Am 9. Oktober haben die Afghanen zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Gelegenheit zu einer demokratischen Wahl. Unter 18 Bewerbern sollen sie über ihren zukünftigen Staatspräsidenten entscheiden. Der derzeitige Interims-Präsident Hamif Karsai wurde - ebenso wie das Regierungskabinett - im Juli 2002 von einem von der UNO einberufenen Stammesrat, afghanisch "Loya Jirga", auf zwei Jahre gewählt und gilt als aussichtsreicher Kandidat.
Ursprünglich sollten die ersten freien Wahlen für die Gesamtbevölkerung im Juli 2004 stattfinden, sie wurden aber aus Gründen anhaltender Feindseligkeiten unter den regionalen Milizführern sowie der Störangriffe von einsickernden Taliban-Fanatikern und Al-Qaida-Islamisten verschoben. Die allgemeine Wahl zum Präsidenten findet nun aber doch im Oktober statt, die Parlamentswahl soll im April 2005 durchgeführt werden.
Jahrhundertelang von einem König und Stammesfürsten regiert, dann von einem 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg und der grausamen Herrschaft der islamistischen Taliban zerstört, wird Afghanistan nach UN-Angaben am Wahltag einen Run auf die von Dänemark gespendeten 30.000 Wahlurnen erleben: Die UNO rechnete ursprünglich mit höchstens 9,5 Millionen Wahlberechtigten; 10,5 Millionen Afghanen aber haben sich laut UNO trotz Todesdrohungen der im Lande vagabundierenden Taliban-Milizen als Wähler registrieren lassen, darunter 41,3 Prozent Frauen. Für sie hat die Invasion der Amerikaner im Oktober 2001, wenige Wochen nach dem Terroranschlag von Islamisten auf die USA, die größten Vorteile gebracht. Sie brauchen nicht mehr in der Burka, dem Ganzkörperschleier, herumzulaufen, zumindest nicht offiziell. Zwar herrschen in den meisten Landesteilen nach wie vor machistische Männer, deren Ansicht nach die Frau ein Wesen zweiter Klasse ist, doch die von der Weltgemeinschaft durchgesetzte politische Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt als historischer Durchbruch nicht nur für das erzkonservativ-islamische Land am Hindukusch, sondern auch für die gesamte moslemische Welt, in der es, mit Ausnahme der Türkei, keinen demokratischen Staat gibt.
Wie wird aber in einem Land gewählt, das überhaupt keine Erfahrung in Demokratie hat und dessen Bürger in verstreut liegenden, geographisch schwer zugänglichen Berggemeinden leben?
Um Betrug zu verhindern, wird jedem Wähler nach der Stimmabgabe der linke Daumen eingefärbt. Gewählt wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer. Im Iran, wo 800.000 Afghanen Zuflucht gesucht haben, werden 1.000 Wahlurnen zur Verfügung gestellt. Und in den Flüchtlingslagern Pakistans wird mit 1,5 Millionen Afghanen gerechnet, die ihre Stimme abgeben.
Da nur eine Minderheit der Afghanen lesen und schreiben kann, wurde das Wahlprozedere während der Registrierung mittels Cartoons und Postern erklärt.
Die in Kanada gedruckten Wahlzettel sind durchgängig mit Fotos und Symbolen der Kandidaten versehen. Das Wahlkreuzchen indes muss mittels eines Kugelschreibers neben dem Kandidaten abgegeben werden; die meisten Afghanen werden also am 9. Oktober zum ersten Mal in ihrem Leben einen Stift in der Hand halten. Um der moslemischen Auffassung der Trennung von Mann und Frau in der Öffentlichkeit gerecht zu werden, sind für beide Geschlechter getrennte Wahllokale vorgesehen.
Für die Aufstellung und das Einsammeln der Wahl-urnen wird je nach örtlicher Gegebenheit alles aufgeboten, was sich bewegen kann: Jeeps, Pick-up Trucks, Flugzeuge, Hubschrauber, Esel und Pferde. Manche Urnen werden deshalb erst eine Woche nach der Wahl in den jeweiligen Sammelzentren der Provinzen eingehen und ausgezählt werden können - eine noch nicht zu überschauende Imponderabilie. Die größte Herausforderung aber besteht darin, genügend eingewiesene Wahlhelfer zu finden. Zwar gibt es ein von der UNO gemanagtes internationales Wahlhelfergremium, auf lokale afghanische Helfer kann indes schon aus sprachlichen Gründen nicht verzichtet werden. Auf diesem Gebiet gibt es laut UN-Angaben noch Defizite. Grundsätzlich sollen die Wahlurnen nur im gemeinsamen Beisein von internationalen Beobachtern und Vertretern der Kandidaten geöffnet werden, was in vielen Fällen reine Utopie sein dürfte.
Afghanistan-Kenner rechnen mit Unruhen nach der Wahl seitens der Verlierer, die das Ergebnis nicht anerkennen wollen. Aber auch jetzt im Vorfeld der Präsidentenwahl hat die Anzahl der Gewalttaten bereits zugenommen. Zwar werden die meisten Attentate, darunter ein erfolgloser Anschlag auf den amtierenden Präsidenten Karsai Anfang September, den Taliban-Splittergruppen zur Last gelegt, aber auch die rivalisierenden Kandidaten, meist Führer von hochbewaffneten Milizen, versuchen mittels roher Gewalt, die Wähler ihrer Provinzen einzuschüchtern.
Zwar wird kein hundertprozentiger Schutz vor Anschlägen im Umfeld der Wahl möglich sein, doch die insgesamt 26.000 Soldaten aus 36 Ländern sowie einheimische Soldaten und Polizisten sind in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Circa 2.000 von ihnen kommen aus Deutschland.
Allein 1.473 Soldaten der Bundeswehr sichern derzeit die Hauptstadt Kabul, 383 weitere sind in den nördlichen Provinzstädten Faisabad und Kundus eingesetzt. Seit Beginn der Vertreibung der Taliban im Spätherbst 2001 ist die Bundeswehr in aktivem Einsatz im fernen Afghanistan, dessen Kaiber-Pass einst die Briten das Fürchten lehrte. An der Jagd nach dem Erz-Terroristen Osama Bin-Laden waren direkt nach der Landung amerikanischer Einheiten in Afghanistan 100 deutsche Elitesoldaten - das so genannte Kommando Spezialkräfte (KSK) - beteiligt. Diese zu Beginn von der Bundesregierung geheimgehaltene deutsche Schützenhilfe ist es vor allem, die Berlin - trotz Verstimmung über die militärische Nichtbeteiligung am Irak-Krieg -- die nachhaltige Achtung des amerikanischen Präsidenten einbringt. Dies und die freiwillige Ausweitung des Bundeswehreinsatzes in den Norden Afghanistans hat kritische Stimmen in Washington gegenüber Berlin kleinlauter werden lassen. Immerhin trägt die Stationierung von circa 2.000 deutschen Soldaten dazu bei, dass sich die Mehrzahl der 16.000 im Lande operierenden amerikanischen Soldaten ihrer ursprünglichen Aufgabe, dem Aufspüren Bin-Ladens, widmen kann. Bei der Debatte um die Dauer der Stationierung der Bundeswehr in Afghanistan ist ein Aspekt bisher zumindest öffentlich nicht gebührend berücksichtigt worden: Je stärker sich Deutschland in Afghanistan engagiert, um so mehr wird der Erfolg beziehungsweise Misserfolg der afghanischen Demokratie eine deutsche Angelegenheit. Deutschland hat nicht nur politisch auf dem Bonner Petersberg vor drei Jahren, sondern inzwischen auch militärisch neben den Amerikanern in Afghanistan eine Führungsrolle übernommen, an der sich andere Staaten ausrichten. "Wenn wir rausgehen würden, würden die anderen auch rausgehen", warnte kürzlich Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) und setzte sich nachdrücklich für eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes ein. Neben der Stabilitätssicherung des Landes spielt auch der Aufbau von medizinischer und schulischer Versorgung eine Rolle, der teilweise vom deutschen Entwicklungshilfeministerium finanziert und organisiert wird.
Ein wesentlicher Aspekt des steigenden Engagements Deutschlands in Afghanistan ist aber die Sicherung der eigenen Heimat. Ausgehend von der Überlegung, dass bis vor drei Jahren das asiatische Land der Hauptsitz des internationalen islamistischen Terrorismus war, "darf das Projekt Afghanistan" nach den Worten von Außenminister Joschka Fischer gar nicht scheitern. Vielmehr sei es nach Meinung Fischers "Vorbild für den Irak". Insofern wird Deutschland also gegen islamistischen Terrorismus am Hindukusch verteidigt.