Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 41-42 / 04.10.2004
Zur Druckversion .
Siegfried Löffler

Spiegelbild der sozialpolitischen Entwicklung

Eine Bilanz zum 50. Geburtstag des Bundessozialgerichts
Mit einem Festakt im Kongresspalais der Stadt Kassel in Gegenwart von Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) und des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) beging das Bundessozialgericht (BSG) seinen 50. Geburtstag. Alt-Bundespräsident Roman Herzog würdigte in seiner Festansprache den wichtigen Beitrag des BSG für die soziale Sicherheit in Deutschland. Er sprach sich - ebenso wie Ulla Schmidt - gegen Pläne zur Abschaffung der Fachgerichtsbarkeit aus.

In knapp 70.000 Urteilen aus 50 Jahren spiegelt sich die sozialpolitische Entwicklung in Deutschland. Zehn Jahre nach Kriegsende entfiel mehr als die Hälfte aller Rechtsstreitigkeiten auf Klagen aus dem Bereich der Kriegsopferversorgung. Heute sind es weniger als fünf Prozent. In den 60er- und 70er-Jahren dominierten die Revisionen aus der Renten-, Unfall- und Krankenversicherung. 40 Berufs- und 112 ehrenamtliche Richter des BSG haben außerdem das letzte Wort, wenn es um Arbeitslosengeld, Maßnahmen zur beruflichen Fortbildung und Umschulung, Erziehungs- oder Kindergeld, Mutterschutzleistungen, Pflegeversicherung, Honorarstreitigkeiten und Zulassung von Kassenärzten geht. Von Vorteil ist, dass Versicherten und Versorgungsberechtigten in allen drei Instanzen der Sozialgerichtsbarkeit keine Gerichtskosten entstehen.

Sehr wichtig waren und bleiben die Entscheidungen des BSG zum Unfallversicherungsschutz am Arbeitsplatz und auf dem Weg hin und zurück. Er wird bei kurzen Unterbrechungen eingeschränkt und geht bei räumlich und zeitlich erheblichen Abweichungen verloren. Hier hat das BSG klare Regeln aufgestellt. Die Krankenhauspflege - ursprünglich eine "Kann"-Leistung - wurde durch starke Einschränkung des Ermessens der gesetzlichen Krankenkassen zu einem Rechtsanspruch.

In der Zeit der Hochkonjunktur hat die Gesetzgebung die Ansprüche der Bürger gegenüber den Sozialversicherungsträgern ausgeweitet. Viele glaubten, dass das so weiter gehen würde. Gegenwärtig zwingt die Kostenexplosion den Gesetzgeber, einen Teil der bisherigen Ansprüche - wie zum Beispiel beim Zahnersatz und bei bestimmten Arzneimitteln - aus dem Leistungskatalog zu streichen und den Bürgern die private Absicherung gegen diese Risiken zuzumuten. Bei Ansprüchen aus der vor zehn Jahren geschaffenen gesetzlichen Pflegeversicherung stellt das BSG hohe Anforderungen an die Eingruppierung in eine der drei Pflegestufen.

Es kann nicht Aufgabe der Gerichte sein, bei der Auslegung der Sozialgesetze primär auf die finanziellen Auswirkungen ihrer Urteile für Sozialversicherungsträger und Arbeitgeber zu achten. Das muss der Gesetz-

geber vorher bedenken. Das BSG hat jedoch öfters Hinweise gegeben, was bei künftigen Gesetzen zu beachten sei. So fand sich etwa in der Urteilsbegründung 3 RK 25/78 vom 24. April 1979 ein deutlicher Hinweis auf die Grenzen der Belastbarkeit der Solidargemeinschaft: Ein Versicherter war während einer privaten Afrikareise an einer akuten Hepatitis erkrankt und konnte dort nicht erfolgreich behandelt werden. Er ließ sich in einer Sondermaschine der Rettungsflugwacht von Niger nach Stuttgart transportieren und verlangte von seiner Krankenkasse die Erstattung der dabei entstandenen Kosten in Höhe von 30.000 Mark.

Der Mann verlor in letzter Instanz. Das BSG stellte klar, dass die Transportkosten ins Krankenhaus nicht höher sein dürften als die der ärztlichen Behandlung und der Krankenhauspflege. Heute stößt sich freilich niemand mehr an der Formulierung, die vor 25 Jahren noch in ihrer Deutlichkeit überraschte: "Den Versicherten, die eine derartige Reise unternehmen, ist es zuzumuten, sich gegen die damit verbundenen Risiken durch Abschluss einer Privatversicherung zu schützen."

Zuweilen orientierte sich der Gesetzgeber an der Rechtsprechung des BSG, so zum Beispiel bei der Anerkennung kieferorthopädischer Behandlungen als ärztliche Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen. Eine Wechselwirkung zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung gab es Mitte der 70er-Jahre im Zusammenhang mit der Frage, wann der Arbeitsmarkt verschlossen war und sich daraus Ansprüche auf Berufs- beziehungsweise Erwerbsunfähigkeitsrente ergaben.

Gesetzgeber orientiert sich am BSG

Das BSG hatte im Beschluss GS 2/75 vom 10. Dezember 1976 die Ansicht vertreten, dass dies dann der Fall sei, wenn "weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrags" einen für den Versicherten in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten könne. Die Begrenzung der Wartezeit auf ein Jahr schien dem BSG zumutbar, weil in den meisten Fällen für diese Zeit Arbeitslosengeld zu beanspruchen war. Der Gesetzgeber war damit einverstanden. Weil aber viele Betriebe die Möglichkeiten zur Frühverrentung zu einer Verlagerung der Kosten betrieblicher Personalanpassungen auf die sozialen Sicherungssysteme nutzten, geriet die Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung ins Wanken.

Dem Staat blieb nichts anderes übrig, als mit der Vorverlegung der Abschläge bei Frauen - die bereits mit 60 Jahren die Altersrente bekommen konnten - und bei Arbeitslosen gegenzusteuern. Im Urteil B 5 RJ 44/02 R vom 25. Februar dieses Jahres hat das BSG festgestellt, dass Abschläge wegen Frühverrentung zulässig sind. Bei der Abwägung der Interessen der Frührentner an der Beibehaltung der für sie günstigeren früheren Regelung und des öffentlichen Interesses an einer Veränderung gebühre letzterem der Vorrang. Das müssen sich auch die Versicherten sagen lassen, deren Renten niedriger als erwartet ausfallen, weil die früher großzügig gewährten Ausbildungs-Ausfallzeiten stark gekürzt wurden, um primär die Substanz, das heißt den durch eigene Beitragsleistungen erbrachten Rentenanspruch zu sichern. Die Rechtsprechung hat das gebilligt.

Die beachtlichste Leistung vollbrachten die Richter des BSG vor einem Jahrzehnt, als es galt, nach der Wiedervereinigung die neuen Bundesländer zu integrieren. Sie mussten sich vor allem mit vielen Klagen aus dem Bereich der Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie aus der - in der DDR nicht existierenden - Kriegsopferversorgung beschäftigen. Rechtsstreitigkeiten aus den neuen Bundesländern wurden mit Vorrang erledigt. Waren besonders in den Jahren zwischen 1994 und 1998 unverhältnismäßig viele Prozesse aus dem früheren Gebiet der DDR gekommen, ist inzwischen der Anteil der Rechtsuchenden aus den neuen Bundesländern mit 16 bis 17 Prozent identisch mit dem Anteil an der Gesamtbevölkerung Deutschlands beziehungsweise liegt er sogar darunter. Aus dieser Normalisierung kann man schließen, dass die Integration der neuen Bundesländer weitgehend gelang und das Vertrauen der Bürger in eine unabhängige Rechtsprechung wuchs. Auch das war ein Grund zum Feiern des runden Geburtstags.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.