Bundestagswahl 2005
Pressemitteilung Nr. 78/2005 vom 25. August 2005 des Bundesverfassungsgerichts
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 78/2005 vom 25. August 2005
Zum Urteil vom 25. August 2005 – 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05 –
Klage der beiden Bundestagsabgeordneten gegen Bundestagsauflösung erfolglos
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Organklage der Bundestagsabgeordneten Hoffmann und Schulz, die sich gegen die Anordnung des Bundespräsidenten vom 21. Juli 2005 über die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages und über die Festsetzung der Wahl auf den 18. September 2005 gewandt hatten, als unbegründet zurückgewiesen. Die angegriffenen Entscheidungen des Bundespräsidenten seien mit dem Grundgesetz vereinbar. Ein dem Zweck des Art. 68 GG widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen Neuwahl zu gelangen, lasse sich nicht feststellen. Der Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen.
Die Entscheidung ist im Ergebnis mit 7 : 1 Stimmen ergangen, im Hinblick auf den Maßstab der Entscheidung (vgl. Ziff. II) mit 5 : 3 Stimmen. Die Richterin Lübbe-Wolff, die die Entscheidung im Ergebnis mitträgt, sowie der Richter Jentsch, der sie nicht mitträgt, haben der Entscheidung jeweils eine abweichende Meinung angefügt.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
- Der Bundespräsident trifft die auf Art. 68 GG
gestützte Entscheidung, den Bundestag aufzulösen oder
aber dem Antrag des Bundeskanzlers nicht Folge zu leisten, als
politische Leitentscheidung in eigener Verantwortung nach
pflichtgemäßem Ermessen. Die Auflösung des
Deutschen Bundestages vor Ablauf der Wahlperiode greift in den
Abgeordnetenstatus der Antragsteller ein und ist nur
gerechtfertigt, wenn das Grundgesetz dies erlaubt.
- Die auf Auflösung des Bundestages gerichtete
Vertrauensfrage ist nur dann verfassungsgemäß, wenn sie
nicht nur den formellen Anforderungen, sondern auch dem Zweck des
Art. 68 GG entspricht.
- Das Grundgesetz erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 die
Gewährleistung einer handlungsfähigen Regierung.
Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur, dass der Kanzler mit
politischem Gestaltungswillen die Richtlinien der Politik bestimmt
und dafür die Verantwortung trägt, sondern hierfür
auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages
hinter sich weiß. Ob der Kanzler über eine
verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von
außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den
parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich
ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt,
wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine
Politik tragenden Fraktionen entwickelt.
- Die Entstehungsgeschichte des Art. 68 GG bestätigt, dass
die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage nur dann
gerechtfertigt sein soll, wenn die Handlungsfähigkeit einer
parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist.
Gemessen am Sinn des Art. 68 GG ist es nicht zweckwidrig, wenn ein
Kanzler, dem Niederlagen im Parlament erst bei künftigen
Abstimmungen drohen, bereits eine auflösungsgerichtete
Vertrauensfrage stellt. Denn die Handlungsfähigkeit geht auch
dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen
Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen
Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine
andere Politik zu verfolgen. Der Kanzler muss zwar unter der
Kontrolle und unter Mitwirkung des Bundestages handeln und sich
insofern um den alltäglichen Kompromiss bemühen.
Allerdings ist die Bundesregierung als eigenständiges
politisch gestaltendes Verfassungsorgan konzipiert, das
Verantwortung vor dem Deutschen Bundestag und vor den Bürgern
nur übernehmen kann, wenn es im Rahmen der Kompetenzordnung
über ausreichende eigenständige politische
Handlungsspielräume verfügt.
- Das Bundesverfassungsgericht prüft die zweckgerechte
Anwendung des Art. 68 GG nur in dem von der Verfassung vorgesehenen
eingeschränkten Umfang.
- Die Beurteilung des zweckgemäßen Gebrauchs
der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage kann auf praktische
Schwierigkeiten stoßen. Ob eine Regierung politisch noch
handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab,
welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus
dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Derartige
Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an
höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende
Lagebeurteilungen gebunden. Eine Erosion und der nicht offen
gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht
ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und
feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht
offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen
Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht
vollständig offenbart werden. Die Einschätzung des
Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht
mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch
das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und
nicht vollständig überprüft werden kann und ohne
Beschädigung des politischen Handlungssystems auch nicht den
üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich
ist.
- Das Grundgesetz hat die Entscheidung über die
Auflösung des Bundestages nicht einem Verfassungsorgan allein
in die Hand gegeben, sondern sie auf drei Verfassungsorgane
verteilt und diesen dabei jeweils eigene Verantwortungsbereiche
zugewiesen. Die drei Verfassungsorgane – der Bundeskanzler,
der Deutsche Bundestag und der Bundespräsident – haben
es jeweils in der Hand, die Auflösung nach ihrer freien
politischen Einschätzung zu verhindern. Dies trägt dazu
bei, die Verlässlichkeit der Annahme zu sichern, die
Bundesregierung habe ihre parlamentarische Handlungsfähigkeit
verloren. Die Verantwortungskette beginnt mit dem Bundeskanzler,
weil ohne seinen Antrag kein Weg zur Auflösung des Deutschen
Bundestages führt. Der Deutsche Bundestag entscheidet in
Kenntnis des Art. 68 GG, ob er mittels einer Verweigerung der
Vertrauensbekundung den Weg zur Auflösung eröffnet. Als
drittes Verfassungsorgan nimmt der Bundespräsident in eigener
Verantwortung eine rechtliche Beurteilung der Voraussetzungen des
Art. 68 GG vor. Wegen des dreistufigen Entscheidungsprozesses sind
die Überprüfungsmöglichkeiten des
Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Art. 68 GG weiter
zurückgenommen als in den Bereichen von Rechtsetzung und
Normvollzug. Das Grundgesetz vertraut insoweit in erster Linie auf
das in Art. 68 GG angelegte System der gegenseitigen politischen
Kontrolle und des politischen Ausgleichs zwischen den beteiligten
obersten Verfassungsorganen. Allein dort, wo verfassungsrechtliche
Maßstäbe für politisches Verhalten normiert sind,
kann das Bundesverfassungsgericht ihrer Verletzung
entgegentreten.
- Auch wenn ein drohender Verlust politischer Handlungsfähigkeit am sachnächsten vom Bundeskanzler selbst beurteilt werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht zu prüfen, ob die Grenzen seines Einschätzungsspielraums eingehalten sind. Fehlt es an Anhaltspunkten dafür, dass der Bundeskanzler für sein Regierungshandeln und seine politische Konzeption die parlamentarische Mehrheitsunterstützung verloren hat oder zu verlieren droht, kann er sich nicht erfolgreich auf seine Einschätzungsprärogative berufen. Dieser Rückgriff muss auf Tatsachen gestützt sein. Die allgemeine politische Lage sowie einzelne Umstände müssen dabei allerdings nicht zwingend zur Einschätzung des Kanzlers führen, sondern sie lediglich plausibel erscheinen lassen. Der Einschätzungsspielraum des Kanzlers wird nur dann in verfassungsrechtlich gefordertem Umfang geachtet, wenn bei der Rechtsprüfung gefragt wird, ob eine andere Einschätzung der politischen Lage auf Grund von Tatsachen eindeutig vorzuziehen ist. Tatsachen, die auch andere Einschätzungen als die des Kanzlers zu stützen vermögen, sind nur dann geeignet, die Einschätzung des Bundeskanzlers zu widerlegen, wenn sie keinen anderen Schluss zulassen als den, dass die Einschätzung des Verlusts politischer Handlungsfähigkeit im Parlament falsch ist.
- Die Beurteilung des zweckgemäßen Gebrauchs
der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage kann auf praktische
Schwierigkeiten stoßen. Ob eine Regierung politisch noch
handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab,
welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus
dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Derartige
Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an
höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende
Lagebeurteilungen gebunden. Eine Erosion und der nicht offen
gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht
ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und
feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht
offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen
Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht
vollständig offenbart werden. Die Einschätzung des
Bundeskanzlers, er sei für seine künftige Politik nicht
mehr ausreichend handlungsfähig, ist eine Wertung, die durch
das Bundesverfassungsgericht schon praktisch nicht eindeutig und
nicht vollständig überprüft werden kann und ohne
Beschädigung des politischen Handlungssystems auch nicht den
üblichen prozessualen Erkenntnismitteln zugänglich
ist.
- Das Grundgesetz erstrebt mit Art. 63, Art. 67 und Art. 68 die
Gewährleistung einer handlungsfähigen Regierung.
Handlungsfähigkeit bedeutet nicht nur, dass der Kanzler mit
politischem Gestaltungswillen die Richtlinien der Politik bestimmt
und dafür die Verantwortung trägt, sondern hierfür
auch eine Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages
hinter sich weiß. Ob der Kanzler über eine
verlässliche parlamentarische Mehrheit verfügt, kann von
außen nur teilweise beurteilt werden. Aus den
parlamentarischen und politischen Arbeitsbedingungen kann sich
ergeben, dass der Öffentlichkeit teilweise verborgen bleibt,
wie sich das Verhältnis des Bundeskanzlers zu den seine
Politik tragenden Fraktionen entwickelt.
- Die angegriffenen Entscheidungen des
Bundespräsidenten sind mit dem Grundgesetz vereinbar.
- Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur
Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen
Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der
Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den
bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag
künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene
Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung
eindeutig vorzuziehen.
- Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für
seine Einschätzung der politischen
Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen. In
der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2005 hat der
Kanzler zur Begründung seiner Vertrauensfrage unter anderem
angeführt, sein Reformprogramm der "Agenda 2010“ habe zu
Streit nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch in seiner
Partei, der SPD, geführt. Er sprach dabei von "heftigen
Debatten“, die dadurch verstärkt worden seien, dass die
SPD seit dem Beschluss der "Agenda 2010“ bei sämtlichen
Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren habe. Er
befürchte daher, dass künftig in zentralen Feldern seiner
Regierungspolitik, vor allem von der "Agenda 2010“,
abweichende Stimmen die Mehrheit gefährden würden. Er hat
auch erklärt, weshalb öffentliche
Loyalitätsbekundungen, zu denen sich nach seiner
Ankündigung, auf Neuwahlen hinwirken zu wollen, eine Reihe von
Abgeordneten veranlasst sah, an dieser Einschätzung nichts
geändert haben. Damit hat der Kanzler sowohl Tatsachen genannt
als auch eine Einordnung in einen politischen Kontext vorgenommen,
auf die er seine Bewertung und seine Schlussfolgerung stützt.
Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik
an seiner Politik der "Agenda 2010“ und den seit 2003
für die SPD ganz überwiegend verloren gegangenen
Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche
Tatsachen. Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und
Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. Dieser
hatte am 1. Juli 2005 im Parlament unwidersprochen mitgeteilt, er
habe dem Bundeskanzler "gesagt“, dass er vor der Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen Sorge gehabt habe "um die
Handlungsfähigkeit“ seiner Partei und Fraktion und damit
letztlich der Bundesregierung. Diese Ausführungen sind nicht
nur eine Bestätigung der Wertung des Bundeskanzlers, sie
enthalten auch die Wiedergabe einer zusätzlichen Tatsache.
Danach hat derjenige, der bei der Gewährleistung der stetigen
parlamentarischen Unterstützung der Regierungspolitik am
engsten mit dem Kanzler zusammenarbeitet, ihm vor der Landtagswahl
vom 22. Mai 2005 von seinen Sorgen um die Handlungsfähigkeit
der Regierung berichtet. Die Antragsteller bestreiten zwar, dass
die Sorge des Fraktionsvorsitzenden in der Sache berechtigt gewesen
sei. Der Kanzler allerdings durfte seiner Einschätzung zu
Grunde legen, dass der maßgeblich seine Politik
unterstützende SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende ihm im
Zusammenhang mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für
eine Unterstützung der Politik des Kanzlers durch die Fraktion
der SPD im Deutschen Bundestag keine Gewähr mehr geben
konnte.
- Auch die politische Gesamtlage steht der
Plausibilität der Einschätzung des Bundeskanzlers nicht
entgegen. Die Annahme fehlender politischer Handlungsfähigkeit
im Parlament fügt sich widerspruchsfrei in eine politische
Ereignislinie ein, die seit der Ankündigung der "Agenda
2010“ die Wahlperiode des 15. Deutschen Bundestages begleitet
hat. Die Kritik war zuvor so weit gegangen, dass Vertreter der
Partei-Linken den Rücktritt von Gerhard Schröder als
SPD-Parteivorsitzender verlangt hatten. Es entspricht auch
allgemeiner Erfahrung, dass mit jeder für eine
Regierungspartei verlorenen Landtagswahl sich für den
Bundeskanzler verstärkter politischer Druck aufbaut, von dem
eingeschlagenen politischen Weg abzuweichen, wenn dieser Weg als
unpopulär gilt.
- Es sind keine Tatsachen vorgetragen oder erkennbar,
die die Einschätzung des Bundeskanzlers unzweifelhaft
widerlegen.
aa) Als eindeutige Widerlegung der Einschätzung des Bundeskanzlers wird sein schon am 22. Mai 2005 und seitdem mehrfach vorgetragenes Argument angeführt, er wolle sich ein neues Mandat für seine Politik vom Wähler verschaffen. Der Begründung, das Volk über die Politik des Kanzlers entscheiden zu lassen, fehlt bereits durch ihre rhetorische Qualität und ihre Mehrdeutigkeit die Eignung, als entgegenstehende Tatsache die Einschätzung des Kanzlers eindeutig zu widerlegen.
bb) Die Einschätzung des Kanzlers wird ferner nicht dadurch unglaubwürdig oder widerlegt, dass er ergänzend auf die politischen Verhältnisse des Bundesrates abstellt. Denn damit macht er nur kenntlich, dass seine politische Bewegungsfreiheit für die von ihm für richtig gehaltene Politik gegenüber seiner Fraktion durch einen von der Opposition beeinflussten Bundesrat zusätzlich geschmälert wird. Kompromisse, die er im Vermittlungsausschuss eingehen muss, um die Zustimmung des Bundesrates zu gewinnen, und die er ohne Verletzung seines Konzepts auch noch eingehen kann, vermindern möglicherweise in der Folge die Aussichten, seine politische Linie in den Regierungsfraktionen durchzusetzen.
cc) Die Einschätzung des Bundeskanzlers, es habe ihm der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit gedroht, wird auch nicht dadurch widerlegt, dass der Fraktionsvorsitzende Müntefering bei der Aussprache zur Vertrauensfrage des Bundeskanzlers am 1. Juli 2005 davon gesprochen hat, dass der Kanzler das Vertrauen der SPD-Fraktion besitze. Diese Äußerung fiel im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Fraktion den Bundeskanzler weiter als Bundeskanzler haben wolle; sie bezog sich ersichtlich allein auf die insoweit unumstrittene Person des Kanzlers und hatte nicht den Sinn, vorausgegangene, die Einschätzung des Bundeskanzlers bestätigende Äußerungen zurückzunehmen.
dd) Als zweifelsfreie Widerlegung der Einschätzung des Kanzlers wird der Umstand angeführt, dass zwischen dem 22. Mai und dem 1. Juli 2005 die angeblich instabile Koalitionsmehrheit eine Vielzahl von zum Teil umstrittenen Gesetzen mit Mehrheit verabschiedet und dadurch ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt habe. In der Sitzung des Deutschen Bundestages am Vortag der Vertrauensfrage stand jedoch kein Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung, das als Abkehr von der politischen Konzeption des Kanzlers zu betrachten wäre und damit seiner Argumentation die Plausibilität nähme. Umgekehrt handelte es sich auch nicht um Gesetze, die von seinen innerparteilichen Kritikern als Zumutung hätten empfunden werden können. Die unter anderem beschlossene Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose ist zwar eine Korrektur an der ursprünglichen Arbeitsmarktreform. Es handelt sich aber dabei nicht um einen gravierenden Einschnitt in die Reformkonzeption und erst recht nicht um eine grundsätzliche Abkehr von der damit verbundenen politischen Zielsetzung.
ee) Die Annahme der Antragstellerin Hoffmann, die Absetzung der geplanten Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes von der Tagesordnung des Deutschen Bundestages vom 30. Juni 2005 stehe im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage, ist ebenfalls nicht eindeutig. Die Mehrdeutigkeit ergibt sich schon daraus, dass die geplanten Gesetzesänderungen keinen Bezug zu umstrittenen Grundsatzfragen der Arbeitsmarktreformpolitik aufwiesen und deshalb weder für die fraktionsinternen Kritiker der Politik des Bundeskanzlers noch wiederum für den Kanzler und seine Reformpolitik ein gravierendes politisches Zugeständnis verlangten. Insofern war die Änderung des Entsendegesetzes kein Test für die Verlässlichkeit der Koalitionsmehrheit.
- Der Bundeskanzler hat Tatsachen benannt, die für
seine Einschätzung der politischen
Kräfteverhältnisse im Deutschen Bundestag sprechen. In
der Sitzung des Deutschen Bundestages vom 1. Juli 2005 hat der
Kanzler zur Begründung seiner Vertrauensfrage unter anderem
angeführt, sein Reformprogramm der "Agenda 2010“ habe zu
Streit nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch in seiner
Partei, der SPD, geführt. Er sprach dabei von "heftigen
Debatten“, die dadurch verstärkt worden seien, dass die
SPD seit dem Beschluss der "Agenda 2010“ bei sämtlichen
Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren habe. Er
befürchte daher, dass künftig in zentralen Feldern seiner
Regierungspolitik, vor allem von der "Agenda 2010“,
abweichende Stimmen die Mehrheit gefährden würden. Er hat
auch erklärt, weshalb öffentliche
Loyalitätsbekundungen, zu denen sich nach seiner
Ankündigung, auf Neuwahlen hinwirken zu wollen, eine Reihe von
Abgeordneten veranlasst sah, an dieser Einschätzung nichts
geändert haben. Damit hat der Kanzler sowohl Tatsachen genannt
als auch eine Einordnung in einen politischen Kontext vorgenommen,
auf die er seine Bewertung und seine Schlussfolgerung stützt.
Der hergestellte politische Zusammenhang mit der anhaltenden Kritik
an seiner Politik der "Agenda 2010“ und den seit 2003
für die SPD ganz überwiegend verloren gegangenen
Landtagswahlen bezieht sich auf allgemein zugängliche
Tatsachen. Diese Sicht des Bundeskanzlers wird vom Partei- und
Fraktionsvorsitzenden der SPD ausdrücklich geteilt. Dieser
hatte am 1. Juli 2005 im Parlament unwidersprochen mitgeteilt, er
habe dem Bundeskanzler "gesagt“, dass er vor der Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen Sorge gehabt habe "um die
Handlungsfähigkeit“ seiner Partei und Fraktion und damit
letztlich der Bundesregierung. Diese Ausführungen sind nicht
nur eine Bestätigung der Wertung des Bundeskanzlers, sie
enthalten auch die Wiedergabe einer zusätzlichen Tatsache.
Danach hat derjenige, der bei der Gewährleistung der stetigen
parlamentarischen Unterstützung der Regierungspolitik am
engsten mit dem Kanzler zusammenarbeitet, ihm vor der Landtagswahl
vom 22. Mai 2005 von seinen Sorgen um die Handlungsfähigkeit
der Regierung berichtet. Die Antragsteller bestreiten zwar, dass
die Sorge des Fraktionsvorsitzenden in der Sache berechtigt gewesen
sei. Der Kanzler allerdings durfte seiner Einschätzung zu
Grunde legen, dass der maßgeblich seine Politik
unterstützende SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende ihm im
Zusammenhang mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für
eine Unterstützung der Politik des Kanzlers durch die Fraktion
der SPD im Deutschen Bundestag keine Gewähr mehr geben
konnte.
- Die Anordnungen des Bundespräsidenten lassen keine Ermessensfehler erkennen.
- Ein zweckwidriger Gebrauch der Vertrauensfrage, um zur
Auflösung des Deutschen Bundestages und zu einer vorgezogenen
Neuwahl zu gelangen, lässt sich nicht feststellen. Der
Einschätzung des Bundeskanzlers, er könne bei den
bestehenden Kräfteverhältnissen im Deutschen Bundestag
künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene
Politik mehr verfolgen, ist keine andere Einschätzung
eindeutig vorzuziehen.
Zum Sondervotum des Richters Jentsch
Nach Überzeugung des Richters Jentsch hätte den Anträgen stattgegeben werden müssen. Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen (1.). Zudem kennt das Grundgesetz kein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament (2.). Schließlich schwächt die Auffassung der Senatsmehrheit die Stellung des Deutschen Bundestages (3.).
- Für das verfassungsrechtlich allein relevante Argument,
eine stetige und verlässliche Mehrheit stehe dem Kanzler nicht
mehr zur Verfügung, weil verschiedene Abgeordnete mit
abweichendem Stimmverhalten drohten, gibt es keine sichtbar
gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte. Die gegenteilige
Auffassung der Senatsmehrheit beruht auf einem Abgehen von den
zutreffenden Maßstäben der Entscheidung vom 16. Februar
1983 (BVerfGE 62, 1), ohne dies kenntlich zu machen. Die
Bundesregierung hat in der zurückliegenden Legislaturperiode
niemals die Kanzlermehrheit verfehlt. Die eingebrachten
Gesetzentwürfe zur Umsetzung der "Agenda 2010" waren im
Bundestag erfolgreich. Auch die parteiinternen Kritiker haben
für die Regierungsvorlagen gestimmt. Selbst die noch
ausstehenden "20 Maßnahmen zur Fortsetzung der Agenda 2010"
sind in der SPD-Fraktion einhellig beschlossen worden. Dass es
für eine Fortführung dieser Reformprojekte an einer
ausreichenden parlamentarischen Unterstützung fehlt, entbehrt
daher einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Vielmehr
begründet das Geschehen im Deutschen Bundestag eine Vermutung
dafür, dass der Kanzler auf eine Unterstützung der
Parlamentsmehrheit auch in Zukunft rechnen kann. Dieser Anschein
wird durch die Begleitumstände der Vertrauensfrage weiter
gestützt. So ist die am Vortag der Vertrauensabstimmung
angesetzte Beschlussfassung über den Entwurf eines
Arbeitnehmerentsendegesetzes trotz gesicherter Mehrheit kurzfristig
abgesetzt worden, weil die Aktualisierung der Kanzlermehrheit
"schlecht aussehe". Bemerkenswert erscheint schließlich auch,
dass die Mitglieder der SPD-Fraktion zur Stimmenthaltung in der
Vertrauensfrage nur dadurch bewogen werden konnten, dass ihr
Parteivorsitzender sie ihnen als Vertrauensbekundung für den
Kanzler andiente. Fehlende Mehrheiten sehen anders aus. Sie
bedürfen keines "konstruierten Misstrauens".
- Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine
Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen
wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so käme
dies dem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht sehr nahe.
Diesen Weg kennt das Grundgesetz aber aus guten Gründen und im
Interesse der Stabilität des politischen Systems nicht. Ein
solch weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers gibt die
materiellen Voraussetzungen preis, die das Bundesverfassungsgericht
als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1
festgestellt hat (vgl. BVerfGE 62, 1 <6. Leitsatz>). Er
entzieht Bundespräsident und Verfassungsgericht jegliche
Beurteilungsgrundlage, wenn allein die Lagebeurteilung des Kanzlers
maßgeblich ist. Dem Verweis der Senatsmehrheit auf eine
vermeintlich "verdeckte Minderheitssituation" des Bundeskanzlers,
in der die politische Unterstützung der parlamentarischen
Mehrheit nur "äußerlich" geleistet werde, liegt ein
unzutreffendes Verständnis des Begriffs des parlamentarischen
Vertrauens zu Grunde. Vertrauen bedeutet im parlamentarischen
Regierungssystem die Bereitschaft des Abgeordneten, Person und
Regierungsprogramm des Bundeskanzlers parlamentarisch zu
unterstützen. Das bedeutet, bei den Abstimmungen im Deutschen
Bundestag zum Kanzler und seinen Vorhaben zu stehen. Ob der
Abgeordnete dem Kanzler auch persönlich vertraut oder die
Sache anders sieht, spielt keine Rolle. Dissens gehört zum
Wesen der innerparteilichen Demokratie und beeinträchtigt die
Handlungsfähigkeit der Regierung solange nicht, wie sie bei
den Abstimmungen über ihre zentralen Reformpläne auf eine
parlamentarische Mehrheit bauen kann. Eine weitergehende
"Unterordnung" oder "Gleichschaltung" mit den Vorstellungen des
Kanzlers ist nicht erforderlich und im ausbalancierten System des
Grundgesetzes auch nicht vorgesehen.
- Die hier vorliegende Instrumentalisierung der Vertrauensfrage schwächt die Stellung des Parlaments. Sie beinhaltet die Vorstellung, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht (mehr) geeignet sind, den Willen des Volkes abzubilden. Zur Rückkopplung der Regierungspolitik müsse daher das Volk selbst befragt werden. Mit der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie in unserer Verfassung und dem Auftrag des Abgeordneten ist dies nicht vereinbar. Die Senatsmehrheit erlaubt einem Bundeskanzler, über eine "unechte" Vertrauensfrage Neuwahlen herbeizuführen, wenn er die akklamatorische Bestätigung seiner Politik für erforderlich hält, um parteiinterne Widerstände zu überwinden. Dass es Bundeskanzler Schröder mit seinem Vorgehen um die Verschaffung gerade dieser Legitimation durch das Volk ging, hat er selbst nicht verschwiegen.
Zum Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff
Die Richterin Lübbe-Wolff stimmt der Entscheidung im Ergebnis zu, wendet sich aber gegen die zugrunde gelegte Auslegung des Art. 68 GG, mit der das Gericht eine bloße Kontrollfassade aufgebaut habe.
Die Vertrauensfrage sei, wie die Frage vor dem Traualtar, keine Wissensfrage, auf die so gut wie der Gefragte oder besser ein Anderer antworten könnte. Der Bundeskanzler, der die Vertrauensfrage stellt, frage nicht nach einem Wissen, sondern nach dem Willen des Parlaments, ihn und sein politisches Programm mit ihrem künftigen Abstimmungsverhalten zu unterstützen. Die Vertrauensfrage könne daher nur vom Parlament selbst beantwortet werden.
Die einschränkende materielle Auslegung, nach der Art. 68 GG eine Situation tatsächlich nicht mehr vorhandenen oder zweifelhaft gewordenen Vertrauens voraussetzt und das Vorliegen dieser Voraussetzung vom Bundespräsidenten und vom Bundesverfassungsgericht zu überprüfen ist, laufe dagegen darauf hinaus, dass die Antwort des Bundestages auf die Vertrauensfrage zur Überprüfung durch den Bundespräsidenten und das Bundesverfassungsgericht gestellt wird. Damit werde sie ihres adressatenabhängigen Sinns beraubt. Den Worten nach konzentriere sich zwar die Prüfung, ob verfassungsmäßig vorgegangen wurde, auf die vom Kanzler gestellte Frage. Tatsächlich werde aber mit der Prüfung, ob der Bundeskanzler eine "instabile Lage“ fehlenden Vertrauens in verfassungswidriger Weise nur vorgespielt habe, auch die Entscheidung des Parlaments hinterfragt. Die Rolle, die das Bundesverfassungsgericht mit dieser Auslegung dem Bundespräsidenten und sich selbst zuweise, sei fehlbesetzt. Die vorgesehenen Akteure könnten und dürften sie nicht ausfüllen. Dies liege in der Natur der auf eine Willensbekundung gerichteten Vertrauensfrage und in der Natur des freien Mandats der Bundestagsabgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG).
Der Unangemessenheit dieser Auslegung sei nicht dadurch zu entkommen, dass dem Bundeskanzler für die Stellung der Vertrauensfrage ein Einschätzungsspielraum zugebilligt wird. Wenn dieser Einschätzungsspielraum von der Kontrollfunktion des Bundesverfassungsgerichts etwas übriglasse, beseitige er das Problem nicht, das er lösen soll. Lasse er nichts davon übrig, dann bleibe auch von der materiellen Auslegung im Ergebnis nichts mehr übrig. Diese bilde dann nur noch den Ansatzpunkt für eine Kontrollinszenierung, in der das Bundesverfassungsgericht sich selbst eine bloß scheinbar belangvolle Rolle zugeschrieben habe.
Tatsächlich habe das Gericht den Einschätzungsspielraum so großzügig bemessen, dass das Bundesverfassungsgericht praktisch nicht mehr in die Lage kommen könne, die Einschätzung des Bundeskanzlers korrigieren zu müssen. Es verlange zwar eine Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit der Regierung durch nicht ausreichende Unterstützung des Parlaments, gestatte aber die Berufung auf eine vor Gericht nicht darstellbare "verdeckte Minderheitslage". Ein Tatbestandsmerkmal, das man mit dem Verweis auf Verborgenes und seiner Natur nach vor Gericht nicht Darstellbares belegen könne, führe nur noch eine juristische Scheinexistenz.
Mit der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht dem Art. 68 GG zuschreibt, seien daher bloße Inszenierungen fehlender Verläßlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen. Die Auslegung, nach Art. 68 GG genüge es nicht, dass der Antrag des Bundeskanzlers keine Kanzlermehrheit finde, drohe im Gegenteil solche Inszenierungen gerade hervorzurufen und erzeuge systematisch jedenfalls den Eindruck verfassungswidriger Inszenierung. Den Stabilitätsinteressen, auf die das Gericht sich für diese Auslegung berufe, sei das abträglicher als jede vorgezogene Neuwahl.
Das Recht befördere nicht gute Ordnung, sondern Simulation oder sogar die Herbeiführung gerade dessen, was vermieden werden soll, wenn es Forderungen aufstelle, gegen deren Umgehung oder scheinhafte oder herbeiinszenierte Erfüllung es nichts aufzubieten habe. Für den Eindruck des Unlauteren, den die Praxis unter solchen rechtlichen Rahmenbedingungen erwecken kann, und für das Mißtrauen gegen die Institutionen und die ordnende Kraft des Rechts, das sich daraus ergebe, seien dann die verfehlten Rechtsbedingungen selbst verantwortlich. Die angeblich vom Zweck des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG diktierte materielle Tatbestandsvoraussetzung, die Außenstehende zum Richter über die Existenz politischen Vertrauens im Parlament macht, sei eine solche verfehlte Rechtsbedingung. Nichts hindere das Gericht daran, sie aufzugeben. Keines der Argumente, die für die "materielle" Auslegung angeführt worden sind, sei zwingend. Auch die Entstehungsgeschichte bestätige diese Auslegung gerade nicht.
Urteil vom 25. August 2005 – 2 BvE 4/05 und 2 BvE 7/05 –
Karlsruhe, den 25. August 2005
Quelle:
http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2005/bvgaug05/pm_bvg_2005_08_25