroffen ist schließlich der produktive Teil der Bevölkerung - so zwischen 15 und 40 Jahren", sagt Norbert Lünenborg (44). Der Arzt aus Münster war für "Ärzte ohne Grenzen" in Malawi: "Ich habe mitbekommen, dass Patienten zu uns gebracht wurden - gestützt von zwei Begleitern. Nach sechs Monaten Behandlung hatten sie zehn Kilo zugenommen und konnten wieder auf dem Feld arbeiten." Mitbekommen hat Norbert Lünenborg aber auch das Sterben: "Wir haben in unserem 180-Betten-Krankenhaus jeden Tag mindestens einen Menschen an AIDS verloren..."

Regelmäßige Kontrolluntersuchungen

Mut machen dem Arzt Menschen mit HIV, die sich in der Selbsthilfegruppe "People Living with AIDS" (PLWA) engagieren. "Sie werden seit ein bis zwei Jahren behandelt und leben mit der Krankheit. Ihr Immunstatus ist stabil. Und sie führen ein nahezu alltägliches Leben - abgesehen von der täglichen Medikamenteneinnahme und den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Sie sind aktiv, stehen im Beruf, leben in der Familie und machen eine engagierte Aufklärungsarbeit", berichtet Norbert Lünenborg. Durch ihren Einsatz bei PLWA gelänge es den HIV-Positiven, weitere Infektionsfälle zu vermeiden. "Sie durchbrechen das Stigma AIDS. Und sie ermuntern die Menschen, Gesundheitsstationen aufzusuchen, sich testen zu lassen, eine Behandlung einzugehen... - anstatt einfach nur dahinzusiechen", so Lünenborg.

Besonders in Erinnerung geblieben sind dem Arzt zwei Patienten aus Malawi. Zum einen ist es die junge, HIV-positive Frau aus der Stadt Chiradzulu. "Sie zeigte nach Beginn der Standard-Therapie eine absolut heftige allergische Reaktion. Ihre Haut löste sich vom gesamten Körper. Als wir das in den Griff bekommen hatten und die Frau sich erholte, wurde sie schwanger." Die Schwangerschaft sei dann zunächst stabil verlaufen - bis zwei Wochen vor dem Geburtstermin, berichtet der Mediziner von "Ärzte ohne Grenzen". Und weiter: "Wir bemerkten plötzlich keine Kindsbewegungen mehr. Das Kind war im Mutterleib gestorben. Dann haben wir die Wehen eingeleitet. Es wurde eine Totgeburt..." Jede fünfte werdende Mutter in Malawi sei HIV-positiv, so Norbert Lünenborg.

Der zweite Fall, der den Arzt aus Münster stark berührte, war ein 14-jähriger Junge. Er hatte seine Mutter, seinen Vater und zwei Geschwister bereits durch AIDS verloren. Die Großmutter kümmerte sich nun um ihn. Der Junge bekam eine Behandlung. Dann wurde sie aus Geldmangel ausgesetzt. Nach zwei Monaten ging's weiter... "Durch die ständigen Unterbrechungen hat sich eine Resistenz gegen die Standardtherapie entwickelt. Die spezielle, sehr viel teurere Therapie mit Reservemedikamenten wurde notwendig. Der Junge hatte dennoch einen ungeheuren Lebensmut. Er war enorm begeistert, wenn er als Fußballfan einmal ins Stadion durfte. Doch dann bekam er noch eine Tuberkulose hinzu", berichtet Norbert Lünenborg. Bei dessen Abreise aus Malawi hatte der 14-jährige Junge "aber kaum noch eine Chance, die Krankheit zu packen..."

Der Autor ist freier Journalist in Berlin.


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