Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 42 / 17.10.2005
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Sylvia Bräsel

Tradition und Moderne in einem geteilten Land

Korea präsentiert seine Literatur als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
In Korea kam es einer Sensation gleich, dass Ende Juli erstmals ein Treffen von Schriftstellern aus beiden Teilen Koreas in Pjöngjang sowie auf den für jeden Koreaner heiligen Bergen Baek-du und Myo-hyang im Norden stattfinden konnte. Der große Lyriker Ko Un und der bedeutende Romancier Hwang Sok-yong, die seit Jahrzehnten mit selbstlosem Einsatz den Glauben an die Einheit des Volkes und seine kulturellen Traditionen beschworen hatten, gehörten zu den Initiatoren auf südkoreanischer Seite. 60 Jahre nach dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft (1910 - 1945) und der Teilung Koreas versuchte man, mit den Mitteln der gemeinsamen Sprache und literarischen Tradition die Mauern der Ideologien etwas durchlässiger zu machen.

Seit der ehemalige südkoreanische Präsident Kim Dae-Jung mit seiner "Sonnenscheinpolitik" und seinem Besuch im Norden im Jahre 2000 eine auch mit viel Geld beförderte langsame Annäherung einleitete, hat es immer wieder Rückschläge gegeben. Doch vertrauensbildende Maßnahmen erweisen sich letztlich als zukunftsträchtiger als ausgerufene "Achsen des Bösen". In diesem internationalen Kontext, in dem die Koreafrage gesehen werden muss, hat die Eröffnung eines Lesesaals des Goethe-Instituts in Pjöngjang eine nicht zu unterschätzende Bedeutung.

In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt, dass das diesjährige Gastland Korea auf immerhin 122 Jahre offizielle Beziehungen zu Deutschland verweisen kann. Bereits am 26. November 1883 war der erste deutsch-koreanische Handels-, Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag unterzeichnet worden. Neben Diplomaten wirkten Wissenschaftler, Experten, Kaufleute, Missionare, Musiker, Lehrer, Ärzte und nicht zuletzt Reiseschriftsteller bei der Annäherung beider Länder und Kulturen mit. Für die Frühzeit der Beziehungen haben noch heute in Korea geschätzte Persönlichkeiten wie Paul Georg von Möllendorff, Karl Christian Gottsche, Carl Andreas Wolter und Norbert Weber maßgeblich zu einem positiven Deutschland-Bild beigetragen.

Zudem blieb die deutsch-koreanische Beziehungsgeschichte durch die politische Zurückhaltung und Neutralität Deutschlands auch während der japanischen Okkupation des Landes relativ unbelastet. So erfolgte zum Beispiel nie eine formale Anerkennung der japanischen Annexion Koreas von deutscher Seite. Die aus Anlass des Korea-Jahres bei iudicium in München erschienene kommentierte Neuherausgabe der Reiseschilderungen "Korea" des Journalisten Siegfried Genthe - 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung 1905 - dokumentiert diese bemerkenswert weltoffene Sicht auf Korea in einer Zeit imperialer Bestrebungen.

Im Jahre 1970 wurde zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea ein Kulturabkommen abgeschlossen, das wenig später in Kraft trat. Die rund 30.000 Menschen zählende koreanische Gemeinde in Deutschland ist ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für Annäherung und Verständigung.

Spricht man in Deutschland über Korea, so wird aber auch das noch zu Leistende beim Kulturaustausch deutlich. Zwar sind die deutsch-koreanischen Beziehungen insgesamt gut und stabil - insbesondere, was den Transfer von Technologie und Management betrifft. Während jedoch in Südkorea viele prominente deutsche Autorinnen und Autoren von Goethe, Schiller, Büchner, Günter Grass bis Christa Wolf und Martin Walser übersetzt sind, fällt der Umkehrschluss nicht so günstig aus. Eine stärkere Einbindung des ostasiatischen Landes in die deutsche Kommunikations- und Literaturwissenschaft wäre in diesem Sinne wünschenswert.

Dabei sollte eine fächerübergreifende und dialogisch orientierte Arbeit angestrebt werden. Vielleicht ist die wachsende Beachtung südkoreanischer Filmproduktionen in Presse und Fernsehen ein erster Schritt in diese Richtung. Denn es zeigt sich, dass sich eine vorrangig emotionale Sympathie für das durch Bruderkrieg und Teilung gezeichnete Korea ohne fundiertes Wissen rasch verbraucht. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich Internationalität und Weltoffenheit im Sinne von Max Weber nicht im Selbstlauf oder allein durch Beschwörung der Vergangenheit herausbilden.

Für viele junge Deutsche sind die Ereignisse des Koreakrieges und seine Folgen längst tote Geschichte(n). Vor Jahrzehnten bewegten Schlagzeilen wie Stephan Heyms Rückgabe aller US-militärischen Auszeichnungen aus Protest gegen den Koreakrieg im Jahre 1952 die Öffentlichkeit. Pablo Picasso schuf sein Gemälde "Massaker in Korea" und Peter Weiß suchte noch in den 60er-Jahren in seinem Diskurs über die Vorgeschichte des Befreiungskrieges in Vietnam einen Vergleich mit dem Koreakonflikt.

Noch sind in Deutschland koreanische Autos bekannter als koreanische Autoren. Es mangelt an Projekten und Publikationen, die über punktuelle Analysen einzelner Schwerpunkte hinausreichen. Oft bleiben übergreifende historische oder politische Zusammenhänge gerade in der breiten Presse ausgespart. Nicht selten prägen Kurzberichte über das nordkoreanische Atomprogramm oder einseitige Meldungen aus Ökonomie und Wissenschaft (Embryonenforschung) das gegenwärtige Koreabild. Für einen umfassenden Dialog zwischen den Kulturen bleibt noch manches zu tun.

Die Wahl Koreas als Schwerpunktland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt erstmals die Möglichkeit, sich umfassender über das Land, das mit seiner dynamischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung Maßstäbe setzt, auch auf schöngeistigem Gebiet zu informieren. Erfreulicherweise liegen inzwischen eine Reihe von Übersetzungen koreanischer Literatur ins Deutsche vor, die gelebten Alltag in Gegenwart und Geschichte thematisieren und dialogische Strukturen über die Auseinandersetzung mit "Menschheitsmustern" - Macht, Krieg, Frieden, Glück, Liebe, Hass - auf verschiedenste Art und Weise dem fremdkulturellen Leser zum Nachdenken anbieten.

Insbesondere den rührigen Verlagen Pendragon in Bielefeld und Peperkorn in Göttingen ist es zu danken, dass in den letzten zehn Jahren koreanische Literatur im deutschsprachigen Raum in ansprechender Form vorgestellt werden konnte.

Die "Edition Peperkorn" hat sich auf Literatur, Kultur und Sprache konzentriert. So kann der interessierte Leser hier Publikationen wie "Die Anfänge des koreanischen Buchdrucks mit Metalllettern", "Der Präventivkrieg Amerikas in Korea 1950" oder ein Lehrbuch "Koreanisch für Anfänger" finden. Darüber hinaus bietet der Verlag koreanische Lyrik, Epik und Dramatik (zum Beispiel von Lee Kang-Baek und Oh Tae-Suk) in Übertragung an. Gerade ist nach dem Band "Der Wächter der Wolke" eine weitere Lyriksammlung des großen Poeten Kim Soo-Young (1921 - 1968) "Jenseits des Rausches" erschienen.

Kim, der in einer politisch bewegten Zeit gegen das autokratische Regime unter Syngman Rhee und später gegen die Militärdiktatur von Park Chung-Hee anschrieb, wandte sich mit einem bis dahin in Korea ungewöhnlichen künstlerischen Sprachgebrauch gegen Mittelmaß und Duckmäusertum. Konfuzianistische Traditionen galten nicht mehr als unantastbar, und nicht selten wurde provokant mit Tabus gebrochen. Diese künstlerische Aufarbeitung der Zeit, die an eine intensive Beschäftigung mit westlichen Literaturen gekoppelt war, beförderte auf spezifische Weise den Prozess der koreanischen Identitätssuche.

Heute gilt Kim Soo-Young als bedeutender Lyriker des Landes, der für viele Poeten der nachfolgenden Generationen wie zum Beispiel Hwang Tong-gyu oder den bei abera erschienenen Autor Hwang Chi-Woo zum Vorbild wurde. Der Anglist und Lyriker Hwang Tong-gyu geht dabei in seinem Band "Windbestattung" (Peperkorn) ganz eigene Wege, indem er auf Tradition baut und die Moderne der Mega-Stadt Seoul - etwa die durch die rasche Industrialisierung geschlagenen Wunden - in einer künstlerischen Gratwanderung zwischen Leben und Tod zu orten sucht. Zenbuddhistische Reflexionen, die als faszinierende Momentaufnahmen oder Naturbilder einer Wanderung auf den Pfaden der 1000-jährigen Tempel und Klöster gelesen werden können, lassen über den Sinn des Lebens jenseits von Kulturgrenzen nachdenken.

Dagegen geben Romane wie "Der Platz" von Choi In-Hun (Edition Peperkorn) oder "Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden" von Lee Hochol (Pendragon) auf ganz andere Weise interessante Einblicke in Geschichte und Erinnerungskultur. Beide Bücher tragen deutlich autobiographische Züge. Die Struktur des Nachdenkens, angeregt durch die Suche nach Identität und Lebensräumen in der modernen südkoreanischen Gesellschaft, treibt die Handlungen voran; sie geben interessante Einblicke in Familienstrukturen und entsprechende Denkmuster zwischen Nord und Süd in den letzten 50 Jahren.

"Was überwunden werden muss, soll erzählt werden", könnte man als Motto für die Literatur von schreibenden Frauen in Südkorea - zum Beispiel Oh Jung-Hee - setzen. Die Edition "Moderne koreanische Autoren" bei Pendragon ist inzwischen auf rund 30 Bände angewachsen und präsentiert einen interessanten Querschnitt der Gattungen und Generationen. Neben einem Band des sensibel die Prozesse zwischen Mensch und Natur erkundenden Lyrikers Kim Kwang-Kyu ("Die Tiefe der Muschel") wurden die Romane "Jugendjahre" und "Der entstellte Held" des bekannten Autors Yi Munjol publiziert.

Besondere Verdienste hat sich der Verlag um jüngerer Autorinnen erworben. Jo Kyung Ran ("Zeit zum Toastbacken" und "Wie kommt der Elefant in mein Schlafzimmer") und Eun Heekyung ("Ein Geschenk des Vogels") sprechen offen und bewusst provokativ über Sexualität, Partnerschaft, Liebesverrat und den Wunsch nach Gemeinsamkeit in einer modernen Stadt, die wie "ein steinernes Meer" den Menschen seine selbsterschaffenen Grenzen aufzeigt. In dem gerade auf deutsch bei Pendragon erschienenen Roman von Eun Heekyung wird aus der Sicht eines zwölfjährigen Mädchens ein vielschichtiges Bild der koreanischen Gesellschaft der 60er-Jahre entworfen. Das Spiel mit Episoden zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fügt sich zu einem Gedankenmosaik fern jeder Exotik und gerinnt letztlich zu einer unerbittlichen Bestandsaufnahme menschlicher Defizite.

Der Koreakrieg, die Teilung des Landes in der Folge des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundenen Probleme für die Familien, ferner Militärdiktatur und Mechanismen der Entfremdung in einer modernen Industriegesellschaft sind die wichtigsten Themen der koreanischen Gegenwartsliteratur.

Der Süden des letzten noch geteilten Landes auf der Erde, der sich mit dem Logo "Enter Korea" selbstbewusst als Gastland in Frankfurt präsentiert, ist heute eine führende Industrienation, die sich nach den wirtschaftlichen Erfolgen nunmehr auch auf kulturellem Gebiet der Weltöffentlichkeit vorstellen möchte. Die auf deutsch vorliegenden Bücher bieten unterhaltsamen und vielschichtigen Stoff zum Nachdenken. Verwiesen sei an dieser Stelle auf den schon 1996 erschienenen Band zur zeitgenössischen Literatur und bildenden Kunst aus Korea, auf "die Horen" und die Gedichtsammlung des bedeutenden Poeten Ko Un bei Suhrkamp (Nachauflage 2005).

Bereits im Juni 2000 konnte man diesen inzwischen als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis gehandelten Autor im Fernsehen an der Seite des damaligen südkoreanischen Präsidenten in der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang erleben. Der Schriftsteller war mit einer offiziellen Delegation des Präsidenten Kim Dae-Jung - der wie Ko Un für die Demokratisierung Südkoreas und eine "Sonnenscheinpolitik" gegenüber dem Norden eintrat - zu den vielbeachteten Annäherungsgesprächen nach Nordkorea gereist. Mir blieb in Erinnerung, wie er in diesem hoffnungsvollen Augenblick für das koreanische Volk sein Glas auf einen Menschheitstraum erhob, der sein Leben geformt hatte: Friede, Annäherung und Versöhnung mit dem verfeindeten Norden der geteilten Heimat.

Kaum ein anderer Dichter des modernen Korea hat sich seine Erkenntnisse so schmerzlich und kreatürlich abgerungen wie Ko Un. Seine Werke sind bitter erstrittenen in Kunst und Alltag. Ko Un personifiziert jüngste koreanische Geschichte und Gegenwart. Sein Lebensweg liest sich wie eine in die Geschichte des Landes eingeschriebene Odyssee. Unumstritten gehört Ko Un zu den faszinierendsten Künstlerpersönlichkeiten im modernen Südkorea. Insbesondere sein Einsatz für Demokratie und Menschenrechte machten ihn über die Grenzen seiner Heimat hinaus bekannt.

Hat man das Glück, Ko Un persönlich zu begegnen, ist man fasziniert von seinem Charme und der Universalität seines Wissens, das in einen harmonischen Gedankenaustausch einfließt. Seine natürliche Weltläufigkeit erwächst aus Menschenbildung und tiefer Einsicht in die Mechanismen menschlichen Seins. Eindringlich und ohne jede Selbstdarstellung spricht er von Kunst und Politik. Nationale und internationale Fragen verschmelzen dabei nicht selten und eröffnen neue Sichtweisen auf zukünftige Aufgaben. Vielleicht macht gerade diese Fähigkeit den Autor zu einem universalen Poeten, der beim diesjährigen Poesiefestival "Weltklang" im Juni auf dem Potsdamer Platz in Berlin seine deutschen Zuhörer zu begeistern wusste.

Der Deutsche Taschenbuch Verlag präsentiert aus Anlass der diesjährigen Buchmesse gleich ein ganzes "Korea-Paket" mit den großen Romanen des bedeutenden Romanciers Hwang Sok-yong ("Die Geschichte des Herrn Han" und "Der ferne Garten"), mit der Neuauflage einer Lyrik-Anthologie und einem repräsentativen Sammelband "Koreanische Erzählungen". Der letztgenannte Band möchte bewusst Brücken zwischen Ostasien und Europa schlagen.

Die Sammlung vereint acht recht unterschiedliche zeitgenössische Autorinnen und Autoren aus Korea. Unter diesem Aspekt kann das Buch - das unter anderem Erzählungen von Lee Hochol, Hwang Sok-yong, Kim Young-ha und Han Kang umfasst - wie ein Kompendium zur jüngsten Geschichte, aber auch zu Entwicklungslinien und Tendenzen der koreanischen Literatur gelesen werden. Zwischen dem ältesten Autor Lee Hochol (geboren 1932) und der jüngsten Autorin Han Kang (geboren 1970) liegen fast 40 Jahre Altersunterschied und viele bewegende Ereignisse der Weltgeschichte. Das Spektrum der Autoren reicht somit von der "Hangul-Generation" bis zur "Generation 386".

In Südkorea bezeichnet man heute Autoren, die in den 30er- und 40er-Jahren geboren wurden und sich erst nach der Unabhängigkeit Koreas von Japan in ihrer Muttersprache Koreanisch (Hangul) ausbilden durften, als "Hangul-Generation". Denn während der Zeit der kolonialen Abhängigkeit war es den Koreanern nicht gestattet, auf Koreanisch zu schreiben oder zu publizieren. Verschiedenste Persönlichkeiten des modernen Koreas, etwa die großen Dichter Kim Soo-Young und der Diktator Park Chung-Hee, wurden in Japan erzogen und ausgebildet. In den Schulen durfte nur Japanisch gelehrt werden, das auch offiziell Amtssprache in der Kolonie Korea war. Ziel dieser Politik war die kulturelle Auslöschung Koreas.

Welche bedeutsame Rolle in diesem Kontext einer in Schriftform überlieferbaren Sprache zukommt, lässt sich am Koreanischen eindrucksvoll belegen. Durch das bereits im Jahre 1443 unter König Sejong geschaffene Hangul-Alphabet konnte die eigenständige Kultur der Koreaner über Jahrhunderte hinweg weitergegeben werden und somit überleben. Noch heute künden Legenden wie jene um den ersten Einiger der koreanischen Reiche, König Munmu, und das in Korea populäre Lied "Arirang" vom Nationalgefühl wie auch vom Trauma der kulturellen Nivellierung durch die übermächtigen Nachbarn Japan und China.

Am Beginn der Anthologie steht die Erzählung "Panmunjom", die Lee Hochol bereits 1961 schrieb. Das Datum symbolisiert die Hoch-Zeit des "Kalten Krieges" und erinnert thematisch an Bücher wie "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf und "Mutmaßungen über Jakob" von Uwe Johnson. Im Zentrum steht die Begegnung eines jungen Mannes aus dem Süden mit einer jungen Frau aus dem Norden. Doch ein Happy End beziehungsweise eine Liebesgeschichte sind undenkbar. Die Dialoge zeigen nur das Labyrinth von Kommunikationsbarrieren, grotesken Missverständnissen und extremen Ängsten, die auch mit einem Gespräch über Shakespeare oder Dostojewski nicht mehr auszugleichen sind. Die Wunden und Mauern in den Köpfen erweisen sich auf beiden Seiten als ein "Panzer", der nicht abgelegt werden kann.

In den vergangenen Jahrzehnten sind verstärkt literarische Wortmeldungen hinzugetreten, die zum Teil über die bereits angesprochene jüngste Zeitgeschichte eine Auseinandersetzung mit den Jahren der Militärherrschaft und dem nationalen Trauma Kwangju suchen. Im Mai 1980 hatte sich in der Hauptstadt der Provinz Chollanam-do eine Widerstandsbewegung gegen die damalige Militärregierung unter Chun Do-Hwan organisiert, die blutig niedergeschlagen wurde. Dieses Trauma der jüngsten südkoreanischen Vergangenheit hat das Land und seine Kunst nachhaltig beeinflusst und einen schwierigen Befreiungsakt von Unterdrückung und Duckmäusertum eingeleitet.

Die "polierte Industriegesellschaft" Südkoreas wird in nicht wenigen Publikationen kritisch hinterfragt. Entfremdung, Kommunikationslosigkeit, Materialisierung oder die Zerstörung der natürlichen Umwelt werden dabei zu Warnsignalen.

Auch das besondere Verhältnis zu Japan kann nicht unerwähnt bleiben. Koloniale Unterdrückung und Beförderung in die Moderne stellen hier keinen Widerspruch dar. Zudem ist dem südkoreanischen Diktator Park Chung-Hee, der jede demokratische Regung im Innern unterdrückte, die Modernisierung Koreas in einem atemberaubenden Tempo (Deutschland brauchte knapp 100 Jahre für einen Industrialisierungsprozess, der in Südkorea nicht einmal 30 Jahre dauerte) und die Annäherung an Japan durch eine geschickte Außenpolitik gelungen. Andererseits jedoch verlor Korea genau dadurch sein ureigenes Ethos, denn das Militär dominierte die Zivilgesellschaft.

Insbesondere jüngere Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Kim Yong-ha (geboren 1968), Han Kang (1970), Kang Sok Kyong (1951) und Gong Jiyoung (1963) setzen heute auf eine kompromisslose Bestandsaufnahme der Lebensformen in der modernen Industriegesellschaft. Hier sei angemerkt, dass im Großraum der Hauptstadt Seoul inzwischen rund 13 Millionen Menschen leben. Diese rasante Industrialisierung leitete eine Zerstörung traditioneller Lebensformen ein, die in kürzester Zeit zu verkraften war.

Die jüngeren Autoren, die in die aufstrebende Industriegesellschaft Südkoreas hineingeboren und durch die politischen Unruhen der 80er-Jahre geformt wurden (darum auch "Generation 386" genannt), geben mit ihren Werken dem Leser viel Zündstoff an die Hand. Ihnen wird in ihrer Heimat übrigens eine ähnlich aktivierende Rolle wie in Europa der 68er-Generation zugeschrieben. Mit illusionslosem Blick orten sie die Defizite der polierten Wohlstandsgesellschaft, geißeln Gleichgültigkeit, Egoismus und Liebesunfähigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen.

Erzählen wird so zu einem Vorgang des Öffentlich-Machens und zu einem Gradmesser von Vergessen und Verdrängen. Das belegt auf originelle Weise die Erzählung "Klingende Weihnachtsgrüße" des 1968 geborenen Kim Young-ha aus dem Jahre 2004. Wie bereits bei Hwang Sok-yong wird ein Mordfall zum Auslöser der Handlung. Bei Kim hat jedoch der "Krieg" inzwischen die privaten Beziehungen erreicht. Misstrauen, Egoismus und Liebesunfähigkeit offenbaren sich hinter der Fassade einer im geruhsamen Wohlstand dahinlebenden Mittelschicht. Ein Mord und eine klingende Weihnachtskarte erinnern an das Verdrängen der eigenen Biographie, an Schuld aus Gedankenlosigkeit und menschliches Versagen.

In der südkoreanischen Literatur wurde mit dieser in ein globales Zeitalter mit ihren Chancen und Risiken hineingewachsenen Generation ein formaler und thematischer Umbruch eingeleitet. Die Erzählungen von Han Kang, Kim Young-Ha, Gong Jiyoung und auch KANG Sok-Kyong zeigen eine grundsätzlich veränderte Sicht auf das Ich und die Welt, die innerkoreanische Geschichte in weltliterarischer Dimension und in einer Hinwendung zu einer konfliktreichen Innerlichkeit aufzuheben scheint. Angesprochen sind globale Fragen von alltäglicher Entfremdung in einer anonymisierten Welt, erzählt wird von Liebesunfähigkeit, Anpassung, Verlust an Gemeinsamkeit zwischen Fiktion und Illusion, Bewusstem und Unbewusstem bis hin zu traumatischen Verstrickungen und durchgespielten Aggressionen.

Letztlich geht es um das Offenlegen von Problemen, Widersprüchen und heutigen Ängsten in verschiedensten Lebensbereichen. All das sollte nicht nur im Rahmen der Buchmesse zu einer "literarischen Grenzüberschreitung" ermuntern.


Die Autorin arbeitet als Dozentin für Literaturwissenschaft und Ostasiatische Geschichte an der Universität Erfurt und ist zudem als literarische Übersetzerin tätig.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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