Blickpunkt
September 03/1998
Zum Bundestag surfenInternet-Konferenzen des ParlamentsWolfgang Schäuble oder Rudolf Scharping einfach anrufen und mit ihnen über Politik diskutieren? Bürger, die das versuchen, werden meistens im Vorzimmer landen. Die Chance, mit den Spitzenleuten der im Bundestag vertretenen Parteien direkt zu sprechen, ist angesichts überquellender Terminkalender und zahlreicher Verpflichtungen. Doch der Deutsche Bundestag hat die Lücke gefunden. Selbst die Fraktionschefs sagten zu, als das Referat Öffentlichkeitsarbeit zum Talk mit den Wählern bat ? am Computer. Online-Konferenz nennt sich die Veranstaltung, die seit zwei Jahren für Furore sorgt. Als Prominente wie Wolfgang Schäuble, Rudolf Scharping, Joschka Fischer, Hermann Otto Solms und Gregor Gysi im Juli und August online waren, liefen die Internet-Leitungen des Bundestages heiß. "Auf Wolfgang Schäuble, der den Auftakt machte, prasselten innerhalb von anderthalb Stunden 364 Fragen ein", berichtet Kerstin Sieverdingbeck, die bereits im Oktober 1996 die erste Online-Diskussion betreute. Rund 11.000 Bürger mit Internet-Zugang haben sich inzwischen bei ihr für die Online-Diskussionen registrieren lassen und werden regelmäßig zum Debattieren eingeladen. Einmal im Monat, von den Parlamentsferien abgesehen, wird die Homepage des Bundestages dann zur Speaker`s Corner. Oft sind es aktuelle Themen, die für angeregte Gespräche sorgen. Themen wie BSE, Genforschung, Zensur im Internet, innere Sicherheit und der Euro standen schon auf der elektronischen Tagesordnung.Mit Erfolg. Denn anders als beim Telefon, wo nur zwei Menschen direkt miteinander sprechen, ist jeder bei den Online-Diskussionen Zeuge der Runde. Diese Diskussionen sind wie eine virtuelle Bürgerversammlung. Jeder kann die Antworten auf alle Fragen mitlesen. Ein Vorteil, den auch die Politiker schätzen. Sie erhalten in der Regel nicht nur präzise Fragen, sondern sie fassen sich auch deutlich kürzer als bei Fernsehdiskussionen. Breites ThemenspektrumBeim letzten Forum mit den Fraktionsvorsitzenden der Bundestagsparteien und dem Chef der PDS-Gruppe, Gregor Gysi, lautete das Thema "Wählen gehen '98" und bot die Gelegenheit, zu allen Politikfeldern zu diskutieren. Abtreibung, der Euro, hohe Steuern, der Fünf-Mark-Beschluß der Grünen, die Kohl-Nachfolge, die Vergangenheit der PDS, Politikverdrossenheit, mögliche Koalitionen nach der Wahl ... Die Themen sprudeln online munter durcheinander. Und da fragen auch viele, was man sich sonst kaum zu fragen wagt, und testen gleich den Humor des Gegenüber. Wie bei Gregor Gysi, der bei den Diskussionen überaus gefragt ist. Da fragt zum Beispiel ein anonymer Chater namens "IM Berti" den PDS-Gruppenchef: "Nun mal was ganz Unpolitisches, Herr Dr. Gysi. Wer wird Ihrer Meinung nach Deutscher Meister 1999?" Gysi: "Mit Sicherheit wieder ein Aufsteiger."Aufmerksamkeit der MedienDoch in der Regel sind die Fragen politisch und werden ernsthaft beantwortet, auch wenn nur selten Geheimnisse aufgedeckt werden. Dennoch beobachten auch die Journalisten die Diskussionen aufmerksam.Auch andere Agenturen, Tageszeitungen und Magazine sind häufig live dabei. Die Aufmerksamkeit der Medien ist sicher auch ein Grund dafür, daß Politiker gerne an den Online-Diskussionen teilnehmen. Aktuelle ThemenStets achtet der Deutsche Bundestag darauf, daß es aktuelle Themen sind, über die Bürger mit den Mandatsträgern sprechen können. In Abstimmung mit den Bundestagsausschüssen werden die Themen festgelegt und kompetente Gesprächspartner gesucht. Per Email erhält dann die registrierte Internet-Gemeinde Nachricht von der nächsten Runde. Und die Zahl der Nutzer wächst stetig.Denn auch die Online-Ausgaben bekannter Medien wie Focus, Spiegel und stern machen auf die Internet-Foren des Bundestages aufmerksam, so daß auch schon einmal ganze Schulklassen vor dem Computer sitzen und ihre Politiker befragen. "Worin sehen Sie die Ursachen für die zunehmende Politikverdrossenheit", fragte zum Beispiel der Gemeinschaftskundegrundkurs des Grimmelshausen-Gymnasiums in Gelnhausen Wolfgang Schäuble. "Entscheidend ist, daß wir möglichst ehrlich über die Substanz politischer Probleme und der Lösungsansätze diskutieren. Ich bemühe mich darum, daß das auch im Wahlkampf geschieht und wir nicht nur eine Medienshow veranstalten", antwortete der Unionsfraktionschef. Nicht nur politische FragenSPD-Fraktionschef Rudolf Scharping durfte sich nicht nur mit politischen Fragen auseinandersetzen, sondern auch mit seinem Steckenpferd: dem Radfahren. "Ich fahre immer mit Helm", versicherte der SPD-Mann, der im heimischen Lahnstein so schlimm mit dem Rennrad gestürzt war. Und er drücke Jan Ullrich für die Tour de France die Daumen. Aber die Pyrenäen machten Scharping Sorgen. Wie man weiß, ganz zu recht. Und auf die Frage eines Thomas Reuther aus Celle, wie er denn die Online-Konferenz finde, meinte der SPD-Politiker: "Lieber Thomas Reuter, mir macht das Spaß, Gruß Rudolf Scharping."Kleine GeheimnisseManche Frager entlocken den Politikern aber dann doch kleine Geheimnisse oder persönliche Stimmungen. So verriet Hermann Otto Solms (FDP), daß seine Partei mindestens 7,5 Prozent bei der Bundestagswahl erreicht, daß sich der Spaß an der Politik bei Wolfgang Schäuble "manchmal in Maßen" hält, daß es für Joschka Fischer kein Problem ist, daß in Schröders Schattenkabinett kein Platz für einen grünen Außenminister freigehalten ist und daß Gregor Gysi eigentlich selber nicht weiß, wie er seine ganzen Termine unter einen Hut bekommt. |
Quelle:
http://www.bundestag.de/bp/1998/bp9803/9803083