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12.09.2000
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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse zur Übergabe des Kunstprojektes "Der Bevölkerung" im Innenhof Nord des Reichstagsgebäudes am 12. September 2000, 16.30 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort

"Der Künstler Hans Haacke und der Kunstbeirat haben einen langen gemeinsamen Weg bis zum heutigen Ereignis zurückgelegt. Hans Haacke hatte ja seinen ersten Entwurf für dieses Projekt bereits im August 1999 eingereicht. Mehrere Sitzungen des Kunstbeirates, eine lebhafte und kontroverse Diskussion innerhalb und außerhalb des Parlamentes und schließlich sogar eine Plenardebatte samt Abstimmung im Plenum waren erforderlich, damit dieses Projekt nunmehr, über ein Jahr nach dem ersten Entwurf, realisiert werden kann. Die knappe Mehrheitsentscheidung im Plenum und die immer noch anhaltende Kontroverse machen deutlich, daß Haackes Kunstprojekt weiterhin umstritten bleibt. Der Künstler wird eine solche Feststellung sicher positiv aufnehmen, gilt es doch geradezu als ein Qualitätsbeweis für seine Arbeit, daß sie sich dem Anlegen herkömmlicher und allzu gängiger Maßstäbe widersetzt.

Eine andere Ursache für den umstrittenen Charakter von Haackes Kunst ist sein Konzept, das nicht allein auf ästhetische Theorien gründet, sondern Bezüge zu gesellschaftlich-politischen Realitäten herstellt. So problematisiert die von ihm gewählte Widmung "Der Bevölkerung" die Bestimmung dieses Hohen Hauses, seinen Bezug zur aktuellen Wirklichkeit in unserem Land. Auf lange Zeit und immer wieder werden wir uns den Herausforderungen der Fortentwicklung einer Gesellschaft in Deutschland stellen müssen, die weiterhin von Toleranz und Offenheit bestimmt sein soll.

Ich gestehe, daß ich Haackes Konzept nicht unkritisch gegenüberstehe. Aber es ist doch gerade diese von ihm ausgelöste Kontroverse, die zu fruchtbarem Nachdenken anregt, an dessen Ende durchaus nicht die Zustimmung aller stehen muß. Eine solche Einhelligkeit des Urteils wird vom Künstler gar nicht angestrebt, da er auch sich selbst und seine Werke dem öffentlichen Diskurs mit demokratischen Tugend der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt unterwirft. Sein Werk will einen Klärungsprozeß anstoßen, einen Prozeß, der sich im Widerstreit der Meinungen weiterentwickelt und dessen Ende durchaus offen ist. Die oft vorgetragene These, dieses Werk und auch das Ritual des Erde-Heranbringens könnte bevormundend wirken, gar zur Aufgabe abweichender politischer Positionen nötigen, trifft also nicht zu. Zudem darf durchaus der Souveränität der Abgeordneten im Umgang mit abweichenden Meinungen vertraut werden.

In den zurückliegenden Diskussionen ist ein weiterer Aspekt des Werkes zu wenig beachtet worden, nämlich der optimistische, auf die Zukunft der Vernunft in unserem Lande vertrauende Zug eines solchen Partizipationsprojektes: Es soll niemals vollendet sein, soll andauern, wie der Künstler ausgeführt hat, "solange demokratisch gewählte Parlamentarier im Reichstagsgebäude zusammentreten". Auf diese demokratische Zukunft gründet der Künstler sein Werk. Nur durch die immer wieder erneuerte, kritische Teilnahme demokratisch gewählter Abgeordneter wird es lebendig gehalten werden. In dieser Hoffnung übergebe ich das Werk dem Deutschen Bundestag und lade alle Kolleginnen und Kollegen herzlich ein, sich zu beteiligen."

Quelle: http://www.bundestag.de/aktuell/presse/2000/pz_000912c
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