Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004
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Mir A. Ferdowsi

Wohin steuern die arabischen Eliten?

Über den innerarabischer Diskurs
Sieht man von der aktuellen innerirakischen Entwicklung ab, so ist es entgegen allen Befürchtungen und Voraussagen weder im Laufe des Krieges gegen den Irak noch bislang in der arabisch-islamischen Welt zu einem "Aufstand der Massen" gegen die USA und ihre Verbündeten gekommen. Gleichwohl haben aber sowohl der Krieg wie auch zuvor die Anschläge vom 11. September in der Region eine von der westlichen Öffentlichkeit wenig beachtete, aber überaus kontroverse Diskussion ausgelöst.

Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass das Deutsche Orient-Institut in Hamburg im Auftrag des Auswärtigen Amtes die wesentlichen Facetten dieser Debatten und Veränderungen im Weltbild nordafrikanischer, nah- und mittelöstlicher Intellektueller seit dem 11. September erfasst hat, um Aufschluss über die wahrscheinlichen, mittelfristigen und richtungweisenden Tendenzen der politischen und gesellschaftlichen Diskussion zu geben.

Im Mittelpunkt des Interesses standen folgende Leitfragen: Stehen wir vor dem Übergang zu einer Neuverortung, die Auswirkungen auf politisches Handeln haben wird? Zeichnet sich die Herausbildung oder Wiederbelebung einer politischen Ideologie nationalistischer oder islamistischer Art ab? Oder werden verschiedene, "gemischte" Deutungsmuster nationalistisch-islamistischer Art angeboten?

Der Band enthält qualitativ wie quantitativ sehr unterschiedlich ausgefallene 25 Beiträge. In drei Kapiteln gegliedert, werden zunächst länderspezifisch die unterschiedlichen Stoßrichtungen der Debatten in Marokko, Algerien, Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, Libanon, Syrien, Palästinensische Gebiete und schließlich im Iran dargestellt. Es folgen Träger und Themen der Diskussionen, die von säkularen und religiösen Einrichtungen und Organisationen, von "think-tanks" und Al Azhar-Universität bis hin zu Demokratisierungs-, Menschenrechts-, Frauengleichstellungs- und Globalisierungsdebatten reichen. Abschließend wird der Beitrag des arabischen Sat-TV, der Printmedien und des Internets zum Wertewandel untersucht.

Sieht man von einigen exzellenten Texten ab, so vermag der Band den Fragestellungen leider nicht gerecht zu werden. Dies gilt vor allem für die überwiegende Zahl der mehr lexikalisch-glossarartig, denn analytisch ausgefallenen Beiträge im zweiten und dritten Abschnitt, obgleich doch gerade im letzteren einige der behandelten Themen - Demokratisierung, Menschenrechte und die Gleichstellung von Frauen - inhaltlich mehr substantiellere Aussagen erfordert und auch verdient hätten. So erfährt man zwar durch den Beitrag über die Menschenrechtsdebatte viel über die Diskussionsforen, die verschiedenen Organisationen und stichwortartig die zentralen Themen, doch leider sehr wenig über die von Land zu Land unterschiedlich gesetzten Akzente der Diskussion.

Lesenswert und inhaltreich sind hingegen die Beiträge von Amr Hamzawy und Hanspeter Mattes. Hamzawy zeigt in seinem Beitrag über die Globalisierungsdebatte, wie wenig sich reformorientierte Denker inhaltlich von gemäßigten Islamisten unterscheiden, da - nicht anders als in der westlichen Globalisierungsdebatte - beide die prinzipielle Differenz zwischen den negativen Merkmalen der Globalisierung und den positiven Essenzen des Universalismus betonen. Unterschiede bestehen lediglich hinsichtlich der kulturellen Globalisierung: Den hoffnungsvollen Annahmen der säkularen Denker, mit Hilfe des neuen Phänomens die Moderne zu vollenden, stehen Befürchtungen der islamistischen Richtung ob einer erneuten westlichen kulturellen Hegemonie gegenüber.

Hanspeter Mattes gelingt es in seinem Beitrag über die Auswirkungen des 11. Septembers und des Irakkrieges, die sehr facettenreiche Debatte über Neoimperialismus differenziert nach politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen aufzuzeigen. Nicht weniger kontrovers verläuft auch eine seit 2002 andauernde Nationalismusdebatte: Während von etlichen Nationalisten das Scheitern des arabischen Nationalismus schlichtweg geleugnet wird, erkennen zwar andere die Existenz des arabischen Nationalismus an, kritisieren ihn aber als Irrweg.

Durch den Irak-Krieg, so scheint es, hat sich die Kluft zwischen der Gruppe der "neoliberalen Araber", bestehend aus Realisten, Demokraten und Liberalen, und ihrem feindlichen Gegenüber, also Nasseristen, Nationalisten, Radikalen und ihren islamischen Parteigängern vertieft. Dadurch wurde die Polarisierung erst recht zementiert. Zwar haben beide Ereignisse nicht unwesentlich zur Annäherung zwischen Nationalisten und Islamisten geführt, doch Mattes weist darauf hin, dass das neue Bündnis kaum Aussichten hat, sich zu einer nationalistisch-islamistischen Hybridideologie zu entwickeln. Denn sowohl Arabismus wie auch Islamismus stellen je für sich genommen eine gescheiterte Ideologie dar, deren Vertreter auch vereint das bestehende Vakuum nicht füllen können. Sie haben keine Entwicklungsvision anzubieten, sondern bilden lediglich ein taktisches Kampfbündnis, um Herausforderungen Dritter zu begegnen.

Eine Gesamtschau der Beiträge legt - trotz der monierten Schwächen - folgenden Schluss nahe:

Erstens, dass nicht in allen untersuchten Staaten dieselben Debatten im Mittelpunkt stehen - was angesichts der unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen Konstitutionen auch kaum verwunderlich ist.

Zweitens, dass die noch immer zahlreichen "Tabuthemen" in den meist autoritären Staaten von vornherein als Debattengegenstand ausgeschlossen sind und dass es entweder einer gezielten Enttabuisierung seitens der Staatsführung bedarf oder einer Fundamentalopposition, die bereit und in der Lage ist, diese Hemmschwelle zu durchbrechen. Das aber ist bislang in den meisten Staaten nicht in Sicht.

Drittens, dass inhaltlich in allen untersuchten Staaten die Debatte um politische Reform einschließlich der Stellung der Religion im Staat eine herausragende Rolle einnehmen. Die Befürworter einer Demokratisierung und Modernisierung nach westlichem Muster haben es wegen der US-Außenpolitik im Nahen Osten, vor allem seit dem 11. September gegenwärtig noch schwerer als zuvor, hierüber eine konstruktive Debatte einzuleiten. Nicht zuletzt der Irak-Krieg ist offensichtlich zu einem Argumentationslieferanten für die Re-Islamisierung der Debatten um kulturelle Identität, die Verteidigung der nationalen Souveränität und eigener, authentischer Konzepte geworden.

Trotz der teilweise kursorisch-impressionistischen Darstellungsweise kann das Buch dazu beitragen, die komplexe politische Wirklichkeit der Region zu verstehen. Da nicht alle Beiträge auf die der Untersuchung zugrunde liegenden Leitfragen eine befriedigende Antwort geben, darf man auf den für Ende 2005 avisierten abschließenden Band gespannt sein, der eine umfassende und bilanzierende "Stabilitäts- und Risikoanalyse Nordafrikas, Nah- und Mittelost und eine Perspektive der Entwicklung bis zum Jahre 2010" liefern soll.

Sigrid Faath (Hrsg.)

Politische und gesellschaftliche Debatten in Nordafrika, Nah- und Mittelost. Inhalte, Träger, Perspektiven.

Deutsches Orient-Institut Hamburg, Mitteilungen Band 72. Hamburg 2004; 508 S., 24,80 Euro

Mir A. Ferdowsi ist Privatdozent für Politische Wissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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